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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1217

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, AK 35/22, Beschluss v. 18.10.2022, HRRS 2022 Nr. 1217


BGH AK 35/22 - Beschluss vom 18. Oktober 2022 (OLG Koblenz)

Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate (besondere Schwierigkeit und Umfang der Ermittlungen).

§ 112 StPO; § 121 StPO

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Koblenz übertragen.

Gründe

I.

Der Angeklagte wurde am 4. April 2022 festgenommen und befindet sich seitdem aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 23. März 2022 (3 BGs 48/22) in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe am 19. September 1991 in S. durch dieselbe Handlung aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch und mit einem gemeingefährlichen Mittel einen Menschen getötet, versucht, weitere 18 Menschen aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch und mit einem gemeingefährlichen Mittel zu töten, sowie ein Gebäude, das der Wohnung von Menschen dient, in Brand gesetzt und dadurch wenigstens leichtfertig den Tod eines Menschen verursacht.

Nachdem der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs den Haftbefehl mit Beschluss vom 17. Juni 2022 außer Vollzug gesetzt hatte, hat der Senat auf die dagegen gerichtete Beschwerde des Generalbundesanwalts durch Beschluss vom 13. Juli 2022 (StB 28/22) den angefochtenen Beschluss insoweit aufgehoben und damit den Haftbefehl in Vollzug gelassen.

Der Generalbundesanwalt hat unter dem 18. Juli 2022 Anklage wegen des dem Haftbefehl zugrundeliegenden Tatvorwurfs zum Oberlandesgericht Koblenz erhoben. Der dort mit der Sache befasste Strafsenat hat am 8. September 2022 die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen. Der Vorsitzende hat Termin zur Hauptverhandlung ab dem 16. November 2022 bestimmt.

II.

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

1. Der Angeklagte ist der ihm mit dem Haftbefehl zur Last gelegten Tat dringend verdächtig (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO).

a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines solchen Tatverdachts von folgendem, bereits im Senatsbeschluss vom 13. Juli 2022 näher dargelegten Sachverhalt auszugehen:

Der damals zwanzigjährige Angeklagte begab sich am 19. September 1991 gegen 3:30 Uhr zu einem Wohnheim für Asylbewerber in S., um dort einen Brand zu legen. In Ausführung seines Tatplans drang er in das Gebäude ein, in dem sich zur Tatzeit 21 Personen aufhielten, goss im Treppenhaus des Erdgeschosses Benzin auf die dortige Holztreppe und entzündete diese. Er nahm dabei zumindest billigend in Kauf, dass Hausbewohner durch das Feuer getötet oder verletzt werden könnten. Ihm war bewusst, dass sich die im Wohnheim befindlichen Personen keines Angriffs auf ihr Leben versahen und daher in der Möglichkeit stark eingeschränkt waren, dem Brand entgegenzuwirken. Auch erkannte der Angeklagte, dass er die Ausbreitung der Flammen nicht kontrollieren konnte und so eine unbestimmte Anzahl von Personen in Gefahr brachte. Er handelte bei der Tat aufgrund seiner rechtsextremistischen Überzeugung und hatte sein Anschlagsziel willkürlich aus Fremdenhass gewählt. Das Feuer erfasste mit großer Geschwindigkeit den gesamten Treppenbereich, wobei die Ausbreitung durch eine „Kaminwirkung“ des Treppenhauses begünstigt wurde. Die entstandene Feuerwalze traf im Flur des Dachgeschosses den ghanaischen Staatsangehörigen Y. Der Geschädigte erlitt Verbrennungen zweiten und dritten Grades am gesamten Körper sowie eine Rauchvergiftung. Diese Verletzungen verursachten ein multiples Organversagen, an dem er noch am selben Tag verstarb. Zwei weitere Personen des Hauses, die aus dem Fenster gesprungen waren, um dem Feuer zu entgehen, erlitten Knochenbrüche. Die übrigen Bewohner konnten sich unverletzt über die Feuerleiter sowie Fenster und Balkon in Sicherheit bringen.

b) Der dringende Tatverdacht ergibt sich insbesondere daraus, dass der Angeklagte die Tatbegehung gegenüber einer Zeugin zugegeben haben soll. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss vom 13. Juli 2022 und ergänzend auf die Darstellung des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen in der Anklageschrift Bezug genommen.

c) In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Angeklagte mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen Mordes in Tateinheit mit versuchtem Mord in 20 tateinheitlichen Fällen und mit Brandstiftung mit Todesfolge gemäß §§ 211, 212 Abs. 1, § 307 Nr. 1, § 306 Nr. 2 (in der zur Tatzeit geltenden Fassung), §§ 22, 23, 52 StGB, §§ 1, 105 JGG (in der zur Tatzeit geltenden Fassung) strafbar gemacht hat.

2. Es besteht weiterhin - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (s. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) - jedenfalls der Haftgrund der Schwerkriminalität. Der Zweck der Untersuchungshaft kann unter den gegebenen Umständen nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO erreicht werden. Insoweit gelten die im Beschluss vom 13. Juli 2022 im Einzelnen dargelegten Erwägungen fort.

3. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere Schwierigkeit und der Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die Haftfortdauer. Der Aktenumfang belief sich bei Anklageerhebung auf 49 Ordner. Nach der Festnahme des Angeklagten sind weitere Zeugen vernommen worden. Zeitnah daran sind im Juni 2022 der polizeiliche Abschlussbericht und in der Folge im Juli 2022 die Anklageschrift gefertigt worden. Das Oberlandesgericht hat das Zwischenverfahren zügig geführt und bereits Termine zur Hauptverhandlung bestimmt. Dass diese nicht früher beginnt, ist der Verhinderung von Verfahrensbeteiligten geschuldet. Insgesamt ist das Verfahren bislang trotz seines Umfangs beschleunigt betrieben worden.

Dies gilt unabhängig von den im Schriftsatz des Verteidigers geltend gemachten Umständen, dass der Umfang der nach der Inhaftierung angestellten Ermittlungen kleiner ist als derjenige der vorangegangenen, dass lediglich ein geringer Anteil der in der Anklageschrift aufgeführten Beweismittel aus solchen nachträglichen Ermittlungen stammt und dass noch nach Anklageerhebung Ermittlungen geführt wurden. Der konkrete Ertrag einzelner Ermittlungen steht regelmäßig nicht im Vorhinein fest, sondern ergibt sich erst nach deren Abschluss. Im Übrigen lässt eine quantitative Betrachtung der in die Anklageschrift eingeflossenen Beweismittel für sich genommen keinen Rückschluss auf die inhaltliche Bedeutung zu.

4. Schließlich steht die Untersuchungshaft nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

III.

Vor dem dargelegten Hintergrund kann die Entscheidung ohne die vom Angeklagten angeregte mündliche Haftprüfung vor dem Senat (§ 122 Abs. 2 und 7 StPO) ergehen; denn maßgebliche weitere Erkenntnisse sind dadurch nicht zu erwarten.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1217

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede