HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 453
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, StB 14/24, Beschluss v. 07.03.2024, HRRS 2024 Nr. 453
1. Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 1. Februar 2024 wird verworfen.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Der Angeklagte wurde am 14. Februar 2020 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 15. Februar 2020 ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom selben Tag (3 BGs 91/20), sodann aufgrund des am 28. Juli 2021 verkündeten Haftbefehls des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 26. Juli 2021 (5 - 2 StE 7/20).
Gegenstand des aktuell vollstreckten Haftbefehls ist neben tateinheitlich begangenen Waffendelikten der Vorwurf, der Angeklagte habe ab dem Spätsommer 2019 bis Februar 2020 als Rädelsführer eine Vereinigung (§ 129 Abs. 2 StGB) gegründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord oder Totschlag zu begehen, und sich rädelsführerschaftlich an dieser Vereinigung beteiligt (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4, § 52 Abs. 1 StGB).
Mit Beschlüssen vom 3. September 2020 (AK 27/20), vom 15. Dezember 2020 (AK 46/20) und vom 25. März 2021 (AK 19/21 u.a.) hat der Senat im besonderen Haftprüfungsverfahren jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Der Generalbundesanwalt hat am 4. November 2020 Anklage gegen den Angeklagten und elf Mitangeklagte erhoben. Die Hauptverhandlung hat am 13. April 2021 begonnen. Am 25. August 2021 hat der Senat eine erste Haftbeschwerde des Angeklagten verworfen (StB 30/21), am 20. September 2022 eine zweite (StB 39/22). Am 30. November 2023 ist der Angeklagte wegen des im Haftbefehl angeführten Tatgeschehens zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden. Dagegen hat er Revision eingelegt.
Am 1. Februar 2024 hat der Staatsschutzsenat nach mündlicher Haftprüfung den Antrag des Angeklagten auf Aufhebung des Haftbefehls vom 26. Juli 2021 abgelehnt und die Haftfortdauer beschlossen. Am Folgetag hat der Angeklagte Haftbeschwerde erhoben. Im Wesentlichen wendet er sich darin gegen die Annahme von Fluchtgefahr und die Bejahung der Verhältnismäßigkeit. Das Oberlandesgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Die nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 306 Abs. 1 StPO) Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg.
1. Der Angeklagte ist der ihm im angefochtenen Haftbefehl angelasteten Tat weiterhin dringend verdächtig. Auf die früheren Entscheidungen des Senats, die Anklageschrift sowie auf die in der Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnisse, die das Oberlandesgericht in den früheren Nichtabhilfeentscheidungen und dem angefochtenen Haftfortdauerbeschluss dargelegt hat, wird Bezug genommen. Der dringende Verdacht wird außerdem nunmehr durch das verurteilende Erkenntnis belegt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. Januar 2004 - StB 20/03, BGHR StPO § 112 Tatverdacht 4; vom 28. Oktober 2005 - StB 15/05, NStZ 2006, 297 Rn. 1; vom 30. Mai 2018 - StB 12/18, NStZ-RR 2018, 255 mwN).
2. Die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität liegen entgegen dem Beschwerdevorbringen immer noch vor.
a) Die Würdigung sämtlicher Umstände macht es nach wie vor wahrscheinlicher, dass sich der Angeklagte dem Verfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung stellen wird (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Die Straferwartung hat sich angesichts des erstinstanzlichen Urteils auf die dort ausgesprochenen sechs Jahre Freiheitsstrafe konkretisiert. Die Untersuchungshaft dauert etwa zwei Drittel dieser noch nicht rechtskräftigen Strafe an. Eine solche Haftdauer lässt die Fluchtgefahr für sich genommen nicht entfallen (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 20. April 2022 - StB 16/22, NStZ-RR 2022, 209, 210; vom 3. Mai 2023 - StB 26/23, juris Rn. 13 mwN). Vielmehr ist auf die zu verbüßende Zeit abzustellen, die nach Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB verbleibt, und eine mögliche Aussetzung des Strafrests zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB zu bedenken (vgl. dazu BVerfG, Beschlüsse vom 29. Dezember 2005 - 2 BvR 2057/05, BVerfGK 7, 140, 161 f.; vom 4. Juni 2012 - 2 BvR 644/12, BVerfGK 19, 428, 435; zur sog. Nettostraferwartung s. ferner BGH, Beschluss vom 2. November 2016 - StB 35/16, juris Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 112 Rn. 23). Dem ist das Oberlandesgericht im angefochtenen Beschluss in der Sache zutreffend nachgekommen. Auf die dortigen Ausführungen und die Entscheidungen des Senats vom 25. August 2021 (StB 30/21, juris Rn. 15 f.) und 20. September 2022 (StB 39/22, juris Rn. 12 ff.) wird verwiesen. Danach verbleibt es voraussichtlich bei etwa weiteren zwei Jahren Vollstreckungsdauer. Diese Zeitspanne übt einen bedeutenden Fluchtanreiz aus.
Fluchthemmende Umstände stehen dem noch immer nicht entgegen. Solche können insbesondere nicht darin erblickt werden, dass der Angeklagte im Fall seiner Freilassung auswandern und sich im Ausland - er erwägt insoweit Italien, Spanien und Kolumbien - einen festen Wohnsitz nehmen will. Mit diesem in der mündlichen Haftprüfung geäußerten Vorhaben hat er vielmehr nicht nur eine fehlende Bindung an Deutschland belegt, sondern zugleich dargetan, dass er über die für ein Leben im Ausland erforderlichen finanziellen und logistischen Möglichkeiten verfügt.
b) Die zu würdigenden Umstände begründen erst recht die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung des Angeklagten vereitelt werden könnte, so dass die Fortdauer der Untersuchungshaft bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) ebenso weiterhin auf den dort geregelten Haftgrund gestützt werden kann.
c) Insgesamt kann der Zweck der Untersuchungshaft, wie bereits in den vorangegangenen Senatsbeschlüssen dargelegt, nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden. Eine - bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO mögliche - Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO analog) ist nicht erfolgversprechend.
3. Der Vollzug der Untersuchungshaft steht nach wie vor nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO; zu den insoweit nach st. Rspr. geltenden Maßstäben s. etwa BGH, Beschluss vom 20. April 2022 - StB 16/22, NStZ-RR 2022, 209, 210 mwN). Diesbezüglich wird ebenfalls auf die vorangegangenen Senatsbeschlüsse verwiesen. Dass der Angeklagte die gegen ihn verhängte Strafe für überzogen hält, ändert nichts an der dort vorgenommenen, noch immer maßgebenden Bewertung.
Der Beschleunigungsgrundsatz, dessen Verletzung mit dem vorliegenden Rechtsmittel nicht gerügt wird, ist nicht verletzt.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 453
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede