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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 924

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, AK 44/16, Beschluss v. 29.08.2016, HRRS 2016 Nr. 924


BGH AK 44/16 - Beschluss vom 29. August 2016

Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate; dringender Tatverdacht wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland („PKK“).

§ 112 StPO; § 121 StPO; § 129a StGB; § 129b StGB

Entscheidungstenor

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Stuttgart übertragen.

Gründe

I.

Der Angeschuldigte wurde aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 15. Januar 2016 (6 BGs 2/16) am 16. Februar 2016 festgenommen und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft.

Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe unter dem Decknamen „D.“ seit August 2013 in Stuttgart, Dortmund, Düsseldorf und anderen Orten der Bundesrepublik Deutschland in Kenntnis der Ziele, Programmatik und Methoden der Gesamtorganisation eine Führungsfunktion der „Partiya Karkerên Kurdistan“ („Arbeiterpartei Kurdistans“, im Folgenden: PKK) und ihrer Teilstrukturen in Europa ausgeübt, indem er als hauptamtlicher Kader zunächst bis Juli 2014 den PKK-Sektor „Süd 2" in Deutschland geleitet habe, anschließend in den ebenfalls in Deutschland bestehenden Sektor „Mitte“ gewechselt sei und dort für die Dauer etwa eines Jahres die Leitung des Gebiets „Dortmund“ sowie seit August 2015 des Gebiets „Düsseldorf“ übernommen habe. Dadurch habe er sich an einer Vereinigung im Ausland beteiligt, deren Zwecke oder Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen (§ 129b Abs. 1 i.V.m. § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB).

Unter dem 7. Juni 2016 hat der Generalbundesanwalt wegen des im Haftbefehl aufgeführten Tatvorwurfs Anklage gegen den Angeschuldigten vor dem Oberlandesgericht Stuttgart erhoben.

II.

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

1. Der Angeschuldigte ist der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland dringend verdächtig.

a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts im Wesentlichen von folgendem Sachverhalt auszugehen:

aa) Die PKK wurde 1978 u.a. von Abdullah Öcalan in der Türkei als Kaderorganisation mit dem Ziel gegründet, einen kurdischen Nationalstaat unter ihrer Führung zu schaffen. Zur Verwirklichung dieses Plans initiierte die PKK verschiedene Organisationen, die mehrfach ihre Bezeichnung wechselten. So besteht seit 2007 - unter dieser Bezeichnung - die „Koma Civakên Kurdistan“ („Vereinigte Gemeinschaften Kurdistan“, im Folgenden: KCK), die auf einen staatsähnlichen „konföderalen“ Verbund der kurdischen Siedlungsgebiete in der Türkei, Syrien, Iran und Irak abzielt und dabei umfangreiche staatliche Attribute beansprucht wie Parlament, Gerichtsbarkeit, Armee und Staatsbürgerschaft.

Die KCK ist, ebenso wie die PKK, auf die Person von Abdullah Öcalan ausgerichtet. Daneben vollzieht sich die Willensbildung innerhalb der Organisation etwa über den „Kongra Gele Kurdistan“ (KONGRA GEL, „Volkskongress Kurdistans“) und den KCK-Exekutivrat. Die Führungskader folgen grundsätzlich dieser Willensbildung und setzen die getroffenen Entscheidungen um. Zur Überprüfung haben sie den Kadern der übergeordneten Ebene regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten.

Fester Bestandteil der Strukturen der PKK/KCK sind auch die „Hêzên Parastina Gel“ („Volksverteidigungskräfte“, im Folgenden: HPG), die nach dem Willen der Führung handeln. Sie betrachten im Rahmen der von ihnen vorgenommenen „Selbstverteidigung“ einen Guerillakrieg als legitimes Mittel. Die HPG verübten vor allem im Südosten der Türkei mittels Sprengstoff und Waffen Anschläge gegen türkische Soldaten sowie Polizisten und verletzten oder töteten dabei eine Vielzahl von diesen. Sie bekannten sich seit der Aufkündigung eines „Waffenstillstands“ zum 1. Juni 2004 zu über 100 Anschlägen.

Das Präsidium des Exekutivrats der KCK erklärte, nachdem Abdullah Öcalan aus der Haft heraus eine Friedensbotschaft verlesen und zu einer gewaltfreien politischen Lösung des Konflikts aufgerufen hatte, ab dem 23. März 2013 eine Feuerpause. In der Folge verübten die HPG zwar deutlich weniger Anschläge, ohne dass damit aber eine Abkehr von der Ausrichtung der Organisation auf die Begehung von Tötungsdelikten verbunden gewesen wäre; vielmehr war mit der Erklärung bereits der Vorbehalt verbunden, dass man im Fall von Angriffen von dem „Recht auf Selbstverteidigung“ Gebrauch machen und Vergeltung üben werde.

Der Schwerpunkt der Strukturen und das eigentliche Aktionsfeld der PKK liegen in den von Kurden bevölkerten Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran. Zahlreiche - auf die Unterstützung der politischen und militärischen Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat ausgerichtete - Aktivitäten betreibt die PKK jedoch auch in Deutschland und anderen Gebieten Westeuropas. Dazu bediente sie sich bis Juli 2013 der „Civata Demokratîk a Kurdistan“ („Kurdische Demokratische Gesellschaft“, im Folgenden: CDK), die die Direktiven der KCK-Führung umzusetzen hatte und namentlich dazu diente, die in Europa lebenden Kurden zu organisieren. Entsprechend den Vorgaben des 10. CDK-Kongresses vom Mai 2013 zur Neustrukturierung der PKK in Europa benannte sich der europäische Dachverband PKK-naher Vereine „Konföderation der kurdischen Vereine in Europa“ (KONKURD) im Juli 2013 in „Kongress der kurdischdemokratischen Gesellschaft in Europa“ (KCDE) um. Unter der Bezeichnung KCDE werden nicht nur die Strukturen des KONKURD, sondern auch diejenigen der CDK fortgeführt. Unterhalb der Führungsebene war und ist Europa in Sektoren, Gebiete, Räume und Stadtteile eingeteilt. In Deutschland gab es seit 2002 drei Sektoren („Süd“, „Mitte“ und „Nord“), seit 2012 ist der Sektor „Süd“ in die Sektoren „Süd 1" und „Süd 2" aufgeteilt. Für jede Organisationseinheit wird von der Führung mindestens ein Verantwortlicher eingesetzt; Sektoren und Gebiete werden in der Regel von einem durch die Partei alimentierten, professionellen Führungskader geleitet. Die Organisationseinheiten stellen der PKK Finanzmittel bereit, rekrutieren Nachwuchs für den Guerillakampf und betreiben Propaganda. Dabei haben sie die Vorgaben der Europaführung umzusetzen und dieser über die Erfüllung ihrer Aufgaben regelmäßig Bericht zu erstatten.

bb) Der Angeschuldigte war spätestens seit Mitte August 2013 als hauptamtlicher Führungskader mit den typischen Leitungsaufgaben eines Sektorverantwortlichen befasst und koordinierte die organisatorischen, personellen und propagandistischen Angelegenheiten in dem ihm zugeteilten PKK-Sektor „Süd 2", der unter anderem die Gebiete Stuttgart, München/Südbayern, Freiburg und Bodensee umfasst. Dabei agierte er unter dem parteiinternen Decknamen „D.“ und nahm auf die Arbeit der ihm unterstehenden Gebietsverantwortlichen in dem von ihm geleiteten Sektor bestimmenden Einfluss. Er stand mit ihnen in regelmäßiger Verbindung, koordinierte ihre Arbeit, gab ihnen Anweisungen und ließ sich über die Entwicklung in den Gebieten berichten. Er selbst befolgte die von der Europaführung erteilten Weisungen und war dieser gegenüber berichtspflichtig. Über die wesentlichen Vorgänge in den Gebieten seines Sektors informierte er die Europaführung - auch auf der Grundlage von ihm eingeforderter Berichte der ihm unterstehenden Gebietsverantwortlichen - regelmäßig.

Über Propagandaveranstaltungen und Versammlungen informierte der Angeschuldigte die einzelnen Gebietsverantwortlichen im Vorfeld, wirkte auf die Erledigung damit verbundener Arbeiten hin und war bemüht, die Teilnahme möglichst vieler Personen aus seinem Sektor sicherzustellen. Ferner koordinierte er die Sammlung von Spendengeldern und vermittelte Reisen örtlicher Kader zur Europaführung nach Belgien.

Im Zuge der jährlichen Kaderrotation im Anschluss an den vom 28. Juni bis zum 2. Juli 2014 in der Schweiz abgehaltenen Europakongress der Organisation wechselte der Angeschuldigte in den Sektor „Mitte“ und übernahm dort zunächst die Leitung des Gebiets „Dortmund“. Dort unterhielt er ständige telefonische und persönliche Kontakte sowohl zu den Verantwortlichen der zum Gebiet „Dortmund“ gehörenden Räume und anderen nachgeordneten Kadern als auch zu dem ihm vorgesetzten Leiter des Sektors „Mitte“. Auch im Rahmen dieser Tätigkeit regelte er die organisatorischen, finanziellen sowie personellen Angelegenheiten seines Zuständigkeitsbereichs, wirkte auf die Erfüllung ihm gegenüber bestehender Berichtspflichten hin und war in die Vorbereitung sowie Durchführung von Demonstrationen, Propagandaveranstaltungen, Versammlungen und Kongressen innerund außerhalb seines Gebiets eingebunden. Nach einer erneuten Rotation der in Europa tätigen Kader war er seit August 2015 in gleicher Funktion als Verantwortlicher für das Gebiet „Düsseldorf“ tätig.

b) Der dringende Tatverdacht hinsichtlich des vorstehenden Sachverhalts ergibt sich aus öffentlichen Verlautbarungen der Organisationen, einer Vielzahl von sichergestellten Unterlagen, der Auswertung zahlreicher Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen und Zeugenaussagen. Wegen der Einzelheiten wird auf die ausführlichen Darlegungen im Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs und in der Anklageschrift des Generalbundesanwalts Bezug genommen.

c) Der Angeschuldigte hat sich danach mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar gemacht (§ 129b Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB).

Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand stellt die von der PKK initiierte Verbandsstruktur eine Vereinigung dar, bei der sich der Einzelne entsprechend den intern bestehenden Regeln unter den Gruppenwillen unterordnet. Sie ist angesichts des von ihr in Anspruch genommenen - indes nicht gegebenen - „Selbstverteidigungsrechts“ und der durch ihre Unterorganisation HPG verübten Anschläge darauf ausgerichtet, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen. Für die Anschläge besteht auch kein Rechtfertigungsgrund nach Völkervertrags- oder Völkergewohnheitsrecht (BGH, Beschluss vom 6. Mai 2014 - 3 StR 265/13, NStZ-RR 2014, 274 f.).

Das Bundesministerium der Justiz hat am 6. September 2011 die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung der jeweiligen Verantwortlichen für die in Deutschland bestehenden Sektoren und Gebiete der PKK erteilt (§ 129b Abs. 1 Satz 3 StGB).

2. Es ist der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) gegeben. Der Angeschuldigte hat im Falle seiner Verurteilung mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Dem davon ausgehenden Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthindernden Umstände entgegen. Der ledige Angeschuldigte verfügt nach den durch die Telekommunikationsmaßnahmen erlangten Erkenntnissen über Auslandskontakte, die ihm eine Flucht erleichtern können. Außerdem kann er als hochrangiger Kader bei der Beschaffung und Verwendung von Falschpapieren zu Fluchtzwecken stets mit der Hilfe der Organisation rechnen. In Anbetracht dessen ist zu erwarten, dass sich der Angeschuldigte, sollte er in Freiheit gelangen, dem weiteren Strafverfahren durch Flucht entziehen wird.

Daneben liegt angesichts des bestehenden dringenden Verdachts einer Straftat nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB auch der Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO vor. Die genannten Umstände begründen die Gefahr, dass die Ahndung der Tat ohne die weitere Inhaftierung des Angeklagten vereitelt werden könnte, so dass die Vorschrift auch bei ihrer gebotenen restriktiven Auslegung (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 112 Rn. 37 mwN) angewendet werden kann.

Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob darüber hinaus der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO) besteht.

Der Zweck der Untersuchungshaft kann nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO).

3. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) liegen vor.

Der besondere Umfang des Verfahrens hat ein Urteil innerhalb von sechs Monaten seit der Inhaftierung des Angeschuldigten noch nicht zugelassen. Die Sachakten umfassen 70 Stehordner, die Anklageschrift des Generalbundesanwalts hat einen Umfang von 162 Seiten, das Beweismittelverzeichnis von 42. Die Anklage stützt sich auf zahlreiche Urkunden und eine Vielzahl von Gesprächsprotokollen sowie Kurzmitteilungen aus der Überwachung zahlreicher Telekommunikationsanschlüsse; ihr liegen unter anderem 1.635 Telefonkontakte zugrunde.

Das Verfahren ist auch mit der gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden:

Im Anschluss an die Festnahme des Angeschuldigten waren neben der für die Fertigung der Anklageschrift notwendigen Zeitspanne noch umfangreiche Ermittlungen erforderlich, insbesondere zu der dem Angeschuldigten zur Last fallenden mitgliedschaftlichen Betätigung als Leiter des PKKGebiets Düsseldorf seit August 2015. Zu diesem Zweck waren vor allem umfangreiche, in mehreren Sachaktenordnern abgelegte Erkenntnisse aus der Telekommunikationsüberwachung sowie die bei der Durchsuchung des Angeschuldigten und seiner Wohnung sichergestellten Schriftstücke, Mobiltelefone und SIMKarten auszuwerten.

Die unmittelbar im Anschluss daran fertiggestellte Anklageschrift vom 7. Juni 2016 ist am 15. Juni 2016 beim Oberlandesgericht Stuttgart eingegangen. Der Vorsitzende des zuständigen 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart hat bereits am 16. Juni 2016 die Zustellung der Anklageschrift verfügt, auf Wunsch der Verteidigung am 23. Juni 2016 die Übersetzung der Anklage in die kurdische Sprache angeordnet und nach dem Eingang der Übersetzung am 2. August 2016 am selben Tag deren Übersendung an den Angeschuldigten veranlasst. Die dem Angeschuldigten ursprünglich eingeräumte Erklärungsfrist bis zum 22. Juli 2016 hat der Vorsitzende am 21. Juli 2016 zunächst bis zum 19. August 2016 und - mit Rücksicht darauf, dass die Übersetzung dem Angeschuldigten noch nicht vorlag, als der Verteidiger diesen am 4. August 2016 in der JVA aufsuchte - nunmehr letztmals bis zum 2. September 2016 verlängert.

4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht nach alledem nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 924

Bearbeiter: Christian Becker