Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Dezember 2004
5. Jahrgang
PDF-Download
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
mit der Dezember-Ausgabe vervollständigen wir den fünften Jahrgang der HRRS. Die Ausgabe widmet sich dabei vor allem auch Fragen des Akteneinsichtsrechts. So befasst sich die Shishkov-Entscheidung des EGMR mit der Akteneinsicht bei der Haftprüfung. Der Aufsatz von Herrn Ref. Stephan Schlegel untersucht das Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten selbst. Mit dem Aufsatz von Herrn Roman G. Weber (LLM) greift die Ausgabe zudem etwa die Frage der strafrechtlichen Einstufung des Phishing auf.
Aus der Rechtsprechung des BGH scheinen insbesondere die Grundsatzentscheidung zur strafrechtlichen Bewertung von Parteispenden und diejenige zur Auslegung des § 129 StGB (Anwendung auf die PKK) hervorhebenswert.
Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion
Karsten Gaede
Wiss. Ass.
1. Eine Haftprüfung im Sinne des Art. 5 Abs. 4 EMRK muss die Anforderungen eines gerichtlichen Verfahrens erfüllen. Sie muss rechtliches Gehör gewähren und stets die Waffengleichheit zwischen den Strafverfolgungsbehörden und dem Inhaftierten wahren. Bei einer Anwendung des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK ist eine Anhörung erforderlich. Die nach Art. 5 Abs. 4 EMRK geführten Verfahren müssen - soweit dies im Rahmen einer laufenden Untersuchung möglich ist - im größtmöglichen Umfang die Grundanforderungen eines fairen Verfahrens erfüllen.
2. Waffengleichheit gemäß Art. 5 Abs. 4 EMRK ist dann nicht gewahrt, wenn dem Verteidiger die Einsicht in diejenigen Dokumente der Untersuchungsakten verweigert wird, die für eine effektive Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft im Sinne der EMRK wesentlich sind. Dabei ist das Konzept der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung im Sinne der EMRK nicht auf die Einhaltung der prozeduralen Erfordernisse des nationalen Rechts beschränkt: Es betrifft auch den grundlegenden hinreichenden Tatverdacht nach der EMRK, die Legitimität des mit der Inhaftierung verfolgten Zwecks und die Begründung für die fortdauernde Inhaftierung gemäß Art. 5 Abs. 3 EMRK.
3. Das Vorliegen eines Tatverdachtes ist eine conditio sine qua non rechtmäßiger Untersuchungshaft, genügt jedoch nach einer gewissen Inhaftierungsdauer nicht mehr aus, um eine Inhaftierung zu rechtfertigen. In solchen Fällen muss der Gerichtshof prüfen, ob andere von den nationalen Behörden aufgeführte Gründe die weitere Freiheitsentziehung rechtfertigen. Sind solche Gründe stichhaltig und ausreichend, muss sich der Gerichtshof vergewissern, dass die zuständigen nationalen Behörden die gebotene besondere Sorgfalt bei der Verfahrensführung aufgewendet haben.
4. Die Begründung der fortdauernden Untersuchungshaft kann nicht allein auf einer an der Schwere des Delikts ansetzenden Vermutung beruhen, selbst wenn die Mög-
lichkeit zur Darlegung des Ausschlusses einer abstrakten Gefahr der Flucht, der Wiederholung oder der Verdunkelung besteht. Vielmehr muss eine Begründung auf der Grundlage einer konkreten Fallanalyse hinsichtlich der möglichen Gefahren der Flucht oder der Wiederholung erfolgen.
5. Die Verletzung des Art. 5 Abs. 3 EMRK kann auch bei vergleichsweise kurzen Inhaftierungszeiträumen festgestellt werden (hier: sieben Monate und drei Wochen). Art. 5 Abs. 3 EMRK kann nicht so ausgelegt werden als toleriere er eine unbegründete Untersuchungshaft solange, wie sie nicht ein bestimmtes zeitliches Minimum überschreitet. Die zuständigen Stellen müssen jede einzelne Phase der Inhaftierung überzeugend begründen, unbeschadet der Frage, wie kurz diese Phase gewesen ist.
1. Die Vorschriften über die regelmäßige Überprüfung der weiteren Vollstreckung der Sicherungsverwahrung (§ 67d Abs. 2 und 3 und § 67e StGB), über die dazu regelmäßig erforderliche Anhörung des Betroffenen (§§ 463 Abs. 1, 454 Abs. 1 StPO) und über die zur Vorbereitung einer in Erwägung gezogenen Aussetzung gebotene sachverständige Begutachtung (§§ 463 Abs. 1, 454 Abs. 2 StPO) dienen der Wahrung des Übermaßverbotes bei der Beschränkung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Ihre Missachtung kann dieses Grundrecht verletzen, wenn es sich um eine nicht mehr vertretbare Fehlhaltung gegenüber dem das Grundrecht sichernden Verfahrensrecht handelt, die auf eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts schließen lässt (vgl. BVerfGE 18, 85, 93; 72, 105, 114 f.).
2. Der Geschäftsgang der Strafvollstreckungskammer muss in der Verantwortung entweder des Vorsitzenden oder eines Berichterstatters eine Fristenkontrolle vorsehen, die die Vorbereitung einer rechtzeitigen Entscheidung vor Ablauf der Zweijahresfrist sicherstellt. Dabei muss berücksichtigt werden, dass in aller Regel der Betroffene persönlich anzuhören ist und dass auch für eine sachverständige Begutachtung ausreichend Zeit verbleibt, wenn die Kammer eine Aussetzung der weiteren Vollstreckung erwägen sollte.
3. Ein zu einer Grundrechtsverletzung führender Verfahrensverstoß liegt nicht bereits in jeder Verzögerung des Geschäftsablaufs, die zu einer Überschreitung der Frist führt.
4. Ist eine im Gesetz vorgesehene, der verfahrensrechtlichen Absicherung des Freiheitsgrundrechts dienende Entscheidungsfrist einzuhalten, so sind Vorkehrungen zu treffen, die das Einhalten dieser Frist auch bei gleichzeitiger Bearbeitung eines Rechtsmittels ermöglichen. Dazu sind erforderlichenfalls auch die Verfahrensakten vor Übersendung an das Rechtsmittelgericht abzulichten, um auch das Verfahren ohne Verzug fortsetzen zu können.
5. Die Einhaltung der gesetzlich ausdrücklich vorgesehenen Frist (§ 67e StGB) ist sicherzustellen. Sobald abzusehen ist, dass trotz vollständigen Ausschöpfens der Arbeitskraft der beteiligten Richter die Fristwahrung in Gefahr gerät, muss sich der Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer an das Präsidium des Gerichts wenden, damit dieses, gegebenenfalls mit Unterstützung durch die Landesjustizverwaltung, für Abhilfe sorgen kann. Der Grundrechtsschutz der von langjähriger Freiheitsentziehung Betroffenen erfordert auch Maßnahmen der Personalführung, die eine effiziente Arbeit der Strafvollstreckungskammern sicherstellen.
6. Eine Untätigkeitsbeschwerde ist unter Umständen nicht nur dann zulässig, wenn die Untätigkeit einer endgültigen Ablehnung einer Entscheidung gleichsteht. Ein ähnliches Gewicht kann auch der grundlosen Missachtung einer zur verfahrensrechtlichen Absicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG vorgesehenen Frist zukommen.
7. Das mit dem Maßregelvollzug verfolgte Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen tritt noch nicht zurück, wenn das grundrechtlich gebotene Verfahren erst um einige Monate verzögert wurde.