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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1169

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, AK 49/23, Beschluss v. 08.08.2023, HRRS 2023 Nr. 1169


BGH AK 49/23 - Beschluss vom 8. August 2023

Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate (dringender Tatverdacht; Fluchtgefahr; Haftgrund der Schwerkriminalität; besondere Schwierigkeit und Umfang der Ermittlungen); mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland.

§ 112 StPO; § 121 StPO; § 129a StGB; § 129b StGB

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Gründe

I.

Der Beschuldigte befindet sich seit dem 22. Dezember 2022 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts München vom 7. Dezember 2022 (OGs 242/22) ununterbrochen in Untersuchungshaft.

Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe sich als Mitglied an der ausländischen terroristischen Vereinigung „Arbeiterpartei Kurdistans“ („Partiya Karkêren Kurdistan“, PKK) beteiligt, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord, Totschlag, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a oder § 239b StGB zu begehen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1 und 2, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB. Der Beschuldigte soll von Juli 2021 bis zu seiner Festnahme als Vollkader der Organisation die PKK-Region B. und das PKK-Gebiet N. geleitet haben.

II.

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

1. Der Beschuldigte ist der ihm zur Last gelegten Tat dringend verdächtig.

a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:

aa) Die PKK wurde 1978 unter anderem von Abdullah Öcalan in der Türkei als Kaderorganisation mit dem Ziel gegründet, einen kurdischen Nationalstaat unter ihrer Führung zu schaffen. Zur Verwirklichung dieses Plans initiierte die PKK verschiedene Organisationen, die mehrfach ihre Bezeichnung wechselten. So besteht seit 2007 - unter dieser Bezeichnung - die „Koma Civakên Kurdistan“ („Vereinigte Gemeinschaften Kurdistan“, im Folgenden: KCK), die auf einen staatsähnlichen „konföderalen“ Verbund der kurdischen Siedlungsgebiete in der Türkei, in Syrien, im Iran und im Irak zielt und dabei umfangreiche staatliche Attribute beansprucht wie Parlament, Gerichtsbarkeit, Armee und Staatsbürgerschaft.

Die KCK ist, ebenso wie die PKK, auf die Person Abdullah Öcalan ausgerichtet. Daneben vollzieht sich die Willensbildung innerhalb der Organisation etwa über den „Kongra Gele Kurdistan“ (KONGRA GEL - „Volkskongress Kurdistans“) und den KCK-Exekutivrat. Die Führungskader folgen grundsätzlich dieser Willensbildung und setzen die getroffenen Entscheidungen um. Zur Überprüfung haben sie den Kadern der übergeordneten Ebene regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten.

Fester Bestandteil der Strukturen der PKK/KCK sind auch die „Hêzên Parastina Gel“ („Volksverteidigungskräfte“, fortan: HPG), die nach dem Willen der Führung handeln. Sie betrachten im Rahmen der von ihnen vorgenommenen „Selbstverteidigung“ einen Guerillakrieg als legitimes Mittel. Die HPG verübten vor allem im Südosten der Türkei mittels Sprengstoff und Waffen Anschläge gegen türkische Soldaten sowie Polizisten, wobei sie eine Vielzahl von ihnen verletzten oder töteten. Die HPG bekannten sich seit der Aufkündigung eines „Waffenstillstands“ zum 1. Juni 2004 zu über hundert Anschlägen.

Das Präsidium des Exekutivrats der KCK erklärte, nachdem Abdullah Öcalan aus der Haft heraus eine Friedensbotschaft verlesen und zu einer gewaltfreien politischen Lösung des Konflikts aufgerufen hatte, ab dem 23. März 2013 eine Feuerpause. In der Folge verübten die HPG zwar deutlich weniger Anschläge, ohne dass damit aber eine Abkehr von der Ausrichtung der Organisation auf die Begehung von Tötungsdelikten verbunden gewesen wäre; vielmehr enthielt die Erklärung bereits den Vorbehalt, dass im Fall von Angriffen von dem „Recht auf Selbstverteidigung“ Gebrauch gemacht und Vergeltung geübt werde.

Nachdem der „Friedensprozess“ im Juli 2015 endgültig zum Erliegen gekommen war, kam es in der Folge zu Gefechten mit den türkischen Streitkräften, die ihrerseits mit massiver militärischer Gewalt vorgingen. In diesen Auseinandersetzungen spielte die „Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung“ (YDGH - Yurtsever Devrimci Genclik Hareketi), die sich mit den Selbstverteidigungskräften der HPG zusammenschloss, eine bedeutsame Rolle. Parallel dazu nahmen die Anschläge der HPG wieder erheblich zu, bei denen Angehörige der türkischen Sicherheitskräfte, aber auch Zivilisten getötet oder verletzt wurden.

Der Schwerpunkt der Strukturen und das eigentliche Aktionsfeld der PKK liegen in den von Kurden bevölkerten Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran. Zahlreiche - regelmäßig nur auf die Unterstützung der politischen und militärischen Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat ausgerichtete - Aktivitäten betreibt die PKK indes auch in Deutschland und anderen Ländern Westeuropas. Dazu bediente sie sich bis Juli 2013 der „Civata Demokratîk a Kurdistan“ („Kurdische Demokratische Gesellschaft“, im Folgenden: CDK), welche die Direktiven der KCK-Führung umzusetzen hatte und namentlich dazu diente, die in Europa lebenden Kurden zu organisieren. Entsprechend den Vorgaben des 10. CDK-Kongresses vom Mai 2013 zur Neustrukturierung der PKK in Europa benannte sich der europäische Dachverband PKK-naher Vereine „Konföderation der kurdischen Vereine in Europa“ (KONKURD) im Juli 2013 in „Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Europa“ (KCDE) um. Unter der Bezeichnung KCDE werden nicht nur die Strukturen des KONKURD, sondern auch diejenigen der CDK fortgeführt.

Unterhalb der Führungsebene war und ist Europa in Organisationseinheiten verschiedener Ebenen eingeteilt. In Deutschland gab es seit 2002 die drei Sektoren („saha“) „Süd“, „Mitte“ und „Nord“; 2012 wurde der Sektor „Süd“ in die Sektoren „Süd 1“ und „Süd 2“ aufgeteilt. Im Jahr 2016 wurden in den vier Sektoren neun Regionen („eyalet“) mit insgesamt 31 Gebieten („bölge“) gebildet. Jede Organisationseinheit wird in der Regel von einem durch die Vereinigung eingesetzten und alimentierten, professionellen Führungskader geleitet. Die Organisationseinheiten stellen der PKK Finanzmittel bereit, rekrutieren Nachwuchs für den Guerillakampf und betreiben Propaganda. Dabei haben sie die Vorgaben der Europaführung umzusetzen und ihr über die Erfüllung ihrer Aufgaben regelmäßig Bericht zu erstatten.

bb) Der aus der Türkei stammende Beschuldigte ist kurdischer Volkszugehörigkeit. Als ehemaliger Co-Vorsitzender des bundesweiten Dachverbands der PKK-nahen Strukturen in Deutschland, der KONMED, ist er langjährig fest in der kurdischen Szene verwurzelt und in engem Kontakt mit PKK-Kadern. In Kenntnis der Ziele, Programmatik und Methoden der Organisation nahm er ab Anfang Juli 2021 bis zu seiner Festnahme hauptamtlich für die Vereinigung die typischen Leitungsaufgaben eines Regionsverantwortlichen für die Region B. und eines Gebietsverantwortlichen für das Gebiet N. wahr. Er stand mit anderen Mitgliedern und Unterstützern in regelmäßiger persönlicher und telefonischer Verbindung, koordinierte deren Arbeit, gab ihnen Anweisungen und schlichtete Streit. Außerdem organisierte der Beschuldigte Veranstaltungen und hielt dort Redebeiträge, nahm an vereinigungsbezogenen Demonstrationen teil, verkaufte Tickets für Propagandatreffen und organisierte gemeinsame Fahrten zu solchen. Ihm oblag schließlich die Sammlung von sogenannten Spenden. Übergeordneten Kadern erstattete er regelmäßig Bericht. Unterdessen wurde er von Unterstützern der PKK verköstigt und beherbergt, insbesondere von dem Aktivisten G. Dieser stellte dem Beschuldigten auch ein Auto zur Verfügung. Außerdem nutzte der Beschuldigte eine BahnCard 100, um seinen Aufgaben nachzukommen, die mit beinahe täglichen Reisen verbunden waren. Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf den Haftbefehl und den „Sachstandsbericht Nr. 3“ des Bayerischen Landeskriminalamts vom 31. Mai 2023 verwiesen.

b) Der dringende Tatverdacht hinsichtlich der außereuropäischen terroristischen Vereinigung PKK und ihrer Untereinheiten in Deutschland beruht auf Strukturermittlungen des Generalbundesanwalts. Diese gründen ihrerseits auf einer Vielzahl von Dokumenten und öffentlichen Verlautbarungen der Organisation, Zeugenaussagen sowie sonstigen Erkenntnissen. Sie bildeten bereits vielfach die Grundlage für Verurteilungen von Kadern der PKK durch verschiedene Oberlandesgerichte.

Die Handlungen des Beschuldigten, der sich im Rahmen einer Haftbeschwerde schriftlich zur Sache eingelassen und den Tatvorwurf bestritten hat, ergeben sich im Wesentlichen aus aufgezeichneter Telekommunikation und den bei Durchsuchungen sichergestellten Asservaten. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Haftbefehl, den auf die Haftbeschwerde ergangenen Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 7. Februar 2023 und den bereits genannten „Sachstandsbericht Nr. 3“ des Bayerischen Landeskriminalamts vom 31. Mai 2023 verwiesen.

c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar gemacht hat (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB). Ob die Beurteilung im Haftbefehl zutrifft, dass daneben die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 129a Abs. 1 Nr. 2 StGB vorliegen, ist für die Haftfrage ohne Bedeutung. Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung der jeweiligen Verantwortlichen für die hiesigen Organisationseinheiten der PKK am 6. September 2011 erteilt (§ 129b Abs. 1 Satz 3 StGB).

2. Es bestehen der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (s. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) - derjenige der Schwerkriminalität.

Der Beschuldigte hat im Fall seiner Verurteilung angesichts seiner langjährigen herausgehobenen Stellung innerhalb der Vereinigung mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen, die einen hohen Fluchtanreiz bietet.

Zwar lebt er als anerkannter Asylbewerber seit 1996 in Deutschland und hat mit seiner Ehefrau, die in H. wohnt, fünf gemeinsame Kinder. Ausweislich der Überwachung seiner Telefone pflegt er zu seiner Familie jedoch kaum Kontakt. Vielmehr wohnte er im Tatzeitraum nahezu durchgehend bei wechselnden Sympathisanten der PKK in seinem Einsatzgebiet B. Seine seltenen Besuche in H. beschränkten sich zum Teil auf wenige Stunden. Als mutmaßlicher Funktionär kann er im Fall seines Untertauchens zudem auf die Strukturen der PKK zurückgreifen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde seine Flucht von der Organisation unterstützt und für seine Alimentation gesorgt werden. Einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, die einen Anreiz zur Kooperation mit den Ermittlungsbehörden bieten könnte, geht er nicht nach.

Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass sich der Beschuldigte, sollte er in Freiheit gelangen, dem weiteren Strafverfahren entziehen wird. Dieser Gefahr kann durch andere fluchthemmende Anordnungen nicht genügend begegnet werden, weshalb der Zweck der Untersuchungshaft nicht auf der Grundlage weniger einschneidender Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO erreicht werden kann.

3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die Haftfortdauer.

Das Verfahren ist bisher mit der gebotenen Zügigkeit geführt worden. Die Auswertung der zahlreichen Schriftstücke und elektronischen Datenträger, die im Zuge von Durchsuchungen haben sichergestellt werden können, gestaltet sich besonders umfangreich, zumal in weiten Teilen Übersetzungen erforderlich sind. Hinsichtlich der Einzelheiten wird insoweit auf die Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 9. Juni 2023 Bezug genommen. Aus dieser geht auch hervor, dass das Bayerische Landeskriminalamt die Auswertungen voraussichtlich Ende Juli 2023 abgeschlossen haben wird. Soweit dort ebenfalls davon die Rede ist, dass vor der Anklageerhebung außerdem noch ein schriftvergleichendes Gutachten eingeholt werden soll, bedarf es derzeit keiner Entscheidung, ob und gegebenenfalls bis zu welchem Zeitpunkt ein Abwarten unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensbeschleunigung vertretbar ist.

4. Die Untersuchungshaft steht nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit derzeit nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1169

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede