HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2013
14. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Zur Reichweite der unionsrechtskonformen Auslegung im deutschen Straf- und Strafverfahrensrecht am Beispiel der "Spector Photo Group"-Entscheidung des EuGH

Zugleich Anmerkung zu EuGH C-45/08 (Spector) HRRS 2010 Nr. 2

Von Moritz Begemeier, Bucerius Law School, Hamburg

I. Einleitung

Das Schlagwort der Europäisierung steht heute in fast allen Rechtsgebieten im Zentrum des Interesses.[1] Auch das Strafrecht ist von dieser Entwicklung nicht ausgenommen. [2] Da der Union im Bereich des Straf- und Strafverfahrensrechts bisher nur zögerlich Regelungskompetenzen übertragen werden,[3] ist der Großteil des "europäisierten nationalen Strafrechts" [4] auf die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung zurückzuführen. [5] Dieses Gebot fordert, bei der Auslegung des nationalen Rechts auch das Unionsrecht zu berücksichtigen.[6] Mit der zunehmenden europäischen Regelungsdichte wächst deshalb auch der Einfluss des Unionsrechts auf das Strafrecht. Das gilt besonders für das Wirtschaftsstrafrecht, da die wirtschaftlichen Ge- und Verbote, an die wirtschaftsstrafrechtliche Blanketttatbestände anknüpfen, ihrerseits häufig durch Unionsrecht beeinflusst werden.[7]

Auf Grund dieser Entwicklung ist die Auslegung des Strafrechts mehr und mehr durch ein Spannungsverhältnis gekennzeichnet. [8] Sie muss einerseits die Vorgaben des Unionsrechts berücksichtigen und andererseits den Bestimmungen des Verfassungsrechts Rechnung tragen. Dass dies zu Wertungswidersprüchen führen kann, wurde jüngst am Beispiel der "Spector Photo Group" Entscheidung des EuGH zum Insiderhandelsverbot deutlich. [9] In dieser Entscheidung hat der EuGH den Begriff "Nutzung" einer Insiderinformation i.S.v. Art. 2 Abs. 1 RL  2003/6/EG [10] ausgelegt und sich dabei zu den Voraussetzungen einer Nutzung sowie zu deren Beweisbarkeit geäußert.[11] Da zahlreiche Anmerkungen die Entscheidung als unvereinbar mit grundlegenden Prinzipien des deutschen Straf- und Strafverfahrensrechts kritisieren, [12] ist die Frage, ob die Rechtsprechung des EuGH wegen der Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung für das deutsche Recht maßgeblich ist, von einiger Brisanz. Vor diesem Hintergrund befasst sich der Beitrag abstrakt mit der Reichweite der unionsrechtskonformen Auslegung im deutschen Strafrecht und untersucht anschließend die Auswirkungen der "Spector Photo Group" Entscheidung auf die Auslegung des deutschen Straf- und Strafverfahrensrechts.

II. Die Pflicht zur unionsrechts - konformen Auslegung

1. Rechtsgrundlagen

Die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung wurzelt im Unionsrecht und im deutschen Verfassungsrecht.[13] Der EuGH hat aus dem Umsetzungsgebot des

Art. 288 Abs. 3 S. 1 AEUV und dem in Art. 4 Abs. 3 EUV normierten Grundsatz der Unionstreue eine Pflicht der nationalen Gerichte abgeleitet, bei der Auslegung des nationalen Rechts auch das Unionsrecht zu berücksichtigen.[14] Daneben gebietet auch das deutsche Recht eine unionsrechtskonforme Auslegung.[15] Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG begründet eine solche Pflicht, soweit sie mit dem gesamten deutschen Verfassungsrecht vereinbar ist. [16] Zudem ist der Richter gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an die geltenden methodischen Standards bei der Auslegung des Rechts gebunden. [17] Diese führen ihrerseits zu einer Berücksichtigung des Unionsrechts. [18] Dient beispielsweise eine Norm der Umsetzung einer Richtlinie, so bedürfen die historische sowie die teleologische Interpretation der Beachtung unionsrechtlicher Vorgaben. Denn es gilt die Vermutung, dass der Gesetzgeber die Richtlinie korrekt umsetzen wollte.[19]

Auf Grund ihrer unionsrechtlichen und verfassungsrechtlichen Fundierung umfasst die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung das gesamte deutsche Recht.[20] Dieses ist im Einklang mit dem gesamten Unionsrecht auszulegen. [21] Für eine prinzipielle Ausklammerung des Straf- und Strafverfahrensrechts ist kein Grund ersichtlich. Denn die Frage, ob bei der Auslegung verfassungsrechtliche Vorgaben zu berücksichtigten sind, ist getrennt davon zu beantworten.[22] Sie betrifft die Reichweite der Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung.

2. Reichweite

a) Auslegung des Unionsrechts als Vorfrage

Zunächst setzt eine Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung voraus, dass das Unionsrecht im Rahmen seines Anwendungsbereichs eine Vorgabe für die Auslegung des nationalen Rechts macht. Ob dies der Fall ist, ist zunächst mit den für das Unionsrecht geltenden Auslegungsgrundsätzen zu ermitteln. [23] Ergeben sich die Vorgaben für die Auslegung aus sekundärem Unionsrecht, muss dieses im Lichte des primären Unionsrechts interpretiert werden.[24] Verstößt ein Unionsrechtsakt gegen primäres Unionsrecht, bleibt er wirkungslos. [25] Ebenso wie deutsche Strafgesetze an den Grundrechten und rechtsstaatlichen Prinzipien zu messen sind, muss das sekundäre Unionsrecht seinerseits am primären Unionsrecht gemessen werden.[26] Vor diesem Hintergrund wird die unionsrechtskonforme Auslegung auch als "mehrphasiger Interpretationsakt" bezeichnet.[27] Lässt sich dem Unionsrecht eine Vorgabe für die Auslegung entnehmen, ist das allein keineswegs gleichbedeutend mit einer Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung. Es muss vielmehr geprüft werden, ob ein Auslegungsspielraum im nationalen Recht besteht, der die Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben ermöglicht.[28]

b) Auslegungsspielraum im nationalen Recht

Bedenkt man den grundsätzlichen Anwendungsvorrang des Unionsrechts, erscheint es kontraintuitiv, dass ein aus dem Unionsrecht abgeleitetes Auslegungsgebot vom Bestehen eines Auslegungsspielraums im nationalen Recht abhängt.[29] Betrachtet man jedoch den Unterschied der unionsrechtskonformen Auslegung zum Prinzip des

Anwendungsvorrangs, so wird deutlich, warum diese Einschränkung zwingend ist.

aa) Verhältnis zum Anwendungsvorrang

Der Anwendungsvorrang ist ein Kollisionsprinzip, welches das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht bestimmt.[30] Er beruht auf der Rechtsprechung des EuGH, nach der sich unmittelbar anwendbares Unionsrecht im Kollisionsfall gegenüber nationalem Recht durchsetzt.[31] Im Gegensatz zum Anwendungsvorrang ist die unionsrechtskonforme Auslegung nicht von der unmittelbaren Anwendbarkeit eines Rechtsakts abhängig, sondern umfasst gleichermaßen nicht unmittelbar anwendbares Unionsrecht. Aus diesem Unterschied lässt sich ableiten, warum das Auslegungsgebot nur im Rahmen des nationalen Rechts wirken kann. Eine Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung, das nationale Recht auch entgegen der nationalen Methodik auszulegen, käme in ihrer Wirkung dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts gleich. [32] Dem nationalen Recht würde eine Lösung vorgegeben, auch wenn sie unter Zugrundelegung der Methodik des jeweiligen Mitgliedstaats unvertretbar wäre. Das bedeutete nichts anderes, als nationales Recht außer Acht zu lassen und durch eine Lösung auf Grundlage des Unionsrechts zu ersetzen. Das würde zu einem Anwendungsvorrang des gesamten Unionsrechts führen. [33] Eine derart ausgestaltete Pflicht würde eine Kompetenz zur Harmonisierung de facto in eine Kompetenz zur Rechtssetzung umwandeln. Deshalb lässt sich eine über den Anwendungsvorrang hinausgehende Pflicht zur Beachtung des gesamten Unionsrechts nur rechtfertigen, wenn das nationale Recht einen Auslegungsspielraum einräumt[34]. Insofern ist ein Auslegungsspielraum im nationalen Recht eine Bedingung für die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung.[35] Mit anderen Worten: "Die unmittelbare Wirkung verdrängt das nationale Recht, die[unionsrechtskonforme]Auslegung nutzt es."[36] Sie muss sich dabei aber an seine Auslegungsregeln halten. [37]

bb) Reichweite im deutschen Strafrecht und Art. 103 Abs. 2 GG

Nachdem der Einfluss des nationalen Rechts auf das Auslegungsgebot nun abstrakt bestimmt worden ist, wird im Folgenden die Reichweite der unionsrechtskonformen Auslegung im deutschen Strafrecht skizziert. Entsprechend dem vorher Gesagten kann die Pflicht nur soweit reichen, wie das deutsche Strafrecht und das gesamte einschlägige Verfassungsrecht einen Auslegungsspielraum eröffnen. Dieser Auslegungsspielraum wird maßgeblich durch Art. 103 Abs. 2 GG bestimmt. Um genau beurteilen zu können, wo seine Grenzen verlaufen, muss untersucht werden, welchen Rahmen Art. 103 Abs. 2 GG für die Auslegung des Strafrechts vorgibt. Im Zusammenhang mit der unionsrechtskonformen Auslegung nennt der überwiegende Teil der Literatur bislang einzig den Wortlaut als Auslegungsgrenze. [38] Allerdings hat sich jüngst das BVerfG grundlegend zu Art. 103 Abs. 2 GG und dessen Bedeutung für die Auslegung des Strafrechts geäußert. [39] Das BVerfG hat den im Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 Abs. 2 GG enthaltenen Bestimmtheitsgrundsatz auf die Strafgerichte erstreckt und daraus neue Vorgaben für die Auslegung des Strafrechts abgeleitet.[40] Die Bedeutung des Beschlusses für die unionsrechtskonforme Auslegung wird bisher weder in der einschlägigen Literatur noch in den zahlreichen Anmerkungen erwähnt. Einige der Vorgaben betreffen jedoch den verfassungsrechtlich vorgegebenen Auslegungsspielraum und damit die Reichweite der unionsrechtskonformen Auslegung im Strafrecht.

(1) Erweitertes Analogieverbot

Nach dem klassischen Verständnis vom Analogieverbot ist der Wortlaut die äußerste Grenze der zulässigen rich-

terlichen Interpretation.[41] Das BVerfG hat den Entscheidungsspielraum der Gerichte durch eine "Erweiterung des Analogieverbots" weiter eingeschränkt.[42] Es hat festgestellt, dass einzelne Tatbestandsmerkmale auch innerhalb ihres natürlichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt werden dürfen, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen.[43] Darüber hinaus seien die Gerichte bei der Auslegung auch an den Willen des Gesetzgebers gebunden.[44]

Das Analogieverbot schützt damit nicht nur die Einhaltung der Wortlautgrenze, sondern auch die systematische und subjektiv-historische Interpretation des Gesetzes zugunsten des Bürgers.[45] Teilweise werden die Ausführungen sogar als Erweiterung des Analogieverbots auf eine methodengerechte Auslegung interpretiert. [46] Eine unionsrechtskonforme Auslegung kommt damit auch innerhalb der Wortlautgrenze nicht in Betracht, wenn sie zur Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen führt oder der subjektive-historische Wille des Gesetzgebers entgegensteht.

(2) Präzisierungsgebot

Darüber hinaus hat das BVerfG festgestellt, dass Art. 103 Abs. 2 GG die Gerichte zu einer präzisierenden Auslegung verpflichtet. [47] Insbesondere bei weit gefassten Tatbeständen müssen sie verbleibende Unklarheiten über den Anwendungsbereich einer Norm durch eine Präzisierung im Wege der Auslegung ausräumen.[48] Auch eine unionsrechtskonforme Auslegung muss sich an diesem Präzisierungsgebot messen lassen.

(3) Erhöhter Vertrauensschutz

Zudem hat das BVerfG angedeutet, dass sich aus dem Präzisierungsgebot Anforderungen an die Ausgestaltung von Rechtsprechungsänderungen ergeben könnten, die über die allgemeinen Grundsätze des Vertrauensschutzes hinausgehen.[49] Denn Strafgerichte seien bei der Änderung einer gefestigten Rechtsprechung in besonderem Maße verpflichtet, für geeigneten Vertrauensschutz zu sorgen.[50] Die Anforderungen an diesen Vertrauensschutz hat das BVerfG in einer jüngeren Entscheidung etwas präzisiert,[51] dabei aber offen gelassen, ob eine belastende Rechtsprechungsänderung gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen kann. Dieser noch konkretisierungsbedürftige Vertrauensschutz muss auch bei einer belastenden Rechtsprechungsänderung berücksichtigt werden, die unionsrechtlich bedingt ist.[52]

Damit bleibt festzuhalten, dass Art. 103 Abs. 2 GG in der Lesart des BVerfG den Auslegungsspielraum der Gerichte auch innerhalb des Gesetzeswortlauts bedeutend einschränkt. Dadurch wird gleichzeitig die Reichweite der unionsrechtskonformen Auslegung im deutschen Strafrecht begrenzt.

c) Vereinbarkeit mit dem gesamten Unionsrecht

Da das Auslegungsgebot nicht auf bestimmte Unionsrechtsakte begrenzt ist, entsteht eine Pflicht zu einer bestimmten Auslegung nur, soweit ein Auslegungsergebnis mit dem gesamten Unionsrecht in Einklang steht.[53] Bei der unionsrechtskonformen Auslegung einer Strafnorm ist daher nicht nur strafbarkeitserweiterndes Unionsrecht in den Blick zu nehmen; auch strafbarkeitsbegrenzendes Unionsrecht muss beachtet werden.

Eine solche Wirkung haben insbesondere die Grundfreiheiten und die Grundrechtecharta. Letztere steht gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV gleichranging neben den Verträgen. [54] Überdies ist auf die EMRK hinzuweisen, die im Unionsrecht gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeiner Rechtsgrundsatz gilt. Für das Strafverfahren ist Art. 6 EMRK mit seinen zahlreichen Verfahrensgarantien bedeutsam.[55]

Weitere allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts sind durch die Rechtsprechung des EuGH geprägt.[56] Für die Auslegung des Strafrechts sind insbesondere das Rückwirkungsverbot [57] sowie der Bestimmtheitsgrundsatz[58] maßgeblich.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Reichweite der Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung von zahlreichen Vorgaben des nationalen Rechts und des Unionsrecht abhängt. Anhand dieser Einschränkungen sind auch die Auswirkungen der viel beachteten "Spector Photo Group" Entscheidung auf die Auslegung des deutschen Straf- und Strafverfahrensrechts zu beurteilen.

III. Die "Spector Photo Group" Entscheidung

In der "Spector Photo Group" Entscheidung vom 23. Dezember 2009 hat sich der EuGH zur Reichweite des Insiderhandelsverbots gemäß Art. 2 I 2003/6/EG RL geäußert. Zu Beginn werden zum besseren Verständnis das Ausgangsverfahren und die wichtigste Vorlagefrage dargestellt.

1. Ausgangsverfahren

Der Hof van beroep te Brussel musste in einem Rechtsstreit über eine Geldbuße entscheiden, welche die belgische Finanzaufsichtsbehörde gegen die belgische Spector Photo Group N.V. (Spector) und einen ihrer Mitarbeiter verhängt hatte. Spector hatte eigene Aktien in erheblichem Umfang erworben. Anschließend veröffentlichte Spector Informationen über ihre Geschäftsergebnisse, was zu einem Anstieg des Aktienkurses führte. Dies wurde als verbotenes Insidergeschäft beurteilt. Spector verteidigte sich mit dem Einwand, es sei nicht nachgewiesen worden, dass die Aktien wegen der anstehenden Veröffentlichung der Geschäftsergebnisse zurückerworben wurden.

Grundlage der Verhängung der Geldbuße war eine belgische Vorschrift, die der Umsetzung von Art. 2 Abs. 1 RL 2003/6/EG diente. Kern des Verfahrens war die Auslegung des Begriffs "Nutzung" einer Insiderinformation im Sinne des Art. 2 Abs. 1 RL 2003/6/EG.[59] Insbesondere war fraglich, ob für eine "Nutzung" der Nachweis genügt, dass ein Insider eine Insiderinformation besitzt und auf dem Markt ein Geschäft mit Finanzinstrumenten tätigt, auf die sich die Information bezieht, oder, ob zusätzlich nachgewiesen werden muss, dass diese Information bewusst genutzt worden ist.[60]

2. Vorgaben für eine unionsrechtskonforme Auslegung

Dazu führte der EuGH aus, dass der Wortlaut des Art. 2 I RL 2003/6/EG nicht explizit eine subjektive Voraussetzung festlege. Insbesondere erfordere er nicht ausdrücklich den Nachweis, dass die Information für das fragliche Geschäft bestimmend war. [61] Das Insiderhandelsverbot sichere die Integrität der Finanzmärkte nur dann, wenn es effektiv durchsetzbar sei.[62] Vor diesem Hintergrund sei es gerechtfertigt, die "Nutzung" einer Insiderinformation zu vermuten, wenn eine Person nachweislich über sie verfügt und auf dem Markt ein Geschäft mit Finanzinstrumenten getätigt hat, auf die sich die Information bezieht.[63]

Welche Vorgaben sich daraus für eine unionsrechtskonforme Auslegung des Art. 2 I RL 2003/6/EG ergeben, erschließt sich aus den Ausführungen des EuGH nicht eindeutig.[64] Vor allem ist unklar, was genau der EuGH unter dem Begriff der "Nutzung" versteht und damit als Gegenstand der Vermutung ansieht. Teilweise wird die Entscheidung so interpretiert, dass bei Erfüllung des objektiven Tatbestandes der Vorsatz zu vermuten sei. Nach anderer Interpretation wird der Einfluss der Insiderinformation auf das fragliche Geschäft und damit die Kausalität als Gegenstand der Vermutung angesehen.

Die Unsicherheit hinsichtlich des genauen Inhalts ist vor allem auf die verwendete Terminologie in der Entscheidung zurückzuführen. Zunächst ist festzustellen, dass der EuGH eine Kausalität zwischen Insiderinformation und dem durchgeführten Geschäft nicht ausdrücklich erwähnt. [65] Er betont, dass die Richtlinie ein "subjektives Tatbestandsmerkmal" [66] nicht ausdrücklich vorsehe. Die besondere Natur des Insidergeschäfts erlaube es, bei Erfüllung der objektiven Tatbestandsmerkmale ein Han-

deln mit "Vorsatz" [67] zu vermuten. Bei näherer Betrachtung der Urteilsgründe wird jedoch deutlich, dass es dem EuGH trotz der entgegenstehenden Terminologie um eine Kausalitätsvermutung geht.[68] Für diese Annahme spricht beispielsweise folgende einleitende Aussage der Entscheidung: "Art. 2 Abs. 1 RL 2003/06[...]besagt nicht ausdrücklich, dass der Nachweis erforderlich ist, dass die Insider-Information für die Entscheidung, das fragliche Geschäft auf dem Markt zu tätigen, bestimmend war[...]." [69] Ferner wird nur dieses Verständnis der Vorlagefrage des Gerichts und dem Sachverhalt des Ausgangsverfahrens gerecht.[70] Beide drehen sich im Kern um die Frage, ob der Rückkauf von Aktien durch die anstehende Veröffentlichung des Geschäftsberichts beeinflusst wurde. Bedenkt man, dass es sich bei diesem Einfluss um einen inneren Vorgang handelt, lässt sich auch die Terminologie des EuGH verstehen. Der Einfluss ist ein innerer Entscheidungsprozess.[71] In diesem Sinne begreift der EuGH das "Nutzen" einer Insiderinformation als subjektives Tatbestandsmerkmal und bezeichnet es als Vorsatz.[72] Der Sache nach geht es aber um den Einfluss der Insiderinformation auf die Insiderhandlung und damit in deutscher Terminologie um Kausalität. [73]

Die "Spector Photo Group" Entscheidung enthält damit zwei Vorgaben für eine unionsrechtskonforme Auslegung des Begriffs "Nutzen" in Art. 2 Abs. 1 RL 2003/6/EG. Die "Nutzung" einer Information setzt die Kausalität zwischen Insiderinformation und dem fraglichen Geschäft voraus. Die Kausalität kann jedoch vermutet werden, wenn das Wissen um eine Insiderinformation und die Vornahme eines Geschäfts feststehen. Ins deutsche Recht wird Art. 2 Abs. 1 RL 2003/6/EG über die Vorgaben der Richtlinie hinaus durch das Strafblankett des § 38 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 14 Abs. 1 Nr. 1 WpHG umgesetzt. [74] Daraus ergibt sich die eingangs angesprochene Brisanz der "Spector Photo Group" Entscheidung. Denn die Vorgaben, die der EuGH anlässlich des belgischen Verwaltungsverfahrens für die Auslegung des Insiderhandelsverbots gemacht hat, betreffen damit die Auslegung des deutschen Straf- und Strafverfahrensrechts.

IV. Auswirkungen auf das Strafrecht

Aus deutscher Sicht geht es bei der Frage, ob der Tatbestand des Insiderhandelsverbots Kausalität voraussetzt, um die Auslegung des Begriffs "Verwendung" in § 38 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 14 Abs. 1 Nr. 1 WpHG. Der Wortlaut "Verwenden" entspricht inhaltlich dem in der Richtlinie zu findenden Begriff "Nutzen". Er steht einer Übertragung der Vorgaben aus Art. 2 Abs. 1 RL 2003/6/EG für den Begriff der "Nutzung" nicht entgegen.[75] Vielmehr deutet er – ebenso wie der Begriff "Nutzung" – an, dass der Tatbestand mehr als nur den Besitz der Insiderinformation voraussetzt.[76] Daneben zeigt die Entstehungsgeschichte des deutschen Insiderhandelsverbots, dass der Gesetzgeber mit diesem unionsrechtliche Vorgaben umsetzen wollte.[77] Der Auslegung stehen weder verfassungsrechtliche noch unionsrechtliche Bedenken entgegen, so dass der Begriff "Verwendung" im Insiderstrafrecht unionsrechtskonform als Kausalitätserfordernis zwischen Insiderinformation und Insiderhandlung zu verstehen ist. Insofern bestätigen die unionsrechtlichen Vorgaben die Auslegung des deutschen Insiderstrafrechts in der Literatur, wonach der Begriff der "Verwendung" ebenfalls als materielles Kausalitätserfordernis interpretiert wird. [78]

V. Auswirkungen auf das Strafverfahrensrecht

Neben dem materiellen Kausalitätserfordernis hat der EuGH auch eine prozessuale Vorgabe aus Art. 2 Abs. 1 RL 2003/6/EG abgeleitet. Er ist der Auffassung, die nachweisliche Kenntnis einer Insiderinformation und die Durchführung eines Wertpapiergeschäfts, das von der Information betroffen ist, begründen die Vermutung, dieses Wissen habe Einfluss auf die Durchführung des Wertpapiergeschäfts gehabt. Im Gegensatz zu der materiellen Vorgabe, die der Interpretation im deutschen Insiderstrafrecht entspricht, ist dem deutschen Strafrechtverfahrensrecht eine Beweislast des Täters fremd. Für eine Pflicht, die Vorgaben bei der Auslegung der Strafprozessordnung zu berücksichtigen, müsste das nationale Recht einen Auslegungsspielraum bieten und eine solche Auslegung müsste mit dem gesamten Unionsrecht vereinbar sein.

1. Betroffene Verfahrensvorschriften

Da das deutsche Strafverfahrensrecht eine Beweiswiderlegungslast des Täters nicht kennt, müssten zahlreiche Normen einschränkend ausgelegt werden, um der Richtlinie zu entsprechen: Nach dem in § 261 StPO normierten Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist der Richter nicht an Beweisregeln gebunden.[79] Darüber hinaus obliegt es gemäß §§ 155 Abs. 2, 244 Abs. 2 StPO dem Gericht und der Staatsanwaltschaft, alle Tatsachen und Beweise zu ermitteln, die für eine Verurteilung erforderlich sind.[80] Auch das Schweigerecht gemäß §§ 136 Abs. 2 S. 2, 243 Abs. 5 S. 1 StPO, aus dessen Wahrnehmung sich keine Nachteile für den Beschuldigten ergeben dürfen, ist von der Vermutung betroffen.[81]

2. Auslegungsspielraum im nationalen Recht

Eine Pflicht, die einschlägigen Normen nach den Vorgaben der Richtlinie auszulegen, besteht nur dann, wenn das nationale Recht einen Auslegungsspielraum bietet. Eine systematische Zusammenschau der aufgezählten Vorschriften zeigt aber bereits, dass dies nicht der Fall ist. Zudem verbieten gleich mehrere verfassungsrechtliche Grundprinzipien des Strafverfahrens eine derartige Auslegung.[82]

a) Unschuldsvermutung

Die Unschuldsvermutung hat in Deutschland Verfassungsrang. Sie hat ihren Ursprung in dem in Art. 20 Abs. 3 GG normierten Rechtsstaatsprinzip, das unter anderem gebietet, belastende Maßnahmen nur auf der Grundlage eines Gesetzes zu treffen.[83] Das Strafrecht als "schärfstes Schwert"[84] des Staates darf damit nur eingesetzt werden, wenn alle Voraussetzungen eines Tatbestandes vorliegen. Daraus folgt die Beweislast des Staates.[85] Eine Kausalitätsvermutung verletzt dieses grundlegende Prinzip des deutschen Strafverfahrens.

b) Schuldprinzip

Zudem entspricht eine Vermutungsregel zu Lasten des Angeklagten nicht den Anforderungen, die sich aus dem Schuldprinzip an das Strafverfahrensrecht ergeben. Der Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt, hat seine Grundlage in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG.[86] Das Schuldprinzip gehört zu der nach Art. 79 Abs. 3 GG nicht verfügbaren Verfassungsidentität.[87] Wer die Erfüllung des Tatbestandes vermutet, aber nicht nachweist, der unterstellt auch Schuld.[88] Ein Auslegungsspielraum ist damit auch durch das Schuldprinzip beschränkt.

3. Vereinbarkeit mit dem gesamten Unionsrecht

Darüber hinaus spricht auch das Unionsrecht gegen eine Übertragung der Kausalitätsvermutung in das deutsche Strafverfahrensrecht. In Art. 6 Abs. 2 EMRK ist eine Unschuldsvermutung niedergelegt, die gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts gilt. Im Falle einer "strafrechtlichen"[89] Anklage garantiert sie ein faires Verfahren, in dem der Beweis des Tatvorwurfs geführt werden muss.[90] Zwar schließt die Rechtsprechung des EGMR eine Beweislastumkehr nicht prinzipiell aus, doch auch der EGMR betont, dass wegen der Einschränkung der Verteidigungsrechte die Verhältnismäßigkeit strikt zu wahren sei. [91] In seiner Entscheidung begründet der EuGH die Vereinbarkeit der Kausalitätsvermutung mit Art. 6 Abs. 2 EMRK allein mit einem Verweis auf die Rechtsprechung des EGMR.[92] Für ein Verwaltungsverfahren dürfte die Kausalitätsvermutung den Anforderungen des EGMR entsprechen. Da der Unschuldsvermutung in einem echten Strafverfahren aber ein höherer Stellenwert zukommt, dürfte die Bewertung des EGMR hier anders aussehen.[93] Auch Art. 6 Abs. 2 EMRK kann damit einer den Vorgaben des EuGH entsprechenden Auslegung widersprechen.

Nach alledem bleibt festzuhalten, dass bereits das deutsche Strafverfahrensrecht keinen Auslegungsspielraum für eine Kausalitätsvermutung bietet.[94] Darüber hinaus verbieten jedenfalls verfassungsrechtliche Prinzipen des deutschen Strafverfahrens eine derartige Auslegung.[95] Folglich besteht keine Pflicht, im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung eine Beweislastumkehr in das deutsche Strafprozessrecht zu integrieren.

4. Berücksichtigung im Rahmen des § 261 StPO

Die unionsrechtskonforme Auslegung gebietet es aber, dem durch die Marktmissbrauchsrichtlinie und die Entscheidung des EuGH vorgegebenem Schutzniveau soweit wie möglich zu entsprechen. Deshalb ist zu erwägen, ob die Vermutung im Rahmen der freien Beweiswürdigung des § 261 StPO legitim Berücksichtigung finden kann und muss.[96] Eine Transformation in ein geringer bemessenes Darlegungserfordernis an die Nutzung einer Insiderinformation begegnet indes den gleichen Bedenken wie eine echte Vermutung. Versteht man die Entscheidung dagegen als Hinweis auf einen Erfahrungssatz,[97] muss ihn der Richter ohnehin berücksichtigen, wenn er tatsächlich besteht. Bedenkt man, dass die Vermutung des EuGH die nachgewiesene Kenntnis der Information und den Abschluss eines Geschäftes, auf das sich die Information bezieht, voraussetzt, erscheint das Schutzniveau auch im Rahmen der freien Beweiswürdigung nicht wesentlich geringer.[98] Schließlich führen auch die Mittel des Strengbeweises und der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht dazu, dass der Richter jeder Einlassung des Angeklagten folgen muss.[99] Vielmehr müssen solche Einlassungen auf Grund der Indizienlage bewertet werden. [100] Gelingt es dem Beschuldigten aber, Zweifel am Einfluss der Insiderinformation plausibel zu machen, ist er freizusprechen.

VI. Schluss

Die "Spector Photo Group" Entscheidung zeigt beispielhaft, dass ein Strafgesetz, das in den Anwendungsbereich eines Unionsrechtsaktes fällt, nicht zwangsläufig so ausgelegt werden muss, dass es seinen Vorgaben entspricht. Eine dahingehende Pflicht ist vom Bestehen eines Auslegungsspielraums im nationalen Recht abhängig und davon, dass eine Auslegung dem gesamten Unionsrecht entspricht. Diese Bedingungen machen die unionsrechtskonforme Auslegung im Straf- und Strafverfahrensrecht zu einer komplexen Aufgabe. Denn sie sind Einfallstore für zahlreiche verfassungsrechtliche und unionsrechtliche Vorgaben, welche die Reichweite des Auslegungsgebotes beeinflussen. Kommt eine Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung in Betracht, müssen diese Vorgaben sorgfältig geprüft werden, um zu verhindern, dass durch eine (vermeintlich) unionsrechtskonforme Auslegung rechtsstaatliche Standards leiden.[101]


[1] Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 8: "Der Begriff "Europäisierung" bezeichnet die Erscheinung, dass Unionsrecht auf vielfältige Art und Weise Einfluss auf Inhalt, Auslegung und Anwendbarkeit des nationalen Rechts ausübt".

[2] Pars pro toto Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. (2011), Vorwort.

[3] Beukelmann NJW 2010, 2081, 2082.

[4] Satzger a.a.O. (Fn. 2), § 2 Rn. 3.

[5] Dannecker Jura 2006, 173, 175; Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. (2012), § 10 Rn. 1: "einer der bedeutsamsten Europäisierungsfaktoren"; Ambos, Internationales Strafrecht, 3. Aufl. (2011), § 11 Rn. 46 ff.

[6] Ausführlich dazu unter II. 1.

[7] Tiedemann NJW 1993, 23, 24; Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht (2002), S. 341.

[8] Gaede/Mühlbauer wistra 2005, 9; Dannecker Jura 2006, 173, 175 f.

[9] EuGH Slg. 2009, 12100 (Spector) = HRRS 2010 Nr. 2.

[10] Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. November 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) (ABl.-EG, Nr. L 96/16).

[11] Ausführlich dazu unter III.

[12] Beispielsweise Gehrmann ZBB 2010, 48, 49; St. Schulz ZIP 2010, 609, 611; Opitz BKR 2010, 71, 73; mit anderer Interpretation der Entscheidung und deshalb auch mit anderer Bewertung Ransiek wistra 2011, 1, 4.

[13] Satzger a.a.O. (Fn. 2), § 9 Rn. 90; Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 6; Schröder a.a.O. (Fn. 7), S. 339; Schramm, Internationales Strafrecht (2011), S. 125 Rn. 84.

[14] Grundlegend EuGH Slg. 1984, 1891, 1909 (von Colson und Kamann); 1894, 1921, 1942 (Harz).

[15] Satzger a.a.O. (Fn. 2), § 9 Rn. 90; Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 6; Schramm, Internationales Strafrecht (Fn. 13), S. 125 Rn. 84; Schröder a.a.O. (Fn. 7), S. 339; W. H. Roth, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2. Aufl. (2010), § 14 Rn. 37.

[16] W. H. Roth, in: Europäische Methodenlehre (Fn. 15), § 14 Rn. 37 f.

[17] W. H. Roth, in: Europäische Methodenlehre (Fn. 15), § 14 Rn. 37 m.w.N.

[18] Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn. 1), S. 525; Schröder a.a.O. (Fn. 7), S. 338; Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 9.

[19] Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn. 1), S. 525; Jarass EuR 1991, 211, 217.

[20] Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 12; Jarass EuR 1991, 211, 220; Dannecker Jura 2006, 173, 175; zur Geltung im Strafrecht Schröder a.a.O. (Fn. 7), S. 341; Gaede, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar-StGB, 2010, § 1 Rn. 37; Dannecker, in: Laufhütte u. a. (Hrsg.), Bd. 1, §§ 1-31, LK-StGB, 12. Aufl. (2007), § 1 Rn. 342 ff. Abzugrenzen ist diese Pflicht von der Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung. Der EuGH hat in seiner "Pupino" Entscheidung eine Pflicht postuliert, bei der Auslegung des nationalen Rechts die im Rahmen der dritten Säule erlassenen Rahmenbeschlüsse auch nach dem Vertrag von Lissabon zu beachten; EuGH Slg. 2005, 5258 (Pupino); siehe dazu Schramm, Internationales Strafrecht (Fn. 13), S. 129 Rn. 94; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 11 Rn. 51.

[21] Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Müko-StGB, Bd. 1, §§ 1-37, 2. Aufl. (2011), § 1 Rn. 86; Dannecker, in: LK-StGB (Fn. 20), § 1 Rn. 344; Jarass EuR 1991, 211, 220.

[22] Schröder a.a.O. (Fn. 7), S. 341.

[23] W. H. Roth, in: Europäische Methodenlehre (Fn. 15), § 14 Rn. 34; zu den Methoden der Auslegung von Richtlinien Leenen JURA 2012, 753, 756.

[24] Gaede/Mühlbauer wistra 2005, 9, 16.

[25] Für eine Aufzählung des primären Unionsrechts, das typischerweise sekundäres Unionsrecht mit strafrechtlich relevantem Inhalt betrifft, siehe (II. 2. c.). Das Primärrecht beeinflusst das sekundäre Unionsrecht auf zwei Weisen. Erstens kann es für seine Unwirksamkeit sorgen. Zweitens kann es einer Ausstrahlung des sekundären Unionsrechts auf das nationale Strafrecht entgegenstehen. Letzteres kommt nur dann in Betracht, wenn das Sekundärrecht nicht bereits selbst an den primärrechtlichen Vorgaben für das Strafrecht zu messen ist. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Richtlinie mit verwaltungsrechtlichen Vorgaben in den Mitgliedstaaten überschießend strafrechtlich umgesetzt wurde. Dann muss geprüft werden, ob die Auslegung nach den Vorgaben der Richtlinie dem im Rahmen der unionsrechtskonformen Auslegung ebenfalls beachtlichen Primärrecht entspricht.

[26] Schröder a.a.O. (Fn. 7), S. 444; Gaede/Mühlbauer wistra 2005, 9, 16.

[27] Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 22; Schröder a.a.O. (Fn. 7), S. 408 ff., 451 ff.

[28] Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 34; Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn. 1), S. 533.

[29] Grundlegend EuGH Slg. 1984, 1891, 1909 f. (von Colson und Kamann); 1894, 1921, 1942 (Harz); mit einer ausführlichen Analyse der Urteile Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn. 1), S. 528 ff.

[30] Siehe beispielsweise Satzger a.a.O. (Fn. 2), § 9 Rn. 77; Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 1.

[31] EuGH Slg. 1964, 1251, 1269 ff. (Costa/ENEL); 1963, 1, 27 (Van Gend & Loos).

[32] Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn. 1), S. 528; ders. a.a.O. (Fn. 2), § 9 Rn. 52.

[33] Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn. 1), S. 529; Schröder a.a.O. (Fn. 7), S. 352 f.

[34] EuGH Slg. 1984, 1891, 1901 (von Colson und Kamann); 1894, 1921, 1935 (Harz).

[35] Begriffliche Präzisierung: Die in der Literatur gebräuchliche Bezeichnung "nationale Grenze" bezeichnet die dargestellten Zusammenhänge unpräzise. Von Art. 4 III EUV geht ein Auslegungsgebot nur dann aus, wenn nach nationalem Recht überhaupt ein Auslegungsspielraum existiert. Daraus ergeben sich zwei Kritikpunkte an der Bezeichnung "nationale Grenze": Da die Entstehung der Pflicht von einem Auslegungsspielraum nach nationalem Recht abhängt, handelt es sich um eine Bedingung. Beispielsweise besteht kein Konflikt zwischen Art. 4 III EUV und Art. 103 II GG, wenn eine Richtlinie die Auslegung eines Straftatbestandes über seinen Wortlaut hinaus fordert. Eine Pflicht entsteht gar nicht erst. Darüber hinaus ist zwar zuzugestehen, dass der Inhalt dieser Bedingung sich nach dem nationalen Recht richtet. Diese Terminologie verschleiert aber, dass es sich aus dogmatischer Sicht um eine unionsrechtliche Bedingung handelt, die inhaltlich an das nationale Recht anknüpft.

[36] Langenbucher, Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, 2. Aufl. (2008), § 1 Rn. 87.

[37] Durch diese Bedingung ist auch das Verhältnis der unionsrechtskonformen Auslegung zu den nationalen Auslegungsmethoden vorgegeben. Sie hat gegenüber den klassischen Auslegungsmethoden einen relativen Vorrang, tritt aber hinter der verfassungskonformen Auslegung zurück; Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl. (2002), S. 169 Rn. 33 ff.; Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn 1.), S. 532.

[38] Ambos, Internationales Strafrecht (Fn. 5), § 11 Rn. 54; Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 34; Schramm, Internationales Strafrecht (Fn. 13), S. 126 Rn. 86; Safferling, Internationales Strafrecht (Fn. 20), § 11 Rn. 50; präziser aber bereits Gaede, in: AnwK-StGB (Fn. 20), § 1 Rn. 37.

[39] BVerfG NJW 2010, 3209 = HRRS 2010 Nr. 656; die Bedeutung betont Saliger NJW 2010, 3195, 3196.

[40] Saliger NJW 2010, 3195, 3198; ders. ZIS 2011, 902; Schünemann StraFo 2010, 477, 480: "dem zuvor eher brach liegenden Bestimmtheitsgrundsatz für die Verfassungsmäßigkeit von Strafrechtsnormen eine Schlüsselrolle zugewiesen"; Kuhlen JR 2011, 246, 247: "Meilenstein"; Schulz, Neues zum Bestimmtheitsgrundsatz, in: Heinrich u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin II (2011), S. 315; a.A. zum Beispiel Krüger NStZ 2011, 369, 370 und Radtke GmbHR 2010, 1121, die in dem Beschluss keine neuen Vorgaben sehen.

[41] Dannecker, in: LK-StGB (Fn. 20), § 1 Rn. 308.

[42] Gaede, in: AnwK-StGB (Fn. 20), § 1 Rn. 27 mit dem Hinweis, der Begriff Analogie sei dabei nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; Kuhlen JR 2011, 246, 248; Schulz, FS Roxin II (Fn. 40), S. 321: "Analogieverbot materiell angereichert und entspricht einem Präzisierungsgebot, mit dem eine gesetzeswidrige Auslegung vermieden werden soll"; andere Terminologie bei Saliger ZIS 2011, 902, 903: "Gebot bestimmter Gesetzesauslegung", der damit zurecht hervorhebt, dass es sich methodisch um einen Unterschied handelt, ob eine Auslegung über den Wortlaut hinaus verboten oder innerhalb des Wortlauts eine bestimmte Auslegung geboten ist.

[43] BVerfG NJW 2010, 3209 (Rn. 79): "Verschleifung (...) von Tatbestandsmerkmalen".

[44] BVerfG NJW 2010, 3209 (Rn. 80).

[45] Kuhlen JR 2011, 246, 248; Saliger ZIS 2011, 902, 903: "Garantie der Einhaltung des Willens des Gesetzgebers zur Straflosigkeit eines Verhaltens".

[46] Gaede , in: AnwK-StGB (Fn. 20), § 1 Rn. 27: "strafrechtliches Gebot zur methodengerechten Auslegung"; Becker HRRS 2010, 383, 386; Böse Jura 2011, 617, 621: "Garantie für eine methodengerechte Auslegung"; kritisch dazu aber Saliger ZIS 2011, 902, 903 Fn. 19.

[47] BVerfG NJW 2010, 3209 (Rn. 81).

[48] BVerfG NJW 2010, 3209 (Rn. 81).

[49] BVerfG NJW 2010, 3209 (Rn. 81); Böse Jura 2011, 617, 621: "Hier deutet sich ein Wandel in der bisherigen verfassungsrechtlichen Judikatur an, wonach eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht dem Rückwirkungsverbot unterliegt."; ähnlich Kuhlen JR 2011, 246, 250.

[50] BVerfG NJW 2010, 3209 (Rn. 81); dazu Schulz, FS Roxin II (Fn. 40), S. 305, 312 ff.

[51] BVerfG HRRS Nr. 737 mit Anmerkung Kuhlen HRRS 2012, 114.

[52] Zur Zulässigkeit der "strafbarkeitserweiternden Auslegung" siehe Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn. 1), S. 555 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 59 ff.

[53] Begriffliche Präzisierung: In der Literatur wird für die dargestellten Zusammenhänge die Bezeichnung "unionsrechtliche Grenze" verwendet. Der Begriff "Grenze" suggeriert, dass von einem einzelnen Unionsrechtsakt bereits ein Auslegungsgebot ausgeht, das dann durch das primäre Unionsrecht begrenzt wird. Es erscheint indes widersprüchlich, von einer Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung zu sprechen, die ihrerseits durch Unionsrecht begrenzt wird. Vielmehr geht von der Unionstreue eine solche Pflicht nur unter der Bedingung aus, dass ein Auslegungsergebnis mit dem gesamten Unionsrecht in Einklang steht.

[54] Beukelmann NJW 2010, 2081.

[55] Siehe dazu Gaede, Fairness als Teilhabe - Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK (2007), S. 159 ff.; einen Überblick zu den unionsrechtlichen Justizgrundrechten bietet Jarass NStZ 2012, 611.

[56] Grundlegend EuGH Slg. 1987, 3969 (Kolpinghuis Nijmegen); 1996, 6609 (Telecom Italia); zur Fortgeltung der allgemeinen Rechtsgrundsätze nach dem Vertag von Lissabon Kokott/Sobotta EuGRZ 2010, 265.

[57] EuGH Slg. 1987, 3969, 3986 (Kolpinghuis Nijmegen); ausführlich dazu Satzger, Europäisierung des Strafrechts (Fn. 1), S. 538; Hecker, Europäisches Strafrecht (Fn. 5), § 10 Rn. 38.

[58] EuGH Slg. 1996, 6609, 6647 (Telecom Italia); zu der daraus abgeleiteten Voraussetzung, dass nur ein hinreichend bestimmter Unionsrechtsakt Ausgangspunkt der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Strafrechts sein kann Satzger a.a.O. (Fn. 2), § 9 Rn. 92; Schröder a.a.O. (Fn. 7), S. 387.

[59] Vgl. EuGH Slg. 2009, 12100, 12114 (Spector); der EuGH fasste die zweite und dritte Vorlagefrage zusammen und beantwortete beide gemeinsam.

[60] EuGH Slg. 2009, 12100, 12114 (Spector).

[61] EuGH Slg. 2009, 12100, 12115 (Spector).

[62] EuGH Slg. 2009, 12100, 12116 (Spector).

[63] EuGH Slg. 2009, 12100, 12123 (Spector).

[64] Das wird eindrucksvoll an den unterschiedlichen Interpretationen der Entscheidung in der Literatur deutlich: Vorsatz: Opitz BKR 2010, 71, 74; St. Schulz ZIP 2010, 609, 611; Heusel BKR 2010, 77, 79; Assmann, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), WpHG, 6. Aufl. (2012), § 14 Rn. 26. Kausalität: Ransiek wistra 2011, 1, 2; Nietsch ZHR 2010, 557, 572; Bussian WM 2011, 8, 9; Cascante/Bingel NZG 2010, 161, 162; Nikoleyczik/Gubitz GWR 2010, 159; Gehrmann ZBB 2010, 48, 50; Flick/Lorenz RIW 2010, 381, 382; Schröder, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. (2012), X 2 Rn. 163; a.A. Vogel, in: WpHG (Fn. 64), § 38 Rn. 3: Der EuGH habe lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass vorhandene Insiderinformationen in aller Regel in die Vornahme von Insidergeschäften einfließen.

[65] Nietsch ZHR 2010, 557, 564; St. Schulz ZIP 2010, 609, 611; Ransiek wistra 2011, 1, 3 Fn. 21.

[66] EuGH Slg. 2009, 12100, 12116 (Spector).

[67] EuGH Slg. 2009, 12100, 12116 (Spector).

[68] Ransiek wistra 2011, 1, 3 Fn. 21; für diese Interpretation sprechen auch die Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott, EuGH Slg. 2009, 12086: "Im vorliegenden Fall ist daher zu klären, ob für das Vorliegen eines Insiderhandels ausnahmslos das Handeln in Kenntnis der Insider-Information hinreichend ist oder noch ein weiteres Element hinzukommen muss."; Hervorhebungen vom Autor.

[69] EuGH Slg. 2009, 12100, 12115 (Spector); Hervorhebungen vom Autor.

[70] Ransiek wistra 2011, 1, 2; Cascante/Bingel NZG 2010, 161, 162; Gehrmann ZBB 2010, 48, 50.

[71] Ransiek wistra 2011, 1, 2; Cascante/Bingel NZG 2010, 161, 162.

[72] Cascante/Bingel NZG 2010, 161, 162; vgl. Ransiek wistra 2011, 1 zu weiteren Argumenten.

[73] Der weiteren Untersuchung wird die Interpretation der herrschenden Lehre (vgl. Fn. 64) zu Grunde gelegt.

[74] Gemäß Art. 14 RL 2003/6/EG verlangt die Richtlinie nur ein verwaltungsrechtliches Vorgehen gegen Insiderhandel.

[75] Flick/Lorenz RIW 2010, 381, 382; Cascante/Bingel NZG 2010, 161, 162.

[76] Assmann, in: WpHG (Fn. 64), § 14 Rn. 25.

[77] Während die sogenannte Insiderrichtlinie den Mitgliedstaaten aufgab, ein Geschäft unter Ausnutzung einer Insiderinformation zu untersagen, ist nach Art. 2 Abs. 1 RL 2003/6/EG ein Geschäft bereits dann zu verbieten, wenn es unter Nutzung einer Insiderinformation stattfindet. Der deutsche Gesetzgeber hat zur Umsetzung dieser Richtlinie das Gesetz zur Verbesserung des Anlegerschutzes erlassen. Mit diesem Gesetz ist der Wortlaut des § 14 Abs. 1 Nr.1 WpHG von "unter Ausnutzung" zu "unter Verwendung" geändert worden.

[78] Vogel, in: WpHG (Fn. 64), § 38 Rn. 2 u. 5 mit Verweis auf Assmann, in: WpHG (Fn. 64), § 14 Rn. 25; Zimmer/Cloppenburg, in: Kapitalmarktrechts-Kommentar (Fn. 64), § 38 Rn. 8; Ransiek wistra 2011, 1, 2; St. Schulz ZIP 2010, 609, 610; Nietsch ZHR 2010, 557, 568; Flick/Lorenz RIW 2010, 381, 383.

[79] Eschelbach, in: Graf (Hrsg.), Strafprozessordnung, 2010, § 261 Rn. 261; Velten, in: Wolter (Hrsg.), SK-StPO, 4. Aufl. (2012), § 261 Rn. 1; zum Verhältnis von Beweisregeln und freier Beweiswürdigung Walter JZ 2006, 340, 341.

[80] Monk, in: Graf-StPO (Fn. 79), § 155 Rn. 2; Beulke, in: Erb u. a. (Hrsg.), Löwe-Rosenberg-StPO, 26. Aufl. (2013), § 155 Rn. 8.

[81] Gehrmann ZBB 2010, 48, 51.

[82] Gehrmann ZBB 2010, 48, 50; St. Schulz ZIP 2010, 609, 611.

[83] Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. (2012), § 11 Rn. 1.

[84] Hefendehl JA 2011, 401.

[85] Walter JZ 2006, 340, 345.

[86] BVerfG NJW 2009, 2267 (Rn. 364).

[87] BVerfG NJW 2009, 2267 (Rn. 364).

[88] Ransiek wistra 2011, 1, 2.

[89] Zwar setzt der Wortlaut des Art. 6 II EMRK eine strafrechtliche Anklage voraus, der Begriff der Strafe ist aber autonom auszulegen. Der EGMR prüft anhand der nationalen Einstufung der Sanktion, der Natur der Verfehlung und der Art und Schwere der drohenden Rechtsfolge, ob ein Vorwurf strafrechtlich einzuordnen ist. Der Vorwurf eines sozialethischen Tadels setzt der EGMR nicht als zwingendes Element der Strafe voraus.

[90] Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 55), S. 228 ff. m.w.N.

[91] Langenbucher/Brenner/Gellings BKR 2010, 133, 135.

[92] EuGH Slg. 2009, 12100, 12123 (Spector); kritisch Nietsch ZHR 2010, 557, 579; Opitz BKR 2010, 72, 73; Langenbucher/Brenner/Gellings BKR 2010, 133, 135.

[93] Langenbucher/Brenner/Gellings BKR 2010, 133, 135; Nietsch ZHR 2010, 557, 579.

[94] Gehrmann ZBB 2010, 48, 50; St. Schulz ZIP 2010, 609, 611.

[95] Gehrmann ZBB 2010, 48, 51; St. Schulz ZIP 2010, 609, 611; Bussian WM 2011, 8, 9; Flick/Lorenz RIW 2010, 381, 383; Ransiek wistra 2011, 1, 4.

[96] Vgl. Bussian WM 2011, 8, 9; Flick/Lorenz RIW 2010, 381, 384; Cascante/Bingel NZG 2010, 161, 163; Gehrmann ZBB 2010, 48, 51; Ransiek wistra 2011, 1, 4; Widder/Bedowski GWR 2010, 35.

[97] Vogel, in: WpHG (Fn. 64), § 38 Rn. 3.

[98] Ausführlich dazu Ransiek wistra 2011, 1, 3 f.

[99] Nietsch ZHR 2010, 557, 577 m.w.N.

[100] Nietsch ZHR 2010, 557, 57

[101] Zu Problembeispielen siehe Gaede, in: Flore/Tsambikakis (Hrsg.), Steuerstrafrecht (2013), § 369 Rn. 49, 52 und 71.