HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2013
14. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Die "Fransson"-Entscheidung des EuGH - Eine Erschütterung im System der europäischen Grundrechte?

Anmerkung zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 26. Februar 2013 (EuGH C-617/10 - Fransson) = HRRS 2013 Nr. 335

Von Kilian Wegner, Bucerius Law School, Hamburg

I. Einleitung

Im Vergleich zu den EU-Grundfreiheiten und der EMRK fand die Europäische Grundrechtecharta sowohl in der Rechtsprechung des EuGH als auch in der Judikatur der nationalen Gerichte bisher relativ wenig Beachtung. Nach der jüngst ergangenen EuGH-Entscheidung zur Rechtssache "Fransson"[1], in der das Gericht sich deutlich zum Anwendungsbereich der GRCh positioniert und auch einige Hinweise bezüglich ihres Verhältnisses zu den nationalen Grundrechtesystemen gibt, könnte sich dieser Umstand in Zukunft aber ändern. Schenkt man ersten Stellungnahmen in der Tagespresse Glauben, so ist in dem Urteil sogar eine historische Weichenstellung für die weitere Entwicklung des europäischen Rechtsraums angelegt.[2] Vor diesem Hintergrund soll die Entscheidung im Folgenden dargestellt und in ihren rechtlichen Kontext eingebettet werden, bevor schließlich ein Blick darauf gewagt wird, welche Auswirkungen sie auf das europäische Grundrechtsgefüge haben könnte.

II. Sachverhalt

Im Ausgangsfall war ein schwedischer Fischer wegen Umsatzsteuerhinterziehung vor einem schwedischen Strafgericht angeklagt worden. Für dieselben Erhebungszeiträume, die dieses Strafverfahren zum Gegenstand hatte, waren dem Angeklagten zuvor im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens schon Steuerzuschläge auferlegt worden, die bei Beginn des Strafverfahrens bereits in Bestandskraft erwachsen waren.[3] Das schwedische Strafgericht legte den Sachverhalt dem EuGH zur Vorabentscheidung vor, um klären zu lassen, ob eine Bestrafung wegen Steuerhinterziehung angesichts der verwaltungsrechtlichen Sanktion mit dem ne-bis-in-idem-Grundsatz aus Art. 50 GRCh vereinbar sei.

III. Anwendungsbereich der GRCh

Das schwedische Gericht war sich dabei insbesondere unsicher, ob die GRCh auf den Fall überhaupt Anwendung findet.[4] Gem. Art. 51 Abs. 1 GRCh bindet die GRCh nationale Hoheitsträger "ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union". In der Auslegung dieser Formulierung liegt die wesentliche Brisanz der "Fransson"-Entscheidung.

1. Bisheriges Verständnis von Art. 51 Abs. 1 GRCh

Das bisherige Verständnis von Art. 51 Abs. 1 GRCh beruht auf den Diskussionen im Grundrechtekonvent, bei dessen Sitzungen die Debatte über die Reichweite des Art. 51 Abs. 1 GRCh viel Raum einnahm.[5] Hintergrund war dabei die damalige Rechtsprechung des EuGH, der davon ausging, die Mitgliedstaaten seien immer dann an europäische Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze der EG gebunden, wenn sie "im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts" handelten.[6] Von dieser "offenen Suchformel"[7] ausgehend hatte das Gericht zwei Fallgruppen der grundrechtlichen Bindung der Mitgliedstaaten herausgearbeitet: Nach der sog. "Wachauf"-Rechtsprechung sollten europäische Grundrechte auf nationale Hoheitsakte anwendbar sein, wenn diese in administrativer oder judikativer Weise Gemeinschaftsrecht gleichsam als "verlängerter Arm"[8] der Gemeinschaft durchführten.[9] Für Aufsehen sorgte indes die zweite vom EuGH entwickelte Fallgruppe: Die Mitgliedstaaten sollten mittelbar auch dann an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sein, wenn innerstaatliche Maßnahmen zu einer Einschränkung von Grundfreiheiten führten.[10] Im Rahmen dieser sog. "ERT"-Rechtsprechung weitete der EuGH den Anwendungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte in Bezug auf innerstaatliche Maßnahmen so weit aus, dass dies nach Ansicht vieler einer weitreichenden direkten gemeinschaftsgrundrechtlichen Bindung der Mitgliedstaaten nahekam.[11]

Nach einer Ansicht wurde Art. 51 Abs. 1 GRCh vom Verfassungskonvent vor diesem Hintergrund ganz bewusst geschaffen, um die Kompetenz des EuGH zur Grundrechtskontrolle zu begrenzen und den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte enger zu fassen.[12] Dafür spricht u.a. die Tatsache, dass der Grundrechtekonvent es abgelehnt hatte, den Art. 51 Abs. 1 GRCh in Anlehnung an die "ERT"-Entscheidung so zu formulieren, dass die GRCh "im Anwendungsbereich des Unionsrechts" anwendbar sei. Er hat sich stattdessen für den als restriktiver empfundenen Begriff der "Durchführung des Rechts der Union" entschieden.[13] Die überwiegende Auffassung nimmt hingegen mit beachtlichen Argumenten an, dass sich aus der Entstehungsgeschichte der GRCh keine Absicht des Gesetzgebers entnehmen lasse, die extensive "ERT"-Rechtsprechung des EuGH zu korrigieren.[14] Als weitgehend konsentiert dürfte sich davon unabhängig das Folgende festhalten lassen: Die GRCh ist anwendbar, soweit die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Einzelfall exekutiv oder im Rahmen der Judikative anwenden und zwar auch dann, wenn es sich um nationales Recht handelt, das eine Richtlinie oder einen Rahmenbeschluss umsetzt.[15] Nicht anwendbar ist sie hingegen bei nur entfernten Bezügen des Regelungsgegenstands zum Recht der Union,[16] insbesondere lässt sich die Annahme

des Kriteriums der "Durchführung" von Unionsrecht i.S.v. Art. 51 Abs. 1 GRCh nicht allein darauf stützten, dass die Union die Rechtsetzungskompetenz in einem Sachgebiet hat.[17]

2. Herangehensweise des EuGH in der "Fransson"-Entscheidung

In der "Fransson"-Entscheidung sieht der EuGH sich von Art. 51 Abs. 1 GRCh ausdrücklich nicht daran gehindert, an seine bisherige Rechtsprechung zum Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte anzuknüpfen. Unter Berufung auf die Leerformel, wonach der Anwendungsbereich der GRCh mit dem "Anwendungsbereich des Unionsrecht" identisch sei,[18] hält das Gericht den Anwendungsbereich der GRCh - und damit seine eigene Prüfungskompetenz - in dem Fall deswegen für eröffnet, weil die Sanktionierung von Umsatzsteuervergehen nach schwedischem Strafrecht eine Durchführung der Unionsnormen Art. 2, 250 Abs. 1, 273 MwStSystRL[19] sowie Art. 325 AEUV darstelle.[20]

Diese Begründung ist hinsichtlich der Vorschriften der MwStSystRL insofern bedenkenswert, als die genannten Normen lediglich regeln, welche Umsätze von den Mitgliedstaaten für steuerbar erklärt werden müssen (Art. 2), dass eine Pflicht zur Steuererklärung überhaupt geschaffen werden muss (Art. 250 Abs. 1) und dass Steuerbetrug grundsätzlich zu bekämpfen ist (Art. 273). Bestimmtere inhaltliche Aussagen über die im "Fransson"-Verfahren einschlägigen Steuer- und Strafvorschriften treffen die Richtliniennormen nicht. Ähnlich weit entfernt erscheint der Bezug von Art. 325 AEUV zu den nationalen Normen, die das schwedische Gericht anwenden wollte. Es genügte dem EuGH insofern, dass das Umsatzsteueraufkommen der Mitgliedstaaten gem. Art. 2 Abs. 1 EGEigenmittelBeschl[21] Grundlage für die Berechnung der Eigenmittel der Union ist, deren finanzielle Interessen die Mitgliedstaaten nach Art. 325 AEUV zu schützen verpflichtet sind. Die Anwendung von nationalen Normen zur Sanktionierung von Umsatzsteuerhinterziehung sei folglich eine Durchführung von Art. 325 AEUV.[22] Auf einen subjektiven Umsetzungswillen des schwedischen Gesetzgebers komme es dabei nicht an.[23]

3. Bewertung

Wie schon in der Darstellung der Entscheidungsbegründung angeklungen sein mag, erzeugen die Ausführungen des EuGH jedenfalls prima facie Unmut: Allzu holzschnittartig scheint das Gericht den Anwendungsbereichs der GRCh zu begründen, die Verknüpfung der verfahrensgegenständlichen nationalen Normen mit dem Recht der Union ist denkbar schwach.[24]

Dass Schweden mit seinem Umsatzsteuerstrafrecht seine Umsetzungsverpflichtung aus Art. 2, 250 Abs. 1, 273 MwStSystRL und aus Art. 325 AEUV erfüllt, erscheint dahingegen einleuchtend, schließlich würde es sich in einem fiktiven Vertragsverletzungsverfahren wohl kaum vorwerfen lassen, es habe diesbezüglich seine Umsetzungspflichten verletzt, sondern zum Beweis seiner Pflichterfüllung gerade auf jene steuerstrafrechtlichen Normen verweisen, die im "Fransson"-Verfahren angewendet wurden.

Die wohl h.M. geht davon aus, dass die Mitgliedstaaten bei der Anwendung von nationalem Recht auch dann an die GRCh gebunden sind, wenn die Schaffung des nationalen Rechts durch eine unionsrechtliche Umsetzungspflicht zwar veranlasst wurde, sich der Mitgliedstaat dabei jedoch innerhalb seines Umsetzungsspielraums bewegt.[25] Von dieser Position aus liegt der Schritt nahe, ebenfalls dann von einer "Durchführung" von Unionsrechts zu sprechen, wenn die entsprechende Unionsnorm den Mitgliedstaaten überhaupt keine inhaltlichen Vorgaben macht, sondern ihnen lediglich die Pflicht auferlegt, das betreffende Sachgebiet überhaupt zu regeln. Dafür spricht im strafrechtlichen Kontext auch, dass es klassisch-rechtsstaatlichen Vorstellungen zuwiderlaufen würde, es der Union zwar einerseits zu ermöglichen, den Mitgliedstaaten Mindestvorgaben hinsichtlich des "Ob" der Strafbarkeit (wie z.B. in Art. 325 AEUV) zu machen, dies aber andererseits nicht durch grundrechtliche Schranken zu flankieren. Ein entsprechender Gleichlauf von Strafvorgabekompetenz und grundrechtlicher Flankierung ist sicher wünschenswert. Fraglich ist aber, ob sich eine solche Ausweitung des Grundrechtsschutzes auch durch eine legislative Grundlage legitimieren lässt. Bedenkt man, dass Art. 51 GRCh ungeachtet des Streits um seine Entstehungsgeschichte jedenfalls die weitere Ausdehnung des Anwendungsbereichs der GRCh begrenzen wollte, so ist das aber jedenfalls nicht offensichtlich. Der EuGH hätte zumindest gut daran getan, sich mit den im Verfahren geäußerten Bedenken[26] argumentativ auseinanderzusetzen.[27]

Lässt man es für eine Anwendbarkeit der GRCh nicht genügen, dass die Union ohne weitere inhaltliche Details

lediglich das "Ob" einer Strafbarkeit regelt und stellt stattdessen darauf ab, ob die zugrunde liegende Unionsnorm die Schwelle eines gewissen materiellen Regelungsgehalts[28] überschreitet, so würden sich daraus ohne Zweifel schwierige Abgrenzungsfragen ergeben. Insofern könnte man die Entscheidung des EuGH, diesen Aspekt nicht weiter zu thematisieren, also durchaus als Beitrag zur Rechtssicherheit begrüßen.[29]

Zudem entfernt sich der EuGH im "Fransson"-Fall keineswegs so weit von der weitgehend anerkannten Auslegung das Art. 51 Abs. 1 GRCh,[30] dass von einem offensichtlichen Verstoß gegen das Kompetenzgefüge innerhalb der Union und damit von einem ultra-vires-Handeln im Sinne der entsprechenden Definition des BVerfG gesprochen werden könnte.[31] Vielmehr scheint das Gericht ‑ in recht forschem Ton ‑ seine bisherige Rechtsprechung fortgeführt zu haben, wogegen selbst unter Zugrundelegung der Entstehungsgeschichte von Art. 51 Abs. 1 GRCh jedenfalls keine zwingenden Einwände erhoben werden können.[32]

IV. Folgen für die Gerichtshierachien

Fraglich ist, ob der EuGH seine grundrechtliche Prüfungskompetenz auch in anderen Sachgebieten derartig weit in die Sphäre mitgliedstaatlicher Eigenverantwortung verschieben wird, wie er es in der "Fransson"-Entscheidung getan hat. Daran könnte man zweifeln, wenn man bedenkt, dass das Gericht letztlich einen konkreten Einzelfall zu entscheiden hatte, in dem mit dem Umsatzsteuerrecht ‑ wenn auch entfernt ‑ eine Kernmaterie des europäischen Binnenmarkts berührt war. Auf anderen Themenfeldern hätte das Gericht sich wohlmöglich zurückhaltender gegeben.

Der Ton des Urteils sowie die abstrakt-dogmatische Begründung, die er der Entscheidung zugrunde gelegt hat, lassen jedoch eher darauf schließen, dass der EuGH bei der Anwendung des GRCh zukünftig ein (noch) größeres Selbstvertrauen an den Tag legen könnte, als dies bisher der Fall war. Bemerkenswert ist dabei, dass der EuGH den nationalen Gerichten gleichzeitig einen sehr weiten Beurteilungsspielraum einzuräumen scheint, was die Subsumtion unter das jeweilige Grundrecht angeht. So sei die Frage, ob der verwaltungsrechtliche Steuerzuschlag sich im Kontext des schwedischen Rechtssystems bereits als Strafe darstellt und eine erneute Verurteilung deshalb gegen den europäischen ne-bis-in-idem-Grundsatz verstoßen würde, vom nationalen schwedischen Gericht zu prüfen.[33] Selbst wenn in der "Fransson"-Entscheidung also eine an sich begrüßenswerte Tendenz zu sehen ist, den europäischen Grundrechtsschutz mittelfristig um eine Ebene zu erweitern, so wird dieser Effekt durch das Urteil auch gleichzeitig wieder relativiert.

Trotzdem könnte die Entscheidung in Ländern, in denen den Gerichten von Verfassung s wegen keine Normverwerfungskompetenz zukommt (z.B. in Schweden oder in Großbritannien), eine Stärkung der Judikative bedeuten: Diese Gerichte bekommen durch eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs der GRCh ein Instrument an die Hand, mit dem sie nationales Recht in Fällen für unanwendbar erklären können, in denen ihnen ein solches Vorgehen mit den herkömmlichen nationalen Mitteln der Gesetzesauslegung nicht möglich wäre.[34] Darüber hinaus könnten in allen Ländern die Fachgerichte profitieren, die im unteren Teil der nationalen Gerichtshierarchie angesiedelt sind, weil sie unabhängig von der Position der nationalen Obergerichte Vorlageverfahren vor dem EuGH einleiten und dabei durch die Formulierung der Vorlagefragen im Einzelfall erheblichen Einfluss auf den weiteren Verfahrensgang nehmen können. Die Ausübung des Anwendungsspielraums, den der EuGH den Mitgliedstaaten bei der Subsumtion unter die Vorschriften der Charta einräumt, wird allerdings regelmäßig durch die höchsten Gerichte in den Mitgliedstaaten erfolgen.

Unklar bleibt schließlich, in welchem Verhältnis die Grundrechtskontrolle des EuGH in Zukunft zur entsprechenden Kompetenz der nationalen Verfassungsgerichte stehen wird. Droht eine Marginalisierung des BVerfG?[35] Zu dieser Frage formuliert der EuGH in der "Fransson"-Entscheidung sowie in der am gleichen Tag ergangenen Entscheidung in Sachen " Melloni" beinahe wortgleich, dass Art. 53 GRCh es den Mitgliedstaaten erlaube, im Einzelfall nationale Schutzstandards für Grundrechte anzuwenden, wenn dadurch "das Schutzniveau der Charta" nicht "beeinträchtigt" werde und es den nationalen Verfassungsgerichten im Einzelfall nicht ohnehin schon wegen des Vorrangs des Unionsrechts (z.B. durch eine einschlägige Richtlinienvorschrift) an einer Prüfungskompetenz mangele. [36] Bei mehrpoligen Grundrechtskollisionen beeinträchtigt eine höhere Gewichtung einer Grundrechtsposition automatisch den Schutz der entgegenstehenden Grundrechtsposition, so dass die nationalen Verfassungsgerichte in solchen Fällen wohl eine überlegene Prüfungskompetenz des EuGH anerkennen müssten.[37] Im Strafrecht liegt nach klassischer Lesart jedoch nur ein zweipoliges Verhältnis zwischen Bürger

und Staat vor, so dass ein ggü. der GRCh überschießender nationaler Grundrechtsschutz hier denkbar ist. [38]

V. Auswirkungen auf das Verhältnis der Mitgliedstaaten zur EMRK

Ein rechtlicher Nebenschauplatz der "Fransson"-Entscheidung findet sich schließlich in der Antwort des EuGH auf die erste Vorlagefrage des schwedischen Tatgerichts, die eine Klarstellung zum Verhältnis der nationalen Grundrechtsordnungen zur EMRK enthält. Um dies zu erkennen, ist folgende Vorüberlegung nötig: Art. 52 Abs. 3 GRCh[39] wird von vielen Stimmen in der Literatur so verstanden, dass er - sofern sich beide Normkataloge in ihrer Anwendung überschneiden ‑ die GRCh mit den Wertungen der EMRK auflädt, wie sie durch die Rechtsprechung des EGMR geprägt sind. [40] Bedenkt man nun, dass die GRCh in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar ist,[41] könnte man auf die Idee kommen, dass auch die EMRK über das Scharnier des Art. 52 Abs. 3 GRCh unmittelbare Anwendung in den Mitgliedstaaten findet und vermöge der dadurch erlangten "Durchschlagskraft" entgegenstehendes nationales Recht neutralisieren kann. Genau diese Vorstellung schwingt in der Formulierung des schwedischen Gericht mit, in der es ausführt, "[n]ach schwedischem Recht m[ü]ss[e]eine klare Stütze in der EMRK oder in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorhanden sein, damit ein nationales Gericht nationale Bestimmungen unangewendet lassen kann,[...][die]gegen das Verbot der Doppelbestrafung nach Art. 4 des Protokolls Nr. 7[EMRK]und damit auch[Hervorhebung d. Verf.]gegen Art. 50 der Charta verstoßen."[42] Kurz gesagt: Ein Verstoß gegen die EMRK führt zu einem Verstoß gegen die GRCh, ein Verstoß gegen die GRCh führt zur Neutralisierung kollidierender nationaler Normen.

Diesem Verständnis hatte sich der EuGH jedoch bereits in der knapp ein Jahr jüngeren Entscheidung in Sachen "Kamberaj" verschlossen[43] und stellt im Anschluss daran auch in der "Fransson"-Entscheidung nochmals klar, dass das Unionsrecht das Verhältnis zwischen EMRK und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nicht regelt und auch nicht bestimmt, "welche Konsequenzen ein nationales Gericht aus einem Widerspruch zwischen den durch die EMRK gewährleisteten Rechten und einer nationalen Rechtsvorschrift zu ziehen hat".[44] Diese Absage an eine Teilnahme der EMRK am Vorrang des Unionsrechts ist nicht verwunderlich, wenn man in Betracht zieht, dass der EuGH die EMRK dogmatisch lediglich als Rechtserkenntnisquelle betrachtet.[45] In materieller Hinsicht berücksichtigt das Gericht die Wertungen der EMRK bzw. des EGMR aber sehr wohl bei der Auslegung der GRCh,[46] und hat auch in der "Fransson"-Entscheidung die zu Art. 50 GRCh einschlägige Parallelvorschrift des Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK in seiner Entscheidungsbegründung zumindest zitiert.[47] Obwohl der EuGH eine formelle, unmittelbare Bindungswirkung der EMRK bzw. der EGMR-Entscheidungen im Innenverhältnis zwischen GRCh und nationalen Rechtsordnungen also verneint, geht von diesen Rechtsquellen jedenfalls eine starke materiell-rechtliche, mittelbare Orientierungswirkung für die Auslegung der GRCh aus.[48] Diesen Aspekt müssen die nationalen (Verfassungs-)Gerichte beachten, wenn sie die Verbindlichkeit der EMRK für die nationale Rechtsordnung z.B. mit der Begründung einschränken, diese weise lediglich völkerrechtlichen Charakter auf: Sobald in einem Strafverfahren EMRK-Rechte betroffen sind, die die GRCh parallel garantiert, sind derartige Souveränitätsvorbehalte fragwürdig, wenn man bedenkt, dass der EuGH der entsprechenden Norm der GRCh im Zweifel (mindestens) einen der EMRK entsprechenden Schutzumfang zugestehen wird und diese Norm dann in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar ist.[49] Will ein nationales Gericht eine solche Wertung nicht antizipieren, muss es zumindest ein Vorlageverfahren an den EuGH gem. Art. 267 AEUV anstreben.

VI. Fazit

Es wäre wohl übertrieben davon zu sprechen, das Urteil in der Rechtssache "Fransson" hätte das System des Grundrechteschutzes in Europa in seinen Grundfesten erschüttert. Nicht von der Hand zu weisen ist indes, dass der EuGH sich in Fortentwicklung seiner bisherigen Rechtsprechung zum Anwendungsbereich der EU-Grundrechte weit in den genuin mitgliedstaatlichen Kompetenzbereich der Strafgewalt vorgewagt hat. Für die Frage, ob die GRCh auf Hoheitsakte der Mitgliedstaaten anwendbar ist, kann vor diesem Hintergrund zukünftig nur eine verlässliche Regel gelten: Im Zweifel ist die Charta anwendbar.

Gleichzeitig hat der EuGH den nationalen Gerichten einen weiten Entscheidungsspielraum bei der Frage eingeräumt, wann eine unzulässige Doppelbestrafung i.S.d.

Art. 50 GRCh vorliegt. Es steht zu vermuten, dass er zukünftig in Bezug auf andere Grundrechte einen ähnlichen Standpunkt einnehmen wird, denn sich unionsweit als grundre chtliche Superrevisionsinstanz zu gerieren, läge wohl schon aus Gründen der Kapazität nicht im Interesse des Gerichts. Mit Spannung bleibt jedoch abzuwarten, wie sich das Verhältnis zwischen dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten in Hinblick auf die GRCh entwickeln wird. Mit der "Fransson"-Entscheidung hat ersterer jedenfalls ein deutliches Signal gesetzt, die Entwicklung des Grundrechtsschutzes in seiner europäischen Dimension fortan forcieren zu wollen.


[1] EuGH v. 26. Februar 2013 C-617/10 - Fransson = HRRS 2013, Nr. 335.

[2] Hipp , DER SPIEGEL 10/2013, S. 39 geht davon aus, die Entscheidung "erschütter[e]das Grundrechtssystem in Europa". Ähnlich Cremer, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. März 2013, Nr. 55, S. 19, der aufgrund des Urteils eine "Neujustierung" des Verhältnisses zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten für notwendig hält.

[3] EuGH C-617/10, Rn. 12 f. - Fransson.

[4] EuGH C-617/10, Rn. 15 - Fransson.

[5] Ausführlich zur Entstehungsgeschichte Borowsky in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. (2010), Art. 51 Rn. 2 ff.

[6] EuGH Slg. 1991, I-2925, 2964 Rn. 42 - ERT.

[7] Scheuing EuR 2005, 163.

[8] Vgl. Borowsky a.a.O. (Fn. 5 ), Art. 51 Rn. 25.

[9] Grundlegend EuGH Slg. 1989, 2609, 2639 Rn. 19 ‑ Wachauf.

[10] Grundlegend EuGH Slg. 1991, I-2925, 2964 Rn. 42 ff. ‑ ERT.

[11] Dazu Folz in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht (2012), Art. 51 GRCh Rn. 5 m.w.N. Zu den Einzelheiten der Entwicklung der EuGH-Judikatur nach dem "ERT"-Fall Scheuing EuR 2005, 162, 164 ff.

[12]  Deutlich Borowsky a.a.O. (Fn. 5 ), Art. 51 Rn. 24 f., 29 f.; differenzierend Ladenburger in: Tettinger/Stern (Hrsg.), EU-GRCh (2006), Art. 51 Rn. 9, 25 ff., der aber davon ausgeht, dass die GRCh jedenfalls nicht schon "aufgrund einer wie immer gearteten Nähe zu Recht, Kompetenzen oder Politiken der Union" Anwendung finden könne; Lindner EuR 2008, 786, 791; Streinz/Michl in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. (2012), Art. 51 GRCh Rn. 9.

[13]   Vgl. Ladenburger a.a.O. (Fn. 12 ), Art. 51 Rn. 22 .

[14]  Ehlers in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. (2009), § 14 V 3 Rn. 53; Grabenwarter EuGRZ 2004, 563, 564 f.; Hatje in: Schwarze et. al. (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. (2012), Art. 51 GRCh Rn. 18; wohl auch Jarass, Charta EU-Grundrechte, 2010, Art. 51 Rn. 10; Nowak/Heselhaus in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006), § 6 Rn. 48; Scheuing EuR 2005, 162, 182 ff.

[15]  So vor der Einführung der GRCh auch schon EuGH Slg. 1996, I-6609, Rn. 25 ‑ Strafverfahren gegen X; Borowsky a.a.O. (Fn. 5 ), Art. 51 Rn. 27; Ehlers a.a.O. (Fn. 14 ), § 14 V 2 Rn. 51; Folz a.a.O. (Fn.  11 ), Art. 51 Rn. 5; Jarass a.a.O. (Fn. 14 ), Art. 51 Rn. 12; Ladenburger a.a.O. (Fn.  12 ), Art. 51 Rn. 35. Ob die GRCh auch dann schon anwendbar ist, wenn eine nationale Eingriffsnorm zwar in Umsetzung einer Richtlinie gesetzt wird, sich dabei aber noch in einem nationalen Umsetzungsspielraum bewegt, ist umstritten, eine Übersicht dazu bei Kingreen in: Callies/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. (2011), Art. 51 GRCh Rn. 10 ff. m.w.N.

[16] Jarass a.a.O. (Fn. 14 ), Art. 51 Rn. 16.; Kingreen a.a.O. (Fn. 15 ), Art. 51 GRCh Rn. 12 jeweils mit Beispielen für nicht ausreichend enge Bezüge nationaler Normen zum Unionsrecht. S. auch o. Ladenburger in Fn. 12 .

[17] Jarass a.a.O. (Fn. 14 ), Art. 51 Rn. 22; Ladenburger a.a.O. (Fn. 12 ), Art. 51 Rn. 28.

[18] EuGH C-617/10, Rn. 19 ff. - Fransson, wörtlich in Rn. 21. Weiß EuZW 2013, 287, 288 sieht darin eine Überschreitung des Wortlauts von Art. 51 GRCh.

[19] Richtlinie 2006/12/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl.-EG Nr. L 347, S. 1).

[20] EuGH C-617/10, Rn. 25 f. - Fransson.

[21] Beschluss 2007/436/EG, Euratom des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften (ABl.-EG Nr. L 163, S. 17).

[22] Ausdrücklich EuGH C-617/10, Rn. 26 - Fransson.

[23] EuGH C-617/10, Rn. 28 - Fransson.

[24]  Ablehnend auch GA Villalón in seinen Schlussanträgen vom 12. Juni 2012, Rn. 57 ff.: Der Zusammenhang zwischen den verfahrensgegenständlichen Normen und dem Unionsrecht sei "äußerst schwach und reich[e]keineswegs aus, um ein eindeutig feststellbares Interesse der Union an der Gewährleistung dieses konkreten Grundrechts[Art. 50 GRCH]zu begründen." Kritisch haben sich auch die schwedische, die tschechische, die dänische, die irische und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission (!) geäußert, vgl. EuGH C-617/10, Rn. 16 - Fransson .

[25] Vgl. für eine Übersicht über den Streitstand nochmals Kingreen a.a.O. (Fn. 15 ), Art. 51 GRCh Rn. 10 ff.

[26] S.o. Fn. 24 .

[27] Zu diesem Gesichtspunkt ebenfalls kritisch Weiß EuZW 2013, 287, 288.

[28] GA Villalón spricht in diesem Zusammenhang von einer "Präsenz des Rechts der Union", die "nachhaltig genug[sein müsse], die Prüfung[...][der]Vereinbarkeit[der nationalen Vorschriften]mit dem Recht der Union[d.h. der GRCh]und mithin durch den Gerichtshof rechtfertigen zu können", Schlussanträge C-617/10, Rn. 27 - Fransson .

[29] So Rathke in: http://www.juwiss.de/mangold-reloaded/ , zuletzt abgerufen am 20. April 2013.

[30] S.o. III. 1.

[31] Vgl. BVerfGE 126, 286. Mit der gleichen Einschätzung Weiß EuZW 2013, 287, 289.

[32] S.o. III. 1. in Fn. 12 - 14 .

[33] Ausdrücklich EuGH C-617/10, Rn. 37 ‑ Fransson.

[34] Thym in: Verfassungsblog v. 28. Februar 2013, http://goo.gl/MNvrl , zuletzt abgerufen am 20. April 2013. Ähnlich Jakab in: Verfassungsblog v. 27. März 2013, http://goo.gl/WBtCA , zuletzt abgerufen am 20. April 2013.

[35] Zu den diesbezüglichen Befürchtungen, die in der Wissenschaft und in der Politik bereits im Zuge der "ERT"-Rechtsprechung teilweise geäußert wurden, Borowsky a.a.O. (Fn. 5 ), Art. 51 Rn 24a m.w.N.

[36] EuGH C-617/10, Rn. 29 ‑ Fransson; EuGH v. 26. Februar 2013 C399/11, Rz. 60 ‑ Melloni =. HRRS 2013 Nr. 223.

[37] Vgl. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta (2005), S. 417 f. Umstritten ist allerdings, ob die GRCh überhaupt auf mehrpolige Grundrechtskonflikte anwendbar ist, einführend Ladenburger a.a.O. (Fn. 12 ), Art. 51 Rn. 11 ff.

[38] Skeptisch, ob ein Vergleich der beiden Schutzstandards in der Praxis möglich ist, Bühler,   (Fn. 37 ), S. 417 ff.

[39] "Soweit die Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt."

[40] Callewaert EuGRZ 2003, 198, 200; eingeschränkt Hilf/Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 48. Erg.-Lfg. (2012), Art. 6 EUV Rn. 48; Naumann EuR 2008, 424 (passim); Winkler EuGRZ 2001, 18, 23 ff. Borowsky a.a.O. (Fn. 5 ), Art. 52 Rn. 34 geht sogar von einem "materiellen Beitritt" der EU zur EMRK aus.

[41] Jarass a.a.O. (Fn. 14 ), Art. 51 Rn. 13.

[42] EuGH C-617/10, Rn. 15 ‑ Fransson.

[43] EuGH v. 24. April 2012 C-571/10, Rn. 62 ‑ Kamberaj.

[44] EuGH C-617/10, Rn. 44 ‑ Fransson.

[45] EuGH Slg. 1996, I-1759, 1789 Rn. 33 ff. ‑ Gutachten 2/94; vgl. Kingreen a.a.O. (Fn. 15 ), Art. 52 GRCh Rn. 33.

[46] Zur Entwicklung dieser Rechtsprechung Kingreen a.a.O. (Fn. 15 ), Art. 52 GRCh Rn. 32.

[47] Vgl. EuGH C-617/10, Rn. 3. Die einschlägige EGMR-Rechtsprechung zu parallelen straf- und verwaltungsrechtlichen Sanktionierungen bleibt allerdings unerwähnt, vgl. Weiß EuZW, 287, 291.

[48] Gaede in: Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), Enzyklopädie des Europarechts, Band IX, Böse (Hrsg.) Europäisches Strafrecht (2013 im Erscheinen), § 9 Rn. 28.

[49] Vgl. Gaede a.a.O. (Fn. 48 ), § 9 Rn. 19.