HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 252
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH HRRS 2024 Nr. 252, Rn. X
1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bonn vom 20. Januar 2023 werden verworfen.
2. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
3. Die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Störung der Totenruhe zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Dagegen richten sich die Revision des Angeklagten und die wirksam auf den Strafausspruch beschränkte, zum Nachteil des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft jeweils mit der Sachrüge. Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der 1983 in Marokko geborene Angeklagte lebte dort ab dem siebten Lebensjahr als Straßenkind. Mit etwa zwölf Jahren kam er illegal nach Spanien, etwa zwei Jahre später nach Frankreich, bevor er etwa 18 Monate später in Deutschland einreiste. Seitdem befand sich der vielfach vorbestrafte Angeklagte entweder in einer Haftanstalt, in Wohnheimen für Obdachlose bzw. Flüchtlinge oder er lebte auf der Straße.
Nach seiner letzten Haftentlassung am 14. Dezember 2021 nahm der Angeklagte nicht unter der ihm zugewiesenen Adresse seinen Wohnsitz, sondern zog die Obdachlosigkeit vor. Er freundete sich mit H. an, der ebenfalls obdachlos war. Beide verbrachten die Tage miteinander, konsumierten gemeinsam Betäubungsmittel und suchten dieselben Nachtlager auf. Außenstehende betrachteten die beiden als einträchtige Schicksalsgemeinschaft; einen Streit beobachtete keiner der Zeugen.
Im Frühjahr 2022 schlugen der Angeklagte und H. ihr gemeinsames Nachtlager regelmäßig in einem Bereich einer parkartigen Grünanlage im Stadtzentrum von B. auf. Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt zwischen dem 27. Juni 2022, 0:00 Uhr, und dem Nachmittag des 28. Juni 2022 starb H. in seinem Schlafsack liegend an den Folgen einer Tuberkulose. Eine Person, deren Identität das Landgericht nicht festzustellen vermochte, trennte den Kopf des verstorbenen H. mit einem unbekannten Werkzeug mit mehreren Schnitten durch den vierten Halswirbel vom Rumpf.
Am 28. Juni 2022 begab sich der Angeklagte um 17:16 Uhr in B. zum Haupteingang des Amts- und Landgerichts, der zu jenem Zeitpunkt bereits verschlossen war. Dort nahm er den Kopf des H. aus der mitgeführten Einkaufstasche und legte ihn so vor die Eingangstür, dass dessen Gesicht zur Straße gerichtet war. Dem Angeklagten war bewusst, dass alsbald zahlreiche Passanten dem verstorbenen H. ins Gesicht und in die weit geöffneten Augen schauen und auch das Innere des abgetrennten Halses sehen konnten, wodurch sie nachhaltig schockiert und in ihrem Pietätsgefühl verletzt werden würden. Weiter erkannte der Angeklagte, dass das Ablegen des abgetrennten Kopfes an dem beschriebenen, belebten Ort als Akt der Verachtung der Menschenwürde im Allgemeinen und des Verstorbenen im Besonderen verstanden werden würde. All dies nahm er zumindest billigend in Kauf.
Er verließ sodann den Eingangsbereich des Gerichtsgebäudes, kehrte jedoch gegen 17:27 Uhr zurück und setzte sich auf die Treppenstufen vor dem Eingang eines schräg gegenüber dem Eingangsbereich des Amts- und Landgerichts liegenden Wohnhauses. Der Kopf wurde in der Folge von mehreren Passanten, auch Kindern, wahrgenommen, woraufhin eine Person die Polizei verständigte. Unterdessen verfolgte der Angeklagte das Geschehen ruhig und aufmerksam und nahm die schockierten Reaktionen der Passanten auf den Anblick des abgetrennten Kopfes aufmerksam wahr. Um 17:47 Uhr trafen zwei Polizeibeamte vor dem Eingang des Landgerichtsgebäudes ein. Als der Angeklagte diese bemerkte, erhob er sich von seinem Beobachtungsposten, überquerte sicheren Schrittes die Straße und ging auf die Beamten zu. Ruhig trat er an einen Polizeibeamten heran und sagte: „Ich habe den Kopf dort abgelegt.“
2. Das Landgericht vermochte nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit festzustellen, dass der im weiteren Verlauf des Ermittlungs- und Strafverfahrens schweigende Angeklagte diejenige Person war, die den Kopf des H. vom Rumpf abgetrennt hatte.
Primärbeweisquellen stünden nicht zur Verfügung. Soweit sich auf einem Schuh und der Kleidung des Angeklagten dem Toten zuzuordnende minimale Blutflecken befunden hätten, lasse dies nicht den Schluss zu, dass der Angeklagte auch diejenige Person war, die den Kopf abgetrennt habe: Zum einen könnten die Blutspuren auch beim Transport des Kopfes zum Gerichtsgebäude, beim Herausholen des Kopfes aus der Einkaufstasche oder beim Ausrichten des Gesichts des Verstorbenen zur Straße entstanden sein. Zum anderen ließen die beim Torso im Schlafsack gefundenen Blutmengen es naheliegend erscheinen, dass beim Abtrennen des Kopfes jedenfalls so viel Blut ausgetreten war, dass auf der Kleidung des Täters ein anderes Spurenbild (viel mehr Blut) zu erwarten gewesen wäre.
Zwar spräche viel dafür, dass der Angeklagte angesichts des gemeinsamen Nachtlagers mit hoher Wahrscheinlichkeit die Person war, die den Tod des H. zuerst bemerkt und die Gelegenheit hatte, den Kopf abzuschneiden. Zudem habe der Angeklagte den Kopf in seinem Besitz gehabt. Allerdings seien beide befreundet gewesen. Niemand habe jemals einen Streit der beiden bemerkt. Das Motiv des Angeklagten für ein solches Handeln sei völlig rätselhaft.
Aus der Absonderlichkeit des feststellbaren Verhaltens des Angeklagten, nämlich dem Ablegen des Kopfes vor dem Gerichtsgebäude, lasse sich nicht der zweifelsfreie Schluss ziehen, dass er den Kopf zuvor auch abgetrennt hatte. Denn es sei weder ein Motiv für das Abtrennen des Kopfes noch ein Motiv für das Ablegen ersichtlich. Zu berücksichtigen sei auch, dass der Sachverständige zu dem Schluss gekommen sei, dass das Verhalten des Angeklagten nicht Ausdruck einer psychischen Erkrankung gewesen sei.
Zwar mute es unwahrscheinlich an, dass eine andere Person als der Angeklagte den Kopf des verstorbenen H. abgetrennt haben könnte. Allerdings habe zwischen dem frühestmöglichen Todeszeitpunkt des H. am 27. Juni 2022 um 0:00 Uhr und dem Zeitpunkt des Ablegens des Kopfes vor dem Gerichtsgebäude ein Zeitraum von bis zu 41 Stunden gelegen. Angesichts dieses langen Zeitraums vermochte das Landgericht nicht auszuschließen, dass eine andere Person als der Angeklagte den Leichnam in der öffentlichen Parkanlage gefunden und dessen Kopf abgetrennt hatte.
Die Revision des Angeklagten ist unbegründet.
1. Der Schuldspruch wegen Störung der Totenruhe gemäß § 168 Abs. 1 StGB weist keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.
a) Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte vorsätzlich beschimpfenden Unfug an der Leiche des H. verübt. Das Verüben beschimpfenden Unfugs bedeutet ein im Angesicht eines Toten durch ein besonderes Maß an Pietätlosigkeit und Rohheit gekennzeichnetes Verhalten, mit dem der Täter seine Verachtung des Toten zum Ausdruck bringt, wobei er sich des beschimpfenden Charakters seiner Handlung bewusst ist (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Februar 1981 - 1 StR 834/80, NStZ 1981, 300; Schönke/ Schröder/Bosch/Schittenhelm, StGB, 30. Aufl., § 168 Rn. 10).
Indem der Angeklagte den abgetrennten Kopf des Verstorbenen öffentlich zur Wahrnehmung einer Vielzahl von Passanten ablegte, setzte er sich über die bestehenden Regeln des Umgangs mit verstorbenen Menschen hinweg und missachtete das postmortale Persönlichkeitsrecht des Verstorbenen in erheblich pietätloser und roher Weise. Auch wenn das Landgericht ein Motiv für die Tat nicht erkennen konnte, so ist vor dem Hintergrund des gezielten Verhaltens des Angeklagten, der außerdem den Kopf des Verstorbenen mit dessen geöffneten Augen zur Straße platzierte, die Feststellung des Landgerichts rechtsfehlerfrei, dass er zumindest mit bedingtem Vorsatz handelte.
b) Die Schuldfähigkeitsbeurteilung des Landgerichts, wonach der Angeklagte bei Tatbegehung voll schuldfähig war, hält ebenfalls rechtlicher Überprüfung stand. Das sachverständig beratene Landgericht hat sämtliche Möglichkeiten erwogen, aufgrund derer eine Verminderung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit angenommen werden kann. Dabei hat es die Persönlichkeit des Angeklagten und die Tatausführung umfassend gewürdigt und ist rechtsfehlerfrei zu dem Schluss gelangt, dass das bizarre Verhalten des Angeklagten kein Ausdruck einer Erkrankung oder des Einflusses des geringen Konsums von Betäubungsmitteln war.
2. Auch der Strafausspruch weist keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.
Die Revision der Staatsanwaltschaft ist ebenfalls unbegründet. Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei dargelegt, warum es nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit feststellen konnte, dass der Angeklagte diejenige Person war, die den Kopf des H. vom Rumpf abgetrennt hatte.
1. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO); die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind. Rechtsfehlerhaft ist eine Beweiswürdigung aber auch, wenn der Tatrichter an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt und nicht beachtet hat, dass eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende und von niemandem anzweifelbare Gewissheit nicht erforderlich ist; denn für eine Verurteilung genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zulässt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 12. Juli 2017 - 1 StR 535/16; vom 12. Januar 2017 - 1 StR 360/16; vom 11. Mai 2017 - 4 StR 554/16; vom 21. November 2017 - 1 StR 261/17). Dabei ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 27. September 2017 - 2 StR 146/17, NStZ-RR 2017, 383; vom 22. September 2016 - 2 StR 27/16; vom 30. Juli 2020 - 4 StR 603/19, NStZ 2021, 116; vom 10. November 2021 - 5 StR 127/21). Zweifel, welche sich als bloße Vermutungen ohne gesicherte Tatsachengrundlagen erweisen, sind theoretischer Natur in diesem Sinn. Was völlig abseits liegt, darf und muss außer Betracht bleiben (BGH, Urteil vom 16. Februar 2022 - 2 StR 399/21, NStZ-RR 2022, 146).
2. Gemessen daran liegt ein Rechtsfehler nicht vor. Insbesondere hat das Landgericht die Anforderungen an die Überzeugungsbildung nicht überspannt.
Soweit die Staatsanwaltschaft darauf abstellt, es liege außerhalb jeglicher Lebenserfahrung, dass eine andere Person als der Angeklagte den Kopf abgetrennt haben könnte, ist es zwar zutreffend, dass das Abtrennen eines Kopfes eine ungewöhnliche Handlung ist. Allerdings war der leblose Körper nach den Feststellungen des Landgerichts bis zu 41 Stunden in einem Bereich öffentlich zugänglich, der von Obdachlosen genutzt wird. Außerdem ergab das Blutspurenbild kein Indiz für ein Abtrennen des Kopfes durch den Angeklagten, weshalb es nicht völlig abseits liegt, dass eine andere Person den Kopf abgetrennt hat.
Das Landgericht hat im Übrigen ausdrücklich gewürdigt, dass der Angeklagte weder hinsichtlich des Abtrennens noch hinsichtlich der Ablage des Kopfes ein Motiv hatte und dabei das freundschaftliche Verhältnis zwischen dem Angeklagten und dem Verstorbenen in seine Beweiswürdigung eingestellt.