HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 208
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, AK 1/16, Beschluss v. 28.01.2016, HRRS 2016 Nr. 208
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.
Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Düsseldorf übertragen.
Der Angeschuldigte wurde aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofes vom 29. Mai 2015 - 6 BGs 203/15 - am 18. Juli 2015 festgenommen und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft.
Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe unter dem Decknamen „K.“ von Juni 2013 bis Juni 2014 in Düsseldorf, Köln und an anderen Orten als hauptamtlicher Kader der „Partiya Karkerên Kurdistan“ („Arbeiterpartei Kurdistans“, im Folgenden: PKK) und ihrer Europaorganisation „Civata Demokratîk a Kurdistan“ („Kurdische Demokratische Gesellschaft in Europa“, im Folgenden: CDK) in Kenntnis der Ziele, Programmatik und Methoden der Gesamtorganisation eine Führungsfunktion ausgeübt, indem er den PKK-Sektor „Mitte“ geleitet habe. Dadurch habe er sich an einer Vereinigung im nicht europäischen Ausland beteiligt, deren Zwecke oder Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen (§ 129b Abs. 1 i.V.m. § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB).
Das Bundesministerium der Justiz hat am 6. September 2011 die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung der jeweiligen Verantwortlichen für die in Deutschland bestehenden Sektoren der PKK erteilt (§ 129b Abs. 1 Satz 3 StGB).
Unter dem 30. November 2015 hat der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof wegen des im Haftbefehl aufgeführten Tatvorwurfs Anklage gegen den Angeschuldigten vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf erhoben.
Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.
1. Der Angeschuldigte ist der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland dringend verdächtig.
a) Nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts im Wesentlichen von folgendem Sachverhalt auszugehen:
aa) Die PKK wurde 1978 u.a. von Abdullah Öcalan in der Türkei als Kaderorganisation mit dem Ziel gegründet, einen kurdischen Nationalstaat unter ihrer Führung zu schaffen. Zur Verwirklichung dieses Plans initiierte die PKK verschiedene Organisationen, die mehrfach ihre Bezeichnung wechselten. So besteht seit 2007 - unter dieser Bezeichnung - die „Koma Civakên Kurdistan“ („Vereinigte Gemeinschaften Kurdistan“, im Folgenden: KCK), die auf einen staatsähnlichen „konföderalen“ Verbund der kurdischen Siedlungsgebiete in der Türkei, Syrien, Iran und Irak abzielt und dabei umfangreiche staatliche Attribute beansprucht wie Parlament, Gerichtsbarkeit, Armee und Staatsbürgerschaft.
Die KCK ist, ebenso wie die PKK, auf die Person von Abdullah Öcalan ausgerichtet. Daneben vollzieht sich die Willensbildung innerhalb der Organisation etwa über den „Kongra Gele Kurdistan“ (KONGRA GEL, „Volkskongress Kurdistans“) und den KCK-Exekutivrat. Die Führungskader folgen grundsätzlich dieser Willensbildung und setzen die getroffenen Entscheidungen um. Zur Überprüfung haben sie den Kadern der übergeordneten Ebene regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeit zu erstatten.
Fester Bestandteil der Strukturen der PKK/KCK sind auch die „Hêzên Parastina Gel“ („Volksverteidigungskräfte“, im Folgenden: HPG), die nach dem Willen der Führung handeln. Sie betrachten im Rahmen der von ihnen vorgenommenen „Selbstverteidigung“ einen Guerillakrieg als legitimes Mittel. Die HPG verübten vor allem im Südosten der Türkei mittels Sprengstoff und Waffen Anschläge gegen türkische Soldaten sowie Polizisten und verletzten oder töteten dabei eine Vielzahl von diesen. Sie bekannten sich seit der Aufkündigung eines „Waffenstillstands“ zum 1. Juni 2004 zu über 100 Anschlägen.
Für verschiedene Anschläge auch auf zivile Ziele in türkischen Großstädten und Touristenzentren, die ebenfalls von dem Kommando der HPG unterstehenden Einheiten begangen wurden, übernahmen nicht die HPG, sondern die „Teyrêbazên Azadîya Kurdistan“ („Freiheitsfalken Kurdistans“, im Folgenden: TAK) nach außen die Verantwortung. Die PKK/KCK bezweckt damit, sich offiziell von diesen Anschlägen distanzieren zu können, um ihren nach außen propagierten „Friedenskurs“ nicht in Frage zu stellen, durch den sie sich erhofft, als politischer Ansprechpartner im Inund Ausland anerkannt zu werden.
Das Präsidium des Exekutivrats der KCK erklärte, nachdem Abdullah Öcalan aus der Haft heraus eine Friedensbotschaft verlesen und zu einer gewaltfreien politischen Lösung des Konflikts aufgerufen hatte, ab dem 23. März 2013 eine Feuerpause. In der Folge verübten die HPG zwar deutlich weniger Anschläge, ohne dass damit aber eine Abkehr von der Ausrichtung der Organisation auf die Begehung von Tötungsdelikten verbunden gewesen wäre; vielmehr war mit der Erklärung bereits der Vorbehalt verbunden, dass man im Fall von Angriffen von dem „Recht auf Selbstverteidigung“ Gebrauch machen und Vergeltung üben werde.
Der Schwerpunkt der Strukturen und das eigentliche Aktionsfeld der PKK liegen in den von Kurden bevölkerten Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran. Zahlreiche - auf die Unterstützung der politischen und militärischen Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat ausgerichtete - Aktivitäten betreibt die PKK jedoch auch in Deutschland und anderen Gebieten Westeuropas. Dazu bedient sie sich der CDK, die die Vorgaben der KCK-Führung umzusetzen hat; sie dient namentlich dazu, die in Europa lebenden Kurden zu organisieren. Unterhalb der Führungsebene ist Europa in Sektoren, Gebiete, Räume und Stadtteile eingeteilt, die jeweils von mindestens einem Führungskader geleitet werden. Diese Organisationseinheiten stellen der PKK Finanzmittel bereit, rekrutieren Nachwuchs für den Guerillakampf und betreiben Propaganda.
bb) Der Angeschuldigte war spätestens seit Anfang Juni 2013 als hauptamtlicher Führungskader mit den typischen Leitungsaufgaben eines Sektorverantwortlichen befasst und koordinierte die organisatorischen, personellen und propagandistischen Angelegenheiten in dem ihm zugeteilten PKK-Sektor „Mitte“, der die Gebiete Duisburg, Bonn, Köln, Bielefeld, Essen/Bochum, Dortmund und Düsseldorf umfasst.
Dabei agierte er unter dem parteiinternen Decknamen „K.“ und nahm auf die Arbeit der ihm unterstehenden Gebietsverantwortlichen in den von ihm geleiteten Sektor bestimmenden Einfluss. Er stand mit ihnen in regelmäßiger Verbindung, koordinierte ihre Arbeit, gab ihnen Anweisungen und ließ sich über die Entwicklungen in den Gebieten berichten. Er selbst befolgte die von der Europaführung erteilten Weisungen und war dieser gegenüber berichtspflichtig. Über die wesentlichen Vorgänge in den Gebieten seiner Sektoren informierte er die Europaführung regelmäßig.
Seit der jährlichen Kaderrotation, die Anfang Juli 2014 in der Schweiz beschlossen wurde, übt der Angeschuldigte - soweit ersichtlich - keine Funktion innerhalb der PKK/CDK aus.
b) Der dringende Tatverdacht hinsichtlich des vorstehenden Sachverhalts ergibt sich aus einer Vielzahl von sichergestellten Unterlagen, der Auswertung zahlreicher Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen, öffentlichen Verlautbarungen der Organisationen und zahlreichen Zeugenaussagen. Wegen der Einzelheiten wird auf die ausführlichen Darlegungen im Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofes und in der Anklageschrift des Generalbundesanwalts Bezug genommen. Danach besteht aufgrund der auch in diesem Ermittlungsverfahren vorliegenden Erkenntnisse der dringende Verdacht, dass die TAK an die Organisationsstrukturen der PKK/KCK angebunden ist (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 14. November 2012 - AK 32/12, juris Rn. 16 f.).
c) Der Angeschuldigte hat sich mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar gemacht.
Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen stellt die von der PKK initiierte Verbandsstruktur eine Vereinigung dar, bei der sich der Einzelne entsprechend den intern bestehenden Regeln unter den Gruppenwillen unterordnet. Sie ist angesichts des von ihr in Anspruch genommenen - indes nicht gegebenen - „Selbstverteidigungsrechts“ und der durch ihre weiteren Unterorganisationen, die HPG und die TAK, verübten Anschläge darauf ausgerichtet, Mord (§ 211 StGB) oder Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen. Für die Anschläge besteht auch kein Rechtfertigungsgrund nach Völkervertrags- oder Völkergewohnheitsrecht (BGH, Beschluss vom 6. Mai 2014 - 3 StR 265/13, NStZ-RR 2014, 274).
2. Es besteht jedenfalls der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Der Angeschuldigte hat im Fall seiner Verurteilung eine empfindliche, einen erheblichen Fluchtanreiz begründende Freiheitsstrafe zu gewärtigen. Dem stehen keine ausreichend gewichtigen, die Fluchtgefahr für den verwitweten Angeschuldigten hemmenden Umstände entgegen. Zudem verfügt der Angeschuldigte nach den Erkenntnissen aus der Überwachung seines Mobiltelefonanschlusses über zahlreiche Auslandskontakte, die ihm eine Flucht erleichtern können.
Daneben ist der Haftgrund der Schwerkriminalität gemäß § 112 Abs. 3 StPO gegeben.
Der Zweck der Untersuchungshaft kann nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO).
3. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) liegen vor.
Der besondere Umfang des Verfahrens - die Sachakten umfassen über 50 Stehordner, die Anklageschrift des Generalbundesanwalts hat einen Umfang von über 160 Seiten, das Beweismittelverzeichnis von über 30; in einer möglichen Hauptverhandlung werden zahlreiche Urkunden zu verlesen und überwiegend fremdsprachige Gesprächsprotokolle aus der Überwachung von Telekommunikationsanschlüssen einzuführen sein - hat ein Urteil innerhalb von sechs Monaten, nachdem der Angeschuldigte in Untersuchungshaft genommen worden ist, noch nicht zugelassen.
Das Verfahren ist auch mit der gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden:
In Vorbereitung der Anklageerhebung war hinsichtlich der konkreten Betätigungshandlungen des Angeschuldigten aus der Vielzahl der überwachten Telefonate und Textnachrichten zunächst eine Vorauswahl der Gespräche zu treffen, von denen Wortprotokolle anzufertigen waren, was mit einem erheblichen Übersetzungsaufwand verbunden war. Die am Tag der Festnahme durchgeführte Dursuchung der Wohnung des Angeschuldigten hat eine Vielzahl von Beweismitteln erbracht, insbesondere umfangreiche schriftliche Unterlagen in türkischer Sprache, die zu sichten und ebenfalls zu übersetzen waren.
Daneben ergaben sich aus in einem Notizblock festgehaltenen E-Mail-Adressen mit Passwörtern weitere Ermittlungsansätze, deren Ergebnisse das Bundeskriminalamt mit Vermerk vom 11. November 2015 zur Akte gereicht hat.
Die Anklageschrift des Generalbundesanwalts ist dem Verteidiger des Angeschuldigten Dr. F. von der Vorsitzenden des zuständigen 7. Strafsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf unverzüglich mitgeteilt und ihre Übersetzung für den Angeschuldigten - mit Fristsetzung zum 11. Januar 2016 - in Auftrag gegeben worden. Die vom Oberlandesgericht bestimmte Erklärungsfrist von einem Monat wird durch die Zustellung der Anklageschrift an den Angeschuldigten unmittelbar nach Eingang der Übersetzung in Gang gesetzt und nach Ablauf der Frist über die Eröffnung entschieden werden.
4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht nach alledem nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 208
Bearbeiter: Christian Becker