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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1171

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, AK 51/23, Beschluss v. 08.08.2023, HRRS 2023 Nr. 1171


BGH AK 51/23 - Beschluss vom 8. August 2023 (OLG Frankfurt am Main)

Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate (dringender Tatverdacht; Fluchtgefahr; Haftgrund der Schwerkriminalität; Abwägung zwischen dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen und dem Interesse des Angeklagten an der Beibehaltung des Pflichtverteidigers seines Vertrauens); mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland.

§ 112 StPO; § 121 StPO; § 129a StGB; § 129b StGB; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main übertragen.

Gründe

I.

Die Angeklagte ist am 6. Oktober 2022 aufgrund Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts vom 26. Januar 2021 (10 BJs 7/21) festgenommen worden und befindet sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft, ab dem 24. Juli 2023 aufgrund des vom Oberlandesgerichtssenat neu gefassten Haftbefehls vom 7. Juli 2023.

Gegenstand des ursprünglichen Haftbefehls ist der Vorwurf gewesen, die Angeklagte habe sich in der Zeit von Juni 2014 bis Juli 2017 in Syrien und im Irak als Mitglied an einer Vereinigung im Ausland - dem sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) - beteiligt, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord (§ 211 StGB), Totschlag (§ 212 StGB), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB) und Kriegsverbrechen (§§ 8, 9, 10, 11 oder 12 VStGB) zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB.

Unter dem 7. März 2023 hat die Generalstaatsanwaltschaft Anklage erhoben, die sie auf diesen Tatvorwurf gestützt und mit der sie der Angeklagten überdies zur Last gelegt hat, sich in zwei weiteren Fällen mitgliedschaftlich an einer terroristischen Vereinigung im Ausland beteiligt zu haben und sich durch die selben Handlungen jeweils gemeinschaftlich handelnd im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt, ohne dass dies durch die Erfordernisse des bewaffneten Konflikts geboten gewesen sei, in erheblichem Umfang völkerrechtswidrig Sachen der gegnerischen Partei, die der Gewalt der eigenen Partei unterlegen hätten, angeeignet zu haben, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129 Abs. 1 StGB, § 9 Abs. 1 VStGB, § 25 Abs. 2, §§ 52, 53 StGB.

Mit Beschluss vom 20. April 2023 (AK 18/23) hat der Senat die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus auf der Grundlage des Haftbefehls vom 26. Januar 2021 angeordnet.

Am 7. Juli 2023 hat der mit der Sache befasste Strafsenat des Oberlandesgerichts den Haftbefehl entsprechend der Anklage neu gefasst und das Hauptverfahren eröffnet.

II.

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft auch über neun Monate hinaus liegen vor.

1. Die Angeklagte ist den ihr zur Last gelegten Straftaten dringend verdächtig.

a) Wegen der Einzelheiten des dem ursprünglichen Haftbefehl vom 26. Januar 2021 zu Grunde liegenden Tatvorwurfs, der als Fall 1 Eingang in die Anklageschrift vom 7. März 2023 gefunden hat, der diesen stützenden Beweismittel sowie seiner rechtlichen Würdigung wird Bezug genommen auf den Beschluss des Senats vom 20. April 2023.

b) Auch ist die Angeklagte der Begehung der weiteren Taten, die die Generalstaatsanwaltschaft ihr zur Last legt (Fälle 2 und 3 der Anklageschrift vom 7. März 2023) und auf die der Oberlandesgerichtssenat den Haftbefehl erweitert hat, dringend verdächtig.

aa) Im Sinne eines dringenden Tatverdachts ist insoweit von folgendem Sachverhalt auszugehen:

Die Angeklagte bewohnte mit ihrer Familie mindestens von Mai 2015 bis zu einem Zeitpunkt vor März 2016 ein möbliertes Haus in Tal Afar (Irak), das der IS ihnen als Gegenleistung für die Tätigkeiten zugewiesen hatte, die ihr Ehemann nach islamischem Recht und sie für diesen verrichtet hatten (Fall 2), und ab einem Zeitpunkt vor März 2016 ein anderes möbliertes Gebäude in Tal Afar (Irak), das ihnen ein Dritter in seiner Funktion als „Emir“ des IS zugewiesen hatte (Fall 3).

In beiden Fällen hatten die rechtmäßigen Eigentümer oder Berechtigten die, im vormals ausschließlich von Christen bewohnten Viertel gelegenen, Bauwerke zurückgelassen, als sie vor den herannahenden Truppen des IS flohen oder von diesen vertrieben wurden, was die Angeklagte wusste. Jedenfalls in einem Fall hatten sich die Angeklagte und ihr Mann ihr „Traumhaus“ unter all den verlassenen Immobilien aussuchen dürfen.

bb) Der dringende Tatverdacht ergibt sich hinsichtlich dieser Taten aus den Angaben der Angeklagten gegenüber einem Journalisten, die in dessen in einer Wochenzeitung erschienenen Artikel eingeflossen sind, sowie den Angaben einer Zeugin, die mit der Angeklagten in dem in Rede stehenden Zeitraum im Irak verkehrte.

Wegen der Einzelheiten wird auf die Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 7. März 2023 verwiesen.

cc) In rechtlicher Hinsicht ergibt sich daraus, dass sich die Angeklagte in den Fällen 2 und 3 mit hoher Wahrscheinlichkeit jeweils wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland in Tateinheit mit einem Kriegsverbrechen gegen Eigentum oder sonstige Rechte gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129 Abs. 1 StGB, § 9 Abs. 1 Variante 3 VStGB, §§ 52, 53 StGB strafbar gemacht hat.

2. Die Haftgründe der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) und - bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (vgl. grundlegend BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 1965 - 1 BvR 513/65, BVerfGE 19, 342, 350 f.) - der Schwerkriminalität sind nach wie vor gegeben. Es ist wahrscheinlicher, dass sich die Angeklagte - sollte sie auf freien Fuß gelangen - dem Strafverfahren entzieht, als dass sie sich ihm stellen wird. Der Senat nimmt insofern Bezug auf seine fortgeltenden Erwägungen im Haftfortdauerbeschluss vom 20. April 2023.

Der Zweck der Untersuchungshaft kann unter den gegebenen Umständen weiterhin nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO - die bei verfassungskonformer Auslegung auch im Rahmen des § 112 Abs. 3 StPO möglich sind - erreicht werden.

3. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über neun Monate hinaus (§ 121 Abs. 1, § 122 Abs. 4 Satz 2 StPO) sind gegeben.

Insofern nimmt der Senat zunächst Bezug auf die Ausführungen im Haftfortdauerbeschluss vom 20. April 2023.

Auch danach ist das Verfahren mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden. Nachdem die der Angeklagten gemäß § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO bis zum 26. April 2023 gesetzte Erklärungsfrist abgelaufen war, ist der Oberlandesgerichtssenat unverzüglich in die Eröffnungsprüfung eingetreten, die er am 7. Juli 2023 abgeschlossen hat.

Schon zuvor hatte der Vorsitzende mit dem Pflichtverteidiger mögliche Termine für eine Hauptverhandlung erörtert; aufgrund der Belastung des Oberlandesgerichtssenats mit zwei laufenden Hauptverhandlungen und anderweitiger Verhinderungen des Verteidigers fanden sich freie, die Einhaltung der Unterbrechungsfrist des § 229 StPO ermöglichende Termine indes erst nach dem 7. September 2023. Die Angeklagte hat in diesem Zusammenhang ausdrücklich ihr Einverständnis mit einem späteren Beginn der Hauptverhandlung erklärt. Dass der Vorsitzende bei der gebotenen Abwägung zwischen der insbesondere in Haftsachen erforderlichen Verfahrensbeschleunigung und dem Interesse der Angeklagten an der Beibehaltung des Pflichtverteidigers ihres Vertrauens (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 25. August 2022 - StB 35/22, NStZ-RR 2022, 353, 354; vom 24. Oktober 2022 - StB 44/22, NStZ-RR 2022, 380, 381) dem letztgenannten Umstand Vorrang eingeräumt und als Beginn der Hauptverhandlung den 8. September 2023 bestimmt hat, ist weder zu beanstanden, noch steht dies der Fortdauer der Untersuchungshaft entgegen. Hierbei ist ergänzend in den Blick zu nehmen, dass die Angeklagte die Zeit bis zum Beginn der Hauptverhandlung auf eigenen Wunsch für Gespräche mit einer Beraterin des Vereins“ “ nutzt, einer bundesweit tätigen Deradikalisierungseinrichtung, die vor allem mit Personen arbeitet, die aus jihadistischen Kampfgebieten zurückgekehrt sind.

4. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht der Angeklagten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nach wie vor nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1171

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede