HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 478
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 106/06, Beschluss v. 19.04.2006, HRRS 2006 Nr. 478
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 8. September 2005 mit den zugehörigen Feststellungen, mit Ausnahme derjenigen zu den äußeren Tatgeschehen, aufgehoben
a) in den Fällen II. 3 bis 6 der Urteilsgründe (Taten zum Nachteil der Nebenklägerin Anke B.),
b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe und
c) soweit die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden ist.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (Fall II. 1), wegen Freiheitsberaubung in Tateinheit mit Bedrohung in zwei Fällen (Fälle II. 2 und 6), wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung (Fall II. 3), wegen vorsätzlicher Körperverletzung (Fall 1 II. 4) sowie wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung (Fall II. 5) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Außerdem hat es als weitere Rechtsfolge der Verurteilung im Fall II. 1 der Urteilsgründe eine Maßregelanordnung nach §§ 69, 69 a StGB getroffen. Mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision wendet sich der Angeklagte gegen dieses Urteil, soweit er in den Fällen II. 3 bis 6 (Taten zum Nachteil der Nebenklägerin Anke B.) verurteilt worden ist.
Das insoweit wirksam beschränkte Rechtsmittel hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen weitgehenden Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Das Urteil kann, soweit es infolge der Rechtsmittelbeschränkung der revisionsrechtlichen Überprüfung unterliegt, nicht bestehen bleiben, weil die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten durch das Landgericht durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet.
Die Strafkammer ist dem psychiatrischen Sachverständigen gefolgt, der den Angeklagten als dissoziale Persönlichkeit mit emotional instabilen Persönlichkeitsanteilen beschrieben hat, bei dem zudem eine Polytoxikomanie vorliege.
Der langjährige, wahllose Konsum psychotroper Substanzen habe beim Angeklagten zu einer Destabilisierung seiner Persönlichkeit bei gleichzeitiger Zunahme aggressiven Verhaltens unter Drogeneinfluss geführt. Bei der Schuldfähigkeitsbeurteilung hat das Landgericht in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen nur auf das Maß der akuten Betäubungsmittelbeeinflussung des Angeklagten bei Begehung der Taten abgestellt und in den Fällen II. 5 und 6 der Urteilsgründe die Voraussetzungen erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit gemäß § 21 StGB im Sinne einer krankhaften seelischen Störung bejaht, in den Fällen II. 3 und 4 das Vorliegen dieser Voraussetzungen hingegen sicher ausgeschlossen.
Ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten durch das Zusammenwirken der vom Sachverständigen diagnostizierten Persönlichkeitsstörung und des bei allen Taten festgestellten Drogeneinflusses vollständig ausgeschlossen war, hat das Landgericht nicht erörtert. Dessen hätte es aber schon deshalb bedurft, weil insbesondere in den Fällen II. 5 und 6 der Grad der Drogenbeeinflussung des Angeklagten bereits für sich genommen schon so erheblich war, dass die Annahme von Schuldunfähigkeit jedenfalls unter Berücksichtigung der Persönlichkeitsstörung des Angeklagten nicht von vornherein ausschied.
Nach den Feststellungen hatte der Angeklagte im Fall II. 5 vor Tatbegehung nicht nur Amphetamin, Diazepam und Haschisch konsumiert, sondern, nachdem der Versuch, weitere Betäubungsmittel zu besorgen, fehlgeschlagen war, Blüten eines Engelstrompetenbaums gepflückt und konsumiert. Der Genuss dieser Pflanzen hatte bei ihm zu Wahnvorstellungen geführt. Die der Verurteilung im Fall II. 6 zu Grunde liegende Tat beging er, nachdem er einen durch den Konsum von Cannabis, Amphetamin und Ecstasy hervorgerufenen Rauschzustand über drei Tage hinweg durch die Einnahme weiterer Drogen aufrechterhalten und diese Zeit - seinen unwiderlegten Angaben gegenüber dem psychiatrischen Sachverständigen zufolge - ohne Schlaf verbracht hatte.
Das Landgericht hat weder die angesichts dieser Umstände gebotene Gesamtbetrachtung zu der Frage, ob die massive Drogenbeeinflussung im Zusammenwirken mit der Persönlichkeitsstörung des Angeklagten zu einem vollständigen Ausschluss seiner Schuldfähigkeit geführt haben konnte (vgl. BGHR StGB § 20 Ursachen, mehrere 2 und § 21 Ursachen, mehrere 13), vorgenommen, noch hat es sich in nachvollziehbarer Weise mit dem Schweregrad der Persönlichkeitsstörung auseinandergesetzt. So ist etwa die Annahme, der Angeklagte weise im kognitiven Bereich und in seinem Wesen lediglich "diskrete" Veränderungen auf, nicht mit Tatsachen belegt. Sie ist zudem nicht in Einklang zu bringen mit der Vielzahl der festgestellten autoaggressiven Verhaltensweisen des Angeklagten im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit bzw. im Vorfeld der Begehung der Taten. In Anbetracht der Besonderheiten und der Erheblichkeit dieser Auffälligkeiten genügt der bloße Hinweis des Landgerichts, beim Angeklagten zeichne sich eine "erhöhte Tendenz" zu autoaggressivem Verhalten in Konfliktsituationen bzw. zur Spannungsabfuhr ab, hier nicht aus, um Rückschlüsse darauf zu ziehen, inwieweit seine Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit auch durch die Persönlichkeitsstörung beeinflusst war. Zur Beurteilung der Schuldfähigkeit hätte es vielmehr einer umfassenden, vertieften Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Angeklagten unter besonderer Berücksichtigung der bei ihm auch außerhalb seines strafbaren Handelns zu Tage getretenen Auffälligkeiten bedurft.
2. Der Senat hebt das Urteil, soweit es angefochten ist, mit Ausnahme der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu den äußeren Tatgeschehen in vollem Umfang auf, um dem neuen Tatrichter die Möglichkeit zu geben, die Schuldfähigkeit des Angeklagten umfassend neu zu prüfen. Zwar liegt in den Fällen II. 3 und 4 eine Aufhebung der Schuldfähigkeit des Angeklagten nach den bisher getroffenen Feststellungen zur akuten Betäubungsmittelbeeinflussung im Tatzeitpunkt nicht in gleicher Weise nahe wie in den Fällen II. 5 und 6. Dennoch ist auch insoweit eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten im Hinblick auf die bislang unzureichende Erörterung des Schweregrads der Persönlichkeitsstörung nicht gänzlich auszuschließen.
Die Aufhebung des Schuldspruchs in den Fällen II. 3 bis 6 zieht die Aufhebung der Gesamtfreiheitsstrafe und des Ausspruchs über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach sich.
3. Der Senat weist darauf hin, dass auch die Erwägungen zur Strafzumessung nicht frei von rechtlichen Bedenken sind. Das Landgericht hat im Rahmen der Strafzumessung wiederholt darauf abgestellt, die fortschreitende Dissozialisierung und die bislang - trotz Kenntnis seiner Neigung zu aggressiven Handlungen unter Drogeneinfluss - nicht bzw. erfolglos therapierte Drogenabhängigkeit habe den Angeklagten in eine Lage gebracht, Straftaten mit steigender Intensität zu begehen. Dies lässt besorgen, dass die Strafkammer die Art der Lebensführung des Angeklagten rechtsfehlerhaft zu seinem Nachteil berücksichtigt hat. Diese darf ihm strafschärfend nur dann angelastet werden, soweit sie mit der Tat selbst in einem Zusammenhang steht, der Rückschlüsse auf eine höhere Tatschuld zulässt (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Vorleben 3).
Dies könnte zumindest dann zweifelhaft sein, wenn der Angeklagte auf Grund seiner Drogenabhängigkeit von einem derart starken Drang zur Aufnahme von Betäubungsmitteln beherrscht war, dass seine Fähigkeit, diesem Drang zu widerstehen, eingeschränkt war (vgl. BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 33 und 38).
HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 478
Bearbeiter: Karsten Gaede