Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juli 2005
6. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
die HRRS-Ausgabe Juli publiziert insbesondere eine zur Diskussion Anlass bietende Entscheidung des fünften Strafsenats zur Missbrauchsproblematik beim Beweisantragsrecht, mit der in problematischer Weise um eine Objektivierung bemüht ist. Gegen die Entscheidung wendet sich Ventzke in einer kritischen Anmerkung.
Zwei Besprechungen zur jüngeren Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen zum Rechtsmittelverzicht bei Verfahrensabsprachen werden mit der Ausgabe publiziert. Ein zustimmender HRRS-Praxishinweis erläutert die Vorlage des dritten Strafsenats zur Auslegung des Handeltreibens.
Unter den aufgenommenen Entscheidungen ragen etwa diejenige der Großen Kammer des EGMR zum Öcalan-Verfahren und diejenige des BVerfG zur Beschlagnahme und Kopie des Datenbestandes einer Rechtsanwaltskanzlei heraus.
Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion
Karsten Gaede
Wiss. Ass.
1. Die Strafprozessordnung erlaubt die Sicherstellung und Beschlagnahme von Datenträgern und hierauf gespeicherten Daten als Beweisgegenstände im Strafverfahren. (BVerfG)
2. Bei Durchsuchung, Sicherstellung und Beschlagnahme von Datenträgern und darauf vorhandenen Daten muss der Zugriff auf für das Verfahren bedeutungslose Informationen im Rahmen des Vertretbaren vermieden werden. (BVerfG)
3. Zumindest bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen ist ein Beweisverwertungsverbot als Folge einer fehlerhaften Durchsuchung und Beschlagnahme von Datenträgern und darauf vorhandenen Daten geboten. (BVerfG)
4. Die Zulässigkeit der Beschlagnahme des Datenbestands einer Rechtsanwaltskanzlei oder Steuerberatungsgesellschaft ist am Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG zu messen. (Bearbeiter)
5. Art. 2 Abs. 1 GG schützt nicht nur den Kernbereich der Persönlichkeit. Erfasst ist vielmehr jedes menschliche Verhalten. Da nach der Art der geschützten Tätigkeit
nicht differenziert wird, sind von Art. 2 Abs. 1 GG auch wirtschaftliche (vgl. BVerfGE 10, 89, 99) und berufliche Tätigkeiten erfasst. Geschützt werden natürliche und juristische Personen sowie Personenmehrheiten (vgl. BVerfGE 10, 89, 99; 23, 12, 30). (Bearbeiter)
6. Die Beschlagnahme oder Maßnahmen nach § 110 StPO, die nur mittelbar aus der Durchsuchung der Wohn- und Geschäftsräume folgen, unterfallen nicht mehr dem Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG (vgl. Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Januar 2002 - 2 BvR 2248/00 -, NStZ 2002, S. 377 und vom 28. April 2003 - 2 BvR 358/03 -, BVerfGK 1, 126, 133). Insoweit bildet Art. 2 Abs. 1 GG den maßgebenden Schutzbereich, wenn und soweit nicht andere Spezialgrundrechte vorgehen. (Bearbeiter)
7. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Dieser Schutz ist von dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG umfasst. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen (vgl. BVerfGE 65, 1, 43). Das Grundrecht dient dabei über das hinaus, was es unmittelbar gewährleistet, auch dem Schutz vor einem Einschüchterungseffekt, der entstehen und zu Beeinträchtigungen bei der Ausübung anderer Grundrechte führen kann, wenn für den Einzelnen nicht mehr erkennbar ist, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß. Die Freiheit des Einzelnen, aus eigener Selbstbestimmung zu planen und zu entscheiden, kann dadurch wesentlich gehemmt werden. (Bearbeiter)
8. Beschränkungen des Art. 2 Abs. 1 GG bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht. §§ 94 ff. StPO genügen diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen hinsichtlich der Sicherstellung und Beschlagnahme von Datenträgern und den hierauf gespeicherten Daten. (Bearbeiter)
9. Die Sicherstellung und Beschlagnahme der Datenträger und der darauf gespeicherten Daten muss nicht nur zur Verfolgung des gesetzlichen Strafverfolgungszwecks Erfolg versprechend sein. Vor allem muss gerade die zu überprüfende Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein; dies ist nicht der Fall, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen. Schließlich muss der jeweilige Eingriff in einem angemessenen Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 96, 44, 51). (Bearbeiter)
10. Der Zugriff auf den gesamten Datenbestand ist nicht erforderlich, wenn die Sicherung der beweiserheblichen Daten auf eine andere, die Betroffenen weniger belastende Weise ebenso gut erreicht werden kann. (Bearbeiter)
11. Die Beschlagnahme sämtlicher Daten oder der gesamten Datenverarbeitungsanlage darf nicht pauschal damit begründet werden, dass eine etwaige Datenverschleierung nicht ausgeschlossen werden könne. Insoweit bedarf es vielmehr einzelfallbezogener Erwägungen. (Bearbeiter)
12. Wenn den Strafverfolgungsbehörden im Verfahren der Durchsicht unter zumutbaren Bedingungen eine materielle Zuordnung der verfahrenserheblichen Daten einerseits oder eine Löschung der verfahrensunerheblichen Daten beziehungsweise deren Rückgabe an den Berechtigten andererseits nicht möglich ist, steht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit der Maßnahme einer Beschlagnahme des gesamten Datenbestands nicht entgegen. Es muss dann aber im jeweiligen Einzelfall geprüft werden, ob der umfassende Datenzugriff dem Übermaßverbot Rechnung trägt. (Bearbeiter)
13. Zwar ist die Regelung eines Anwesenheitsrechts des Inhabers der durchzusehenden Papiere und Daten in § 110 Abs. 3 StPO a.F. durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004 (BGBl I S. 2198) ersatzlos gestrichen worden, gleichwohl kann es zur Sicherung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs im Einzelfall geboten sein, den Inhaber des jeweiligen Datenbestands in die Prüfung der Verfahrenserheblichkeit sichergestellter Daten einzubeziehen. (Bearbeiter)
1. Die Verhängung einer Todesstrafe, die in Friedenszeiten nicht in einem fairen Verfahren gemäß Art. 6 EMRK begründet worden ist, stellt eine unmenschliche Behandlung dar und verletzt Art. 3 EMRK.
2. Die EMRK steht Rechtshilfe nicht per se entgegen, solange diese keine in ihr garantierten Rechte verletzt. Eine Freiheitsentziehung, die ein Konventionsstaat auf
dem Territorium eines anderen Staates vollzieht, stellt einen Eingriff in Art. 5 EMRK dar. Auch eine atypische Auslieferung widerspricht der Konvention jedoch nicht ohne weiteres.
3. Auch wenn die Untersuchung terroristischer Straftaten die Strafverfolgungsbehörden vor besondere Probleme stellt, befreit sie dies nicht von der Beachtung und der effektiven Kontrolle gemäß Art. 5 EMRK.
4. Unter dem Gesichtspunkt der von Art. 6 EMRK garantierten Waffengleichheit hat jede Partei das Recht, ihre Sicht des Falles hinreichend unter Bedingungen darzulegen, die sie nicht gegenüber der anderen Partei benachteiligen. Dabei kommt es auch auf den Eindruck einer Benachteiligung an.
1. Der dingliche Arrest und die auf seiner Grundlage ergehende Pfändung (§§ 111 d, 111 f StPO) sind als staatlicher Zugriff auf das Vermögen am Maßstab des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG zu messen.
2. Wird durch die Sicherungsmaßnahme nahezu das gesamte Vermögen der Verfügungsbefugnis des Betroffenen entzogen, so fordert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine besonders sorgfältige Prüfung und eine eingehende Darlegung der maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der Anordnung (Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juni 2004, WM 2004, 1378, 1379 f.). Es kann jedoch auch ein weniger umfassender Zugriff auf das Vermögen am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit scheitern, wenn die Eingriffsvoraussetzungen in besonders drastischer Weise missachtet wurden.
3. Nicht nur die entsprechenden Normen des Prozessrechts, sondern auch der Schutz des Grundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG verlangen vom Ermittlungsrichter und dem Rechtsmittelgericht, dass sie die tatsächlichen Grundlagen einer Arrestanordnung selbst ermitteln und ihre rechtliche Auffassung unabhängig von der Exekutive gewinnen und begründen. Es müssen die eigene richterliche Prüfung der Voraussetzungen des Eingriffs und die umfassende Abwägung zur Feststellung seiner Angemessenheit mit auf den Einzelfall bezogenen Ausführungen dargelegt werden. Schematisch vorgenommene Anordnungen oder formelhafte Bemerkungen in den Beschlussgründen vertragen sich mit dieser Aufgabe nicht (vgl. BVerfGE 15, 275, 282; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juni 2004, WM 2004, 1378, 1380).
4. Zur Begründung einer Verfallsanordnung oder einer Sicherungsmaßnahme zur Rückgewinnungshilfe gegen einen als Organ einer juristischen Person handelnden Täter bedarf es einer über die faktische Verfügungsgewalt hinausgehenden Feststellung, ob dieser selbst etwas erlangt hat, was zu einer Änderung seiner Vermögensbilanz geführt hat. Eine tatsächliche oder rechtliche Vermutung spricht dafür nicht. Vielmehr bedarf es einer Darlegung der besonderen, den Zugriff auf das Vermögen des Täters rechtfertigenden Umstände.
5. Wird der Vermögensvorteil aus einer Straftat eines als Organ handelnden Täters von der Gesellschaft vereinnahmt, so kann nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden, dass der wirtschaftliche Wert der Geschäftsanteile im Privatvermögen des Täters mit jeder Zahlung oder jeder zurückgewiesenen Forderung steigt oder dass sich der Zufluss auf die Höhe einer späteren Entnahme aus dem Gesellschaftsvermögen jedenfalls auswirkt. In solchen Fällen sind die Verfallsanordnung und die sie sichernden Maßnahmen gegen die Gesellschaft zu richten.