HRR-Strafrecht

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2003
4. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser der HRR-Strafrecht,

im Zentrum der Dezember-Ausgabe steht die Maßregel des § 69 StGB. Mit dem Aufsatz von Herrn wiss. Mit. Ulf Buermeyer finden sie den letzten Stand des vom vierten Strafsenat eingeleiteten Anfrageverfahrens erläutert. Gemeinsam mit den in der Ausgabe publizierten Entscheidungen des zweiten und des fünften Strafsenats dürfte der Aufsatz die Erkenntnis bringen, dass sich der vierte Strafsenat zu Recht durchsetzen wird.

Zum transnationalen Strafrecht ragt die aufgenommene EGMR-Entscheidung Ezeh u. Connors v. Großbritannien aber auch die BVerfG-Entscheidung zur Auslieferung von "Terroristen" in die USA heraus. Materiellrechtlich sollten Sie insbesondere die Entscheidungen des ersten Strafsenats zum "Vermögensverlust besonderen Ausmaßes" aufnehmen. Im Prozessrecht hat u.a. der fünfte Strafsenat - dem Grundsatz nach - der prinzipiellen Unwirksamkeit des auf einer unzulässigen Verfahrensabsprache beruhenden Rechtsmittelverzichtes zugestimmt.

Ich wünsche Ihnen für die Redaktion eine schöne Weihnachtszeit! Verleben Sie angenehme Tage und kommen Sie gut in das Jahr 2004, in dem wir Ihnen nach wie vor behilflich sein wollen.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede Wiss. Ass.


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

EGMR Nrn. 39665/98 u. 40086/98 - Urteil vom 9. Oktober 2003 (Ezeh und Connors v. Großbritannien; Große Kammer des EGMR)

Recht auf ein faires Verfahren (Begriff der strafrechtlichen Anklage; Anwendbarkeit bei Disziplinarverfahren: Disziplin in Haftanstalten, Vertrauensschutz, besonderes Gewaltverhältnis, immanente Schranken; mixed-offences; alternative und kumulative Anwendung der Engel-Kriterien: Einstufung im nationalen Recht, Natur des Tatvorwurfs und Schwere der drohenden Sanktion; autonome Auslegung; nicht unerhebliche Freiheitsentziehung bei Strafgefangenen; materiale / wirklichkeitsbezogene Prüfung des EGMR und Formalismus; Anwendung bei leichten Straftaten); Recht auf Verteidigerbeistand; Entscheidungsumfang bei einer Vorlage an die Große Kammer; Freiheit der Person.

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK; Art. 5 EMRK; Art. 43 Abs. 2 EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG

1. Bei der autonomen Auslegung der strafrechtlichen Anklage im Sinne des EMRK sind die Einstufung der Verfehlung im nationalen Recht, die Natur des Tatvorwurfs sowie die Art und Schwere der drohenden Sanktion entscheidende Kriterien (so gen. Engel-Kriterien).

2. Die Engel-Kriterien begründen alternativ und nicht nur kumulativ die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK. Eine kumulative Begründung für den Fall, dass die separate Analyse der Kriterien kein eindeutiges Ergebnis ergibt, ist daneben jedoch nicht ausgeschlossen.

3. Die Engel-Kriterien sind auch dann anzuwenden, wenn die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK bei Verfahren geprüft wird, in denen Verfehlungen innerhalb von Strafanstalten geahndet werden. Dabei ist den besonderen Erfordernissen von Haftanstalten Rechnung zu tragen, die jedoch überzeugend dargelegt werden müssen.

4. Wird infolge der Verfehlung einer Person die Freiheit entzogen, spricht eine widerlegbare Vermutung dafür, dass eine strafrechtliche Anklage vorliegt. Zur Anwendung des Kriteriums der Art und Schwere der Sanktion bei einer Freiheitsentziehung gegenüber einem bereits rechtmäßig inhaftierten Strafgefangenen.


Entscheidung

BVerfG 2 BvR 2118/01 - 7. Oktober 2003 (3. Kammer des Zweiten Senats)

Dolmetscherkosten (Postüberwachung; Übersetzung privater Schreiben; Besuchsüberwachung; Untersuchungshaft); Begrenzung des Umfanges des Briefverkehrs in der U-Haft; Übersetzungskosten bei Telefonüberwachungsmaßnahmen; Benachteiligungsverbot (Benachteiligung wegen der Sprache; faktische Benachteiligung); Grundsätze fairen Verfahrens (Subjektstellung).

Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK; § 119 StPO; § 464 StPO; § 464 a StPO; § 464 c StPO

1. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG steht der Schlechterstellung von in Untersuchungshaft befindlichen fremdsprachigen Angeklagten bei den Kosten der Briefkontrolle und Besuchsüberwachung grundsätzlich entgegen.

2. Bei den Benachteiligungsverboten des Art. 3 Abs. 3 kommt es ebenso wie bei der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes auf die materiellen Wirkungen einer Regelung in der Wirklichkeit an. Auch faktische Benachteiligungen werden somit erfasst. Auch mangelnde Sprachkenntnisse können grundsätzlich dem Diskriminierungsverbot unterfallen.

3. Da der Besuchsverkehr eines Untersuchungsgefangenen unabhängig davon, ob ein Dolmetscher hinzuzuziehen ist, bereits aus Gründen der Anstaltssicherheit und -ordnung einer starken Reglementierung unterliegt, dürfen mangelnde Sprachkenntnisse des Inhaftierten nicht noch zu einer noch weiter gehenden Einschränkung des Besuchsrechts führen. Die im Zusammenhang mit dem Besuchsrecht für Übersetzungsleistungen anfallenden Kosten sind somit regelmäßig vom Staat zu übernehmen. Gleiches gilt für Briefe des inhaftierten Beschuldigten. Dabei ist der Umfang der anfallenden Übersetzungskosten die vom Staat zu tragen sind. eine Frage des Einzelfalls und darf nicht generell zu einer Begrenzung etwa von einem Brief pro Woche führen.

4. Das Recht auf ein faires Verfahren verbietet es, den der deutschen Sprache nicht oder nicht hinreichend mächtigen Beschuldigten zu einem unverstandenen Objekt des Verfahrens herabzuwürdigen; er muss in die Lage versetzt werden, die ihn betreffenden wesentlichen Verfahrensvorgänge zu verstehen und sich im Verfahren verständlich machen zu können (vgl. BVerfGE 64, 135, 145).

5. Die Verfassung und Art. 6 Abs. 3 EMRK gebieten es nicht, dass jedwede Inanspruchnahme von Dolmetschern im Strafverfahren für den Beschuldigten kostenlos sein muss. Es ist daher zulässig, dem Beschuldigten die für die Übersetzung von Telefonmitschnitten einer Telefonüberwachung angefallenen Dolmetscherkosten aufzuerlegen.

6. Da Art. 3 Abs. 3 GG keinen Gesetzesvorbehalt aufweist, wird der Gesetzgeber nicht zu Einschränkungen des Grundrechts ermächtigt. Möglich ist aber eine Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht (BVerfGE 85, 191, 209; 92, 91, 109). Bei der Untersuchungshaft kommt als Einschränkung die Sicherung der Verfahrensdurchführung in Betracht.

7. Sinn und Zweck der in Art. 6 Abs. 3 MRK enthaltenen Regelung ist es, dem fremdsprachigen Angeklagten Mindestrechte zu gewährleisten, um ihm die Beteiligung an der auf Deutsch geführten Verhandlung zu ermöglichen.


Entscheidung

BVerfG 2 BvR 1243/03 - Beschluss vom 5.11.2003 (Zweiter Senat)

Auslieferung in die Vereinigten Staaten zum Zwecke der Strafverfolgung ( USA; Jemen; Unterstützung terroristischer Vereinigungen: Al-Qaida und Hamas); Völkergewohnheitsrecht; Internationale Rechtshilfe; Lotus-Fall; Zweifel ob eine Regel des Völkerrechtes Bestandteil

des Bundesrechtes ist; (Vorlagepflicht; Entscheidungserheblichkeit; Abweichen von Entscheidungen hoher deutscher, ausländischer oder internationaler Gerichte; gesetzlicher Richter); Lockspitzel (Strafverfolgungshindernis; Auslieferungshindernis); Zurechnung von Handlungen Privater; faires Verfahren (Einsatz von V-Leuten beim Verdacht auf terroristische Straftaten).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 100 Abs. 2 GG; Art. 25 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 103 Abs. 1 und 2 GG; Art. 5 EMRK; Art. 6 EMRK.

1. Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den einzelnen Fall ist grundsätzlich Sache der dafür zuständigen Fachgerichte (stRspr). Auch in Auslieferungsverfahren prüft das Bundesverfassungsgericht insoweit nur, ob die Rechtsanwendung oder das dazu eingeschlagene Verfahren unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht.

2. Im Falle einer völkervertraglich geregelten Auslieferung wird der Tatverdacht im Auslieferungsverfahren grundsätzlich nicht überprüft. Ausnahmen von diesem Grundsatz sind nur in besonders gelagerten Fällen gerechtfertigt. Eine Prüfung des Tatverdachtes ist unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshof zu § 10 Abs. 2 IRG jedoch dann zulässig und geboten, wenn das Auslieferungsersuchen missbräuchlich erscheine oder dem Betroffenen im ersuchenden Staat ein rechtsstaatswidriges Verfahren drohe (BGHSt 32, 314).

3. Der Betroffene kann seinem gesetzlichen Richter grundsätzlich auch durch das Unterlassen einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 2 GG entzogen werden. Eine Nichtvorlage verletzt das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, sofern eine Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 2 GG geboten gewesen wäre (vgl. BVerfGE 18, 441, 447 f.).

4. Legt ein Gericht entgegen Art. 100 Abs. 2 GG bei objektiv bestehenden Zweifeln hinsichtlich der Existenz und des Inhalt einer allgemeinen Regel des Völkerrechts dem Bundesverfassungsgericht die Rechtsfrage nicht zur Klärung vor, obwohl die Klärung dieser Zweifel entscheidungserheblich sind, stellt es keinen Verstoß gegen das Prinzip des gesetzlichen Richters dar, wenn die angegriffene Entscheidung nicht auf einer Verletzung der Vorlagepflicht beruht.

5. Nicht das erkennende Gericht, sondern nur das Bundesverfassungsgericht hat die Befugnis, vorhandene Zweifel aufzuklären ob und mit welchem Inhalt eine Regel des Völkerrechtes gemäß Art. 25 Satz 1 GG Bestandteil des Bundesrechts ist. Es kommt für die Vorlagepflicht bei entscheidungserheblichen Zweifeln nicht darauf an, ob das Fachgericht selbst Zweifel hat (vgl. BVerfGE 15, 25, 30; 96, 68, 77; stRspr), sondern es ist ausreichend, dass das Fachgericht auf ernstzunehmende Zweifel stößt. Dies ist der Fall, wenn das Gericht mit seiner Entscheidung von der Meinung eines Verfassungsorgans, von den Entscheidungen hoher deutscher, ausländischer oder internationaler Gerichte oder von den Lehren anerkannter Autoren der Völkerrechtswissenschaft abweichen würde (vgl. BVerfGE 23, 288, 319; 96, 68, 77).

6. Die Gebietshoheit eines Staates, die Ausdruck seiner Souveränität ist, verbietet grundsätzlich das hoheitliche Tätigwerden anderer Staaten oder Träger hoheitlicher Gewalt auf dem Territorium des betroffenen Staates. Dabei kann das Handeln von Privatpersonen einem Staat zugerechnet werden, wenn etwa die Handlung von diesem gesteuert wird.

7. Unter bestimmten Voraussetzungen kann eine Staatenverantwortlichkeit auch durch die Unterstützung der völkerrechtswidrigen Handlung Dritter begründet werden.

8. Eine allgemeine Regel des Völkerrechts, wonach niemand ausgeliefert werden dürfe, der aus seinem Heimatstaat zwecks Umgehung des dortigen Auslieferungsverbotes mit List in den ersuchten Staat gelockt worden ist, und dessen Ausreise auf einem freien Willensentschluss beruht, besteht nicht.

9. Bei den allgemeinen Regeln des Völkerrechts handelt es sich in erster Linie um universell geltendes Völkergewohnheitsrecht, ergänzt durch anerkannte allgemeine Rechtsgrundsätze (vgl. BVerfGE 15, 25, 32 ff.; 23, 288, 317). Völkergewohnheitsrecht ist der Brauch, hinter dem die Überzeugung rechtlicher Verpflichtung steht ("usage generally accepted as expressing principles of law" (IGR PCIJ Series A 10 [1927], 18 - Lotus-Fall) Die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht ist an zwei Voraussetzungen geknüpft: erstens an das zeitlich andauernde und möglichst einheitliche Verhalten unter weit gestreuter und repräsentativer Beteiligung von Staaten und anderen, rechtssetzungsbefugten Völkerrechtssubjekten; zweitens an die hinter dieser Übung stehende Auffassung, "im Rahmen des völkerrechtlich Gebotenen und Erlaubten oder Notwendigen zu handeln" (opinio iuris sive necessitatis, vgl. BVerfGE 66, 39, 64 f.; 96, 68, 86 f.).

10. Das Bundesverfassungsgericht ermittelt die Existenz und Tragweite allgemeiner Regeln im Sinne des Art. 25 GG, indem es die einschlägige Staatenpraxis heranzieht (vgl. BVerfGE 94, 315, 332). Zu diesem Zweck stellt das Gericht auf das Verhalten der für den völkerrechtlichen Verkehr nach internationalem oder nationalem Recht zuständigen Staatsorgane ab; das werden in der Regel die Regierung oder das Staatsoberhaupt sein. Die Staatenpraxis kann sich daneben aber auch aus den Akten anderer Staatsorgane wie solchen des Gesetzgebers oder der Gerichte ergeben, soweit ihr Verhalten unmittelbar völkerrechtlich erheblich ist (vgl. BVerfGE 46, 342, 362 ff.).

11. Zwar gilt im Grundsatz weiter, dass richterliche Entscheidungen, wie auch völkerrechtliche Lehrmeinungen, nur als Hilfsmittel für die Ermittlung von Völkergewohnheitsrecht heranzuziehen sind (vgl. BVerfGE 96, 68, 87), jedoch ist bei der Ermittlung der Staatenpraxis den neueren Rechtsentwicklungen auf internationaler Ebene Rechnung zu tragen.

12. Der Schutz hochrangiger Rechtsgüter, der auf internationaler Ebene in den letzten Jahren intensiviert wurde, kann geeignet sein, eine mit dem Einsatz von List möglicherweise einhergehende Verletzung der Personalhoheit eines Staates zu rechtfertigen (vgl. International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, Prosecutor v. Dragan Nikolic, a.a.O., Ziff. 26). Soweit es um die Bekämpfung schwerster Straftaten - etwa die Förderung internationalen Drogenhandels oder des Terrorismus - geht, wird das listige Herauslocken aus der Gebietshoheit eines Staates jedenfalls nicht in dem für den Nachweis einer Staatenpraxis erforderlichen Umfang als Strafverfolgungshindernis gesehen. Für das Bestehen eines Auslieferungshindernisses kann nichts anderes gelten.

13. Der Einsatz von V-Leuten zur Verhinderung oder Aufklärung von Straftaten mit terroristischem Hintergrund begegnet grundsätzlich keinen Bedenken im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel (vgl. zur Verfolgung besonders gefährlicher und schwer aufklärbarer Kriminalität insbesondere im Rauschgifthandel BVerfGE 57, 250, 284; BGHSt 32, 115, 121 f.; 41, 42 ff.).


Entscheidung

BVerfG 2 BvR 1337/03 - Beschluss vom 25. September 2003 (3. Kammer des Zweiten Senats)

Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Schutz vor der Belastung naher Angehöriger; Selbstbelastungsfreiheit; nemo tenetur); Zeuge; Zeugnisverweigerungsrecht; Beweisverwertungsverbot; Anspruch auf ein faires Verfahren (Wahrheitsermittlung im Strafprozess; Beziehung zum Schuldprinzip / der Menschenwürde).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 52 StPO; § 252 StPO

1. Dem Strafprozess ist von Verfassungs wegen die Aufgabe gestellt, das aus der Würde des Menschen als eigenverantwortlich handelnder Person abgeleitete Prinzip, dass keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf (vgl. BVerfGE 20, 323, 331), zu sichern und entsprechende verfahrensrechtliche Vorkehrungen bereitzustellen. Als ein zentrales Anliegen des Strafprozesses erweist sich daher die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann. Der Anspruch des Angeklagten auf ein faires Verfahren kann durch verfahrensrechtliche Gestaltungen berührt werden, die der Ermittlung der Wahrheit und

somit einem gerechten Urteil entgegenstehen (BVerfGE 57, 250, 275).

2. Dem Interesse des Beschuldigten auf Ermittlung der materiellen Wahrheit kann das allgemeine Persönlichkeitsrecht des verwandten Zeugen gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG entgegenstehen. Es umfasst nicht nur die in § 52 StPO einfachrechtlich geregelte Freiheit, ein Zeugnis betreffend eines nahen, im Strafverfahren beschuldigten Angehörigen verweigern zu können, sondern auch die Option des verwandten Zeugen, bereits getätigte Aussagen gemäß § 252 StPO dem Strafverfahren wieder zu entziehen.

3. Ein Zwang, aktiv zur Überführung eines Angehörigen beizutragen, ist mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Zeugen ebenso unvereinbar wie ein gegen den Zeugen geübter Zwang zur Selbstbelastung

4. § 252 StPO gewährt dem angehörigen Zeugen nicht nur die Möglichkeit, eine wahrheitsgemäße belastende Aussage zurückzunehmen, sondern auch die Option, von einer unwahren entlastenden Aussage Abstand zu nehmen, ohne nachteilige Folgen befürchten zu müssen. Würde man die günstige Zeugenaussage vom Regelungsgehalt des § 252 StPO ausnehmen, so wäre der Zeuge später vor Gericht nicht mehr frei, sich dem Konflikt zwischen der Belastung eines nahen Angehörigen und seiner Wahrheitspflicht als Zeuge zu entziehen.

5. § 252 StPO ist nicht nur als Verlesungs-, sondern als Verwertungsverbot aufzufassen, das auch jede andere Verwertung der bei einer nichtrichterlichen Vernehmung gemachten Aussage, insbesondere die Vernehmung von Verhörspersonen, ausschließt (vgl. BGHSt 2, 99, 102; 36, 384, 387).


Entscheidung

BVerfG 2 BvR 1497/03 - 9. Oktober 2003 (3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts)

Auslieferung; Vollzugszwecke (Resozialisierung; Verwirklichung mit ausreichender Wahrscheinlichkeit); Gleichheitssatz (allgemeiner; spezieller; Differenzierung nach Staatsangehörigkeit).

Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG; § 57 Abs. 2 StGB § 456a StPO

1. Weder § 57 Abs. 2 StGB noch § 456a StPO verstoßen gegen den speziellen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG, da sie an keines der in dieser Vorschrift genannten Merkmale anknüpfen.

2. § 456a StPO verletzt nicht den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) denn die Vorschrift dient der Entlastung des Strafvollzuges von wenig sinnvollen Resozialisierungs- und Sicherungsbemühungen gegenüber Verurteilten, die für die Allgemeinheit keine ernste Gefahr darstellen können, weil sie demnächst ausgeliefert oder ausgewiesen werden. Bei Verurteilten, die nicht verpflichtet werden können, Deutschland zu verlassen, ist hingegen darauf zu achten, dass die Vollzugszwecke mit ausreichender Wahrscheinlichkeit erreicht sind, wenn die Vollstreckung eines Teils der verhängten Freiheitsstrafe ausgesetzt werden soll.