HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 925
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, StB 31/18, Beschluss v. 30.04.2020, HRRS 2020 Nr. 925
Die Rechtsbeschwerde der beteiligten Behörde gegen den Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 25. Mai 2018 wird verworfen.
Die Anschlussrechtsbeschwerde des Betroffenen hat ihre Wirkung verloren.
Der Betroffene trägt die Hälfte der Gerichtskosten des Verfahrens in der Rechtsbeschwerdeinstanz; weitere Gerichtskosten werden nicht erhoben. Der Freien und Hansestadt Hamburg werden die Hälfte der dem Betroffenen in der Rechtsbeschwerdeinstanz entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten auferlegt; im Übrigen trägt diese der Betroffene selbst.
Der Gegenstandswert des Verfahrens der Rechtsbeschwerde und der Anschlussrechtsbeschwerde beträgt 7.500 €.
Dem Betroffenen wird für die Rechtsbeschwerdeinstanz ratenfreie Verfahrenskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Prof. Dr. S. beigeordnet.
1. Am 7. und 8. Juli 2017 fand in Hamburg ein Treffen der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20-Gipfel) statt. Insbesondere an diesen beiden Tagen, aber auch schon im Vorfeld des Gipfeltreffens führten dessen Gegner in der Stadt zahlreiche Demonstrationen und Protestaktionen durch, die teilweise mit schwerwiegenden Ausschreitungen einhergingen.
Der Betroffene wurde am 8. Juli 2017 gegen 18:05 Uhr in der Nähe des Tagungsgeländes auf dem Weg zu einer Demonstration gegen den G20-Gipfel von Polizeibeamten überprüft. Bei seiner Durchsuchung wurden unter anderem ein Schlagring und zwei Böller aufgefunden. Der Betroffene wurde vorläufig festgenommen und in die eigens für die Dauer des G20-Gipfels eingerichtete und durchgängig mit einem Bereitschaftsdienst von Gericht, Staatsanwaltschaft und Polizei besetzte Gefangenensammelstelle (GESA) verbracht, um dort eine richterliche Entscheidung über die vorübergehende Entziehung seiner Freiheit herbeizuführen.
2. Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht Hamburg am 9. Juli 2017 um 11:47 Uhr die Zulässigkeit der Ingewahrsamnahme des Betroffenen „bestätigt“ und gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 2 des Hamburgischen Gesetzes zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (HmbSOG) die Fortdauer der Freiheitsentziehung bis zum 9. Juli 2017 um 23:59 Uhr „genehmigt“.
Mit Beschluss vom 25. Mai 2018 hat das Landgericht auf die Beschwerde des - nach dem festgelegten Endzeitpunkt in die Freiheit entlassenen - Betroffenen festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts ihn in seinen Rechten verletzt hat, soweit darin die Freiheitsentziehung in der Zeit von der Festnahme des Betroffenen bis zur Bekanntgabe des Beschlusses (mithin der behördliche Gewahrsam) für zulässig erklärt worden ist; die richterliche Entscheidung sei nicht unverzüglich im Sinne des § 13a Abs. 1 Satz 1 HmbSOG herbeigeführt worden. Im Übrigen hat es die Beschwerde zurückgewiesen, weil es die vom Amtsgericht angeordnete Freiheitsentziehung für den Zeitraum ab und aufgrund dieses Beschlusses bis zu dem darin festgelegten Endzeitpunkt (mithin den richterlichen Gewahrsam) als rechtmäßig beurteilt hat. Das Landgericht hat die Rechtsbeschwerde zugelassen.
3. Gegen den Beschluss des Landgerichts wendet sich die beteiligte Behörde mit ihrer Rechtsbeschwerde. Sie begehrt die Aufhebung des Beschlusses, soweit das Landgericht die Entscheidung des Amtsgerichts wegen Verstoßes gegen das Unverzüglichkeitsgebot aufgehoben und die Freiheitsentziehung in der Zeit von der vorläufigen Festnahme des Betroffenen bis zur Bekanntgabe der Entscheidung des Amtsgerichts für rechtswidrig erklärt hat.
Der Betroffene greift den Beschluss des Landgerichts mit seiner Anschlussrechtsbeschwerde an, soweit das Landgericht die vom Amtsgericht beschlossene Fortdauer der Freiheitsentziehung am 9. Juli 2017 von 11:47 Uhr bis 23:59 Uhr als rechtmäßig erachtet hat.
Die Rechtsbeschwerde der beteiligten Behörde ist unzulässig. Das Rechtsmittel ist nicht statthaft.
1. Das Hamburgische Sicherheits- und Ordnungsrecht sieht als Rechtsmittel gegen die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts die Rechtsbeschwerde gemäß §§ 70 ff. FamFG vor. Nach der im Sinne des § 40 Abs. 2 Satz 2 VwGO abdrängenden Sonderzuweisung des § 13a Abs. 2 Satz 2 HmbSOG ist für das Verfahren über den Gewahrsam gemäß § 13 HmbSOG das Buch 7 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) in der jeweils geltenden Fassung heranzuziehen. In diesem Buch, welches das Verfahren in bundesrechtlich angeordneten Freiheitsentziehungen zum Gegenstand hat, sind zwar die Rechtsmittel - mit Ausnahme der ergänzenden Vorschrift des § 429 FamFG - nicht gesondert geregelt. Indes finden die §§ 70 ff. FamFG als im Buch 1 enthaltene allgemeine Vorschriften Anwendung auf die in den weiteren Büchern normierten Verfahren (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. September 2016 - StB 26/16, NStZ-RR 2017, 24; vom 19. April 2018 - StB 5/18, NStZ-RR 2018, 262 f.; Drews in Prütting/Helms, FamFG, 4. Aufl., § 429 Rn. 1; Grotkopp in Bahrenfuss, FamFG, 3. Aufl., § 429 Rn. 16).
Die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde richtet sich nach § 70 FamFG. Nach dieser Bestimmung ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn das Beschwerdegericht sie aus einem der in § 70 Abs. 2 FamFG genannten Gründe zugelassen hat (§ 70 Abs. 1 FamFG), sowie darüber hinaus in Freiheitsentziehungssachen ohne Zulassung, wenn sie sich gegen den die Freiheitsentziehung anordnenden oder in den in § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG genannten Verfahren gegen den eine freiheitsentziehende Maßnahme ablehnenden oder zurückweisenden Beschluss richtet (§ 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2, 3 FamFG). Demgegenüber findet nach § 70 Abs. 4 FamFG gegen einen Beschluss im Verfahren über die Anordnung, Abänderung oder Aufhebung einer einstweiligen Anordnung oder eines Arrests die Rechtsbeschwerde nicht statt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gilt für das Aufenthaltsrecht Folgendes: Der Regelung des § 70 Abs. 4 FamFG unterfällt die vorläufige richterliche Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung nach § 427 FamFG i.V.m. § 62 AufenthG. Dem gleich steht die einer richterlichen Beschlussfassung vorgelagerte Möglichkeit der Behörde, einen Ausländer unter strengen Voraussetzungen für einen kurzen Zeitraum vorläufig in Gewahrsam zu nehmen, um diesen unverzüglich dem Richter vorzuführen (§ 428 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 62 Abs. 5 nF bzw. Abs. 4 aF AufenthG). Denn nach § 428 Abs. 2 FamFG ist auch über die Anfechtung behördlich angeordneter Freiheitsentziehungen im Sinne von § 428 Abs. 1 Satz 1 FamFG „nach den Vorschriften dieses Buches“ zu entscheiden. Daraus wird deutlich, dass der gerichtliche Rechtsschutz gegen solche Maßnahmen den Regelungen folgen soll, die auf die Anfechtung gerichtlich angeordneter Freiheitsentziehungen Anwendung finden. Hierzu zählt § 70 Abs. 4 FamFG. Dabei ist ohne Bedeutung, ob das Beschwerdegericht die Rechtsbeschwerde zugelassen hat; eine solche Zulassung ist verfahrensfehlerhaft und bindet das Rechtsbeschwerdegericht nicht (vgl. zum Ganzen BGH, Beschlüsse vom 12. Mai 2011 - V ZB 135/10, juris Rn. 5; vom 23. Mai 2011 - V ZA 29/10, juris; vom 9. März 2017 - V ZB 119/16, juris Rn. 5, 9).
Für die behördlich angeordnete Freiheitsentziehung zum Zweck der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung über den Gewahrsam nach den Vorschriften des Polizei- und Ordnungsrechts gilt nichts anderes. Es ist kein sachlicher Grund ersichtlich, der es insoweit rechtfertigen würde, im Hinblick auf das Rechtsmittelrecht zwischen den beiden Rechtsgebieten zu differenzieren. Vielmehr ist in der jeweils zu beurteilenden Verfahrenskonstellation der maßgebliche sachliche Grund für den Ausschluss der Rechtsbeschwerde, dass der behördliche Gewahrsam im Vorfeld der richterlichen Entscheidung generell nur vorläufigen Charakter hat. Folgerichtig behandelt die Kommentarliteratur zum FamFG die Rechtsprechung zur Anwendbarkeit des § 70 Abs. 4 FamFG in diesen Fällen ohne Bezug auf eine bestimmte Kategorie von Freiheitsentziehungssachen (s. Drews in Prütting/Helms, FamFG, 4. Aufl., § 428 Rn. 11; Keidel/Göbel, FamFG, 20. Aufl., § 428 Rn. 12; MüKoFamFG/Wendtland, 3. Aufl., § 428 Rn. 10).
2. Nach den aufgezeigten Maßstäben ist die Rechtsbeschwerde der beteiligten Behörde - trotz ihrer Zulassung durch das Landgericht - nicht statthaft.
Hinsichtlich der angegriffenen Feststellung des Landgerichts, die Freiheitsentziehung in der Zeit von der vorläufigen Festnahme bis zur Bekanntgabe der Entscheidung des Amtsgerichts habe den Betroffenen wegen Verstoßes gegen das Unverzüglichkeitsgebot (§ 13a Abs. 1 Satz 1 HmbSOG) in seinen Rechten verletzt, ist die Rechtsbeschwerde analog § 70 Abs. 4 FamFG nicht eröffnet. Denn der betreffende Verfahrensgegenstand bezieht sich auf den behördlichen Gewahrsam zum Zweck der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung und damit denjenigen Zeitraum, für den sich der Rechtsschutz nach § 428 Abs. 2 FamFG richtet.
Über die Anschlussrechtsbeschwerde des Betroffenen ist nicht mehr zu entscheiden. Wird die Rechtsbeschwerde - wie hier - als unzulässig verworfen, verliert die Anschlussrechtsbeschwerde kraft Gesetzes ihre Wirkung (§ 73 Satz 3 FamFG). Dies hat der Senat klargestellt (vgl. Keidel/Meyer-Holz, FamFG, 20. Aufl., § 73 Rn. 13).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, §§ 84, 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 MRK analog. Da der Betroffene die Anschließung an eine von vorneherein unzulässige Rechtsbeschwerde erklärt hat, sind ihm im Rahmen der einheitlich zu treffenden Billigkeitsentscheidung die in der Rechtsbeschwerdeinstanz entstandenen Kosten anteilig aufzuerlegen (s. Joachim in Bahrenfuss, FamFG, 3. Aufl., § 73 Rn. 5; Keidel/Meyer-Holz, FamFG, 20. Aufl., § 73 Rn. 15 f.). Eine hälftige Quotelung entspricht der Billigkeit.
Die Festsetzung des Gegenstandswerts des Verfahrens in der Rechtsbeschwerdeinstanz folgt aus § 35 Abs. 1, § 36 Abs. 2 und 3, § 62 analog GNotKG, wobei die Werte der Rechtsbeschwerde (vorläufige behördliche Ingewahrsamnahme: 2.500 €) und der Anschlussrechtsbeschwerde (endgültige amtsgerichtliche Entscheidung über den Gewahrsam: 5.000 €) zu addieren sind.
1. Dem Betroffenen ist nach § 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. §§ 114 ff. ZPO auf seinen Antrag für die Rechtsbeschwerdeinstanz Verfahrenskostenhilfe zu gewähren.
a) Hinsichtlich der Rechtsbeschwerde der beteiligten Behörde sind nach § 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO Erfolgsaussicht und Mutwilligkeit der Rechtsverteidigung des Betroffenen nicht zu prüfen (zu - hier nicht vorliegenden - Ausnahmekonstellationen vgl. Zöller/Schultzky, ZPO, 33. Aufl., § 119 Rn. 20 f.). Hinsichtlich der Anschlussrechtsbeschwerde ergibt die erforderliche (s. Zöller/Schultzky aaO, Rn. 19) Prüfung, dass seine Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bot und nicht mutwillig erschien (§ 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 ZPO). Der näheren Betrachtung bedarf lediglich die erstgenannte Voraussetzung:
Eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht, wenn bei summarischer Prüfung für die begehrte Rechtsfolge - im maßgeblichen Zeitpunkt der „Entscheidungsreife“ (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. März 2012 - XII ZB 391/10, NJW 2012, 1964, 1965; vom 10. Dezember 2014 - XII ZB 232/13, juris Rn. 7) - eine gewisse, nicht notwendig überwiegende Wahrscheinlichkeit spricht (zu Rechtsmitteln s. MüKoZPO/Wache, 5. Aufl., § 119 Rn. 34 mwN). Dabei dürfen an die Erfolgsaussicht keine überspannten Anforderungen gestellt werden; es reicht bereits aus, wenn das Gericht nach einer summarischen Prüfung den Rechtsstandpunkt des Antragstellers für vertretbar hält (s. BGH, Beschluss vom 14. Dezember 1993 - VI ZR 235/92, NJW 1994, 1160, 1161). Das gilt namentlich dann, wenn in der Hauptsache schwierige, bislang ungeklärte Rechtsfragen zu entscheiden sind (vgl. hierzu Prütting/Helms/Dürbeck, FamFG, 4. Aufl., § 76 Rn. 22 mwN).
Der Anschlussrechtsbeschwerde war nicht von vorneherein der Erfolg versagt. Insbesondere war nicht offensichtlich, dass die - vom Landgericht zugelassene - Rechtsbeschwerde der beteiligten Behörde als unzulässig verworfen werden und somit die Anschlussrechtsbeschwerde ihre Wirkung verlieren würde. Denn die Unzulässigkeit der Rechtsbeschwerde gründet auf rechtsfortbildender Rechtsprechung zur Statthaftigkeit des Rechtsmittels bei Entscheidungen über den behördlichen Gewahrsam nach dem Polizei- und Ordnungsrecht.
b) Nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen ist der Betroffene nicht in der Lage, die Kosten für die Rechtsbeschwerdeinstanz ganz oder teilweise aufzubringen (§ 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1, § 115 ZPO).
2. Dem Betroffenen ist nach § 78 Abs. 1 i.V.m. § 10 Abs. 4 Satz 1 FamFG Rechtsanwalt Prof. Dr. S. in der Rechtsbeschwerdeinstanz beizuordnen, der bereits die Rechtsbeschwerdeerwiderungs- und Anschlussrechtsbeschwerdebegründungsschrift verfasst hat.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 925
Bearbeiter: Christian Becker