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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2013
14. Jahrgang
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Von Prof. Dr. Volker Erb, Universität Mainz
Der BGH wurde - wieder einmal - mit einem Fall konfrontiert, in dem die Vorinstanz die Erforderlichkeit der Verteidigung i.S. von § 32 StGB mit einer lebensfremden Unterstellung milderer Abwehrmöglichkeiten verneint hatte. Die Unhaltbarkeit eines solchen Vorgehens hat der 4. Strafsenat in der vorliegenden Entscheidung anhand der Grundsätze, die nach ständiger Rechtsprechung des BGH für die Beurteilung der notwehrrechtlichen Erforderlichkeit eines tödlichen (Stich‑)Waffeneinsatzes maßgeblich sind, zutreffend aufgezeigt.
1. Zwei der vom Landgericht angeführten Alternativen konnte er dabei unabhängig von der Frage, ob sie aus der maßgeblichen ex-ante-Perspektive bei realistischer Betrachtung erfolgversprechend waren, schon deshalb verwerfen, weil sie im Vorfeld der Notwehrtat verortet waren, für die Erforderlichkeit der Verteidigung aber ausschließlich maßgeblich ist, ob zur Zeit der Vornahme der Notwehrhandlung mildere Mittel zur Verfügung stehen. [1] Ob der Ausspruch einer Warnung vor dem Messer schon zu einem Zeitpunkt, als der Angreifer den Angeklagten noch nicht erreicht hatte, oder (als gegensätzlicher Ansatz - zu einer Beschwichtigung dürfte die Drohung mit einem Messer in einer solchen Situation schwerlich geeignet sein) ein deeskalierendes Einreden auf den Angreifer diesen von einem gewalttätigen Vorgehen gegen den Angeklagten voraussichtlich abhalten konnte, spielte also im Ergebnis keine Rolle.
2. Kern der landgerichtlichen Argumentation war die Annahme, der Angeklagte hätte den Angriff mit hinreichenden Erfolgsaussichten und ohne nennenswerte Eigengefährdung auch mit bloßen Fäusten abwehren, das Messer "als Schlagwerkzeug einsetzen" oder den Angriff "durch einen weniger wuchtigen Stich in eine nicht so sensible Körperregion" abwehren können. Dafür fehlte es indessen, wie der Senat zutreffend bemerkt, "an einer tragfähigen Grundlage": Die Wirksamkeit eines minder gefährlichen Messereinsatzes hatte die Kammer einfach nur behauptet, eine Erläuterung, wie sie sich den effektiven Einsatz des Messers als "Schlagwerkzeug" vorstellt, war sie schuldig geblieben, und für die Möglichkeit einer sicheren Verteidigung mit den Fäusten hatte sie nichts weiter aufzubieten als den Hinweis auf die größere Körperlänge des Angeklagten und das Fehlen einer "situationsbedingten körperlichen Schwächung". Der voraussichtliche Ausgang einer Schlägerei hängt aber in erster Linie nicht von den Größen- und Gewichtsverhältnissen der Beteiligten ab, sondern von deren individuellen Fertigkeiten und Erfahrungen in der Führung solcher Auseinandersetzungen, zu denen das Landgericht keine Feststellungen getroffen hatte.
a) Dass das Landgericht seiner einseitig an den Körpermaßen der Beteiligten orientierten Argumentation insoweit einen unzutreffenden Erfahrungssatz zugrunde legte und eine Auseinandersetzung mit naheliegenden Geschehensalternativen vermissen ließ (was den Senat zur Aufhebung des Urteils berechtigte und verpflichtete, d.h. es liegt keinesfalls ein unzulässiger Eingriff in die freie Beweiswürdigung des Tatgerichts vor[2]), leuchtet nach dem gesunden Menschenverstand unmittelbar ein. Dabei werden die tatrichterlichen Spekulationen im vorliegenden Fall im Übrigen schon durch den weiteren Verlauf des Geschehens ad absurdum geführt: Wenn es dem Angreifer trotz seiner tödlichen Stichverletzung noch gelang, den Angeklagten niederzuschlagen und mindestens einmal gegen den Oberkörper zu treten, wie hätte er
dem Angeklagten dann zusetzen können, wenn sich dieser in einer bloßen Faustabwehr versucht, mit dem Messer nur gedroht, den Versuch seines Einsatzes als "Schlagwerkzeug" unternommen oder "nicht mit einer derartigen Wucht auf eine so sensible Körperregion" eingestochen hätte?
b) An dieser Stelle sei freilich noch einmal daran erinnert, wie unzulänglich das Erfahrungswissen um die Effektivität bzw. Ineffektivität zurückhaltender Verteidigungsstrategien gegen mutmaßlich kampferprobte Schläger in den Köpfen mancher Tatrichter verankert ist, wie nicht nur der vorliegende Fall zeigt,[3] und auch der 1. Strafsenat des BGH hat in einem Parallelfall die (im dortigen Sachverhalt noch offenkundiger zutage tretende) Unhaltbarkeit des unmittelbaren Schlusses von den Körpermaßen auf eine sichere Kampfüberlegenheit übersehen.[4] Die Sachkunde, deren es zur realistischen Bewertung der Chancen und Risiken bedarf, die für das Opfer eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs mit der Wahl eines milderen Verteidigungsmittels verbunden sind, ist also offenbar nicht bei allen Gerichten vorhanden. Wo im Verlauf einer Hauptverhandlung ihr Fehlen erkennbar wird, sollte sich die Verteidigung deshalb bemühen, durch einen Beweisantrag auf Vernehmung eines einschlägig ausgewiesenen Sachverständigen (Kampfsportlehrer, Polizeieinsatztrainer) für Abhilfe zu sorgen. Ein solches Sachverständigengutachten wird die Richtigkeit der Annahme bestätigen, wonach den individuellen Fertigkeiten und Erfahrungen in körperlichen Auseinandersetzungen für deren mutmaßlichen Ausgang eine weitaus größere Bedeutung zukommt als der Statur der Beteiligten, und wonach der Versuch eines Normalbürgers, mit bloßen Fäusten, der Androhung oder auch der zurückhaltenden Ausführung eines Messereinsatzes den Angriff eines versierten Schlägers abzuwehren, mit völlig unkalkulierbaren Risiken verbunden ist.[5]
Der vorliegende Fall repräsentiert nun freilich nicht die Konstellation, in der jemand ebenso unverschuldet wie unvermittelt von einem Gewalttäter attackiert wird, und in der einem Staat, der sich nicht zum Komplizen des Unrechts machen will, gar nichts anderes übrig bleibt, als eine massive Gegenwehr, die zur Minimierung des Risikos eigener Verletzungen des Angriffsopfers (oder ggf. eines Nothelfers) erforderlich ist, auch dann zu erlauben, wenn sie auf einem überraschenden lebensgefährlichen Waffeneinsatz basiert.[6] Sowohl die - anscheinend sogar mehreren - Vorstrafen des Angeklagten wegen Körperverletzung "zum Nachteil deutlich jüngerer Kinder" (!) als auch sein provozierendes Verhalten im Rahmen der vorangegangenen verbalen Auseinandersetzung, das auch definitiv rechtswidrige Komponenten (jedenfalls in Bezug auf die beleidigende Äußerung "Wichser") enthielt, lassen vielmehr auf eine vorhandene Bereitschaft zu rechtswidriger Gewalt und auf eine vorwerfbare Mitverursachung der Auseinandersetzung schließen. Dass es vor einem solchen Hintergrund schwer erträglich erscheint, dem Angegriffenen zu erlauben, bei der Verteidigung auch dann "auf Nummer sicher" zu gehen, wenn dies auf die überraschende Tötung des Kontrahenten hinausläuft, liegt auf der Hand. Die Lösung dieses Problems kann freilich nicht in einer Verzerrung des Sachverhalts durch realitätsferne Spekulationen über angeblich zur Verfügung stehende mildere Verteidigungsmöglichkeiten liegen, bei denen sich die Frage aufdrängt, ob der zuständige Dezernent bei der Staatsanwaltschaft und die Mitglieder des erkennenden Gerichts denn selbst ernsthaft an deren sichere (!) Effektivität geglaubt haben.[7] Der richtige Ansatz liegt vielmehr ausschließlich in der Betrachtung des Vorgeschehens.
1. Kein rechtsstaatlich gangbarer Weg liegt dabei in einer (vom Senat zu Recht nicht erwogenen) an der kriminellen Vorgeschichte des Angeklagten als solcher anknüpfenden Beschränkung des Notwehrrechts.
a) Ein derartiger Ansatz, wie er in Stellungnahmen zu einem freisprechenden Urteils des 2. Strafsenat des BGH[8] im Falle eines Rockers der "Hells Angels", der in der Annahme eines Mordanschlags durch Mitglieder einer rivalisierenden Vereinigung durch seine Haustür hindurch einen Polizeibeamten erschossen hatte, z.T. vertreten wurde, liefe auf die Etablierung eines Zwei-Klassen-Notwehrrechts hinaus.[9] Dies gilt unabhängig davon, ob die Zugehörigkeit zu bestimmten Personenkreisen schon per se eine Einschränkung des Notwehrrechts auslösen soll,[10] oder ob man dies nur für den Fall annimmt, dass ein entsprechend schlecht beleumundeter Notwehrtäter einen vorhersehbaren Angriff aus dem kriminellen Kontext, in den er verstrickt ist, nicht durch Inanspruchnahme polizeilicher Hilfe vermeidet.[11] Wenn das letztge-
nannte Erfordernis speziell und ausschließlich für "Straftäter" gelten soll, hängt die Entscheidung, ob ein in gleichartigen Situationen praktiziertes identisches Verhalten (nämlich die Wahl eines sicheren Verteidigungsmittels zur Abwehr eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs) als rechtmäßig eingestuft oder mit langjähriger Freiheitsstrafe geahndet wird, im Ergebnis nämlich auch in dieser Variante des Ansatzes vom Status ab, den man der betreffenden Person aufgrund ihrer Lebensführung zuschreibt.[12]
b) Konzepte der vorgenannten Art führen also zwangsläufig dazu, dass Menschen bei der Beurteilung der Strafbarkeit einer bestimmten Verhaltensweise aufgrund der diffusen Zuordnung ihrer Person zu einem "kriminellen Kontext" diskriminiert werden. Solches verbietet sich in einem Rechtsstaat unabhängig davon, ob man in diesem Zusammenhang - was freilich nahe liegt - von "Feindstrafrecht" sprechen möchte,[13] und zwar schon deshalb, weil eine willkürfreie Zuschreibung der maßgeblichen Eigenschaft schlechthin unmöglich erscheint: Was sollte denn darüber entscheiden, ob eine derartige Statusminderung des Notwehrtäters vorliegt? Sind es bestimmte Vorstrafen? Wenn ja: Welche Delikte kommen in Betracht, wie hoch müssen die Strafen gewesen sein und wie lange darf die letzte Verurteilung zurückliegen? Während man angesichts der Vorstrafen des Angeklagten im vorliegenden Fall mit einem entsprechend zugeschnittenen Kriterium vielleicht noch weiterkäme, hätte es in dem Fall, der den Anlass für besagte Thesen zu einer neuen Einschränkung des Notwehrrechts gab, deshalb versagt, weil der in jenem Verfahren angeklagte Rocker gerade nicht vorbestraft war. Also auch Taten einbeziehen, die noch nicht abgeurteilt sind? Wenn es sich dabei aber lediglich um Nötigungen handelt, wie sie im Zusammenhang mit der Entstehung der Notwehrlage in keiner Weise relevant waren (so wiederum im Rocker-Fall)? Das Notwehrrecht beschränken, weil sich der Angeklagte einer Vereinigung angeschlossen hat, die kriminell ist und einen organisierten "Bandenkrieg" betreibt? Wer soll dann aber entscheiden (abgesehen von den seltenen Fällen, in denen im laufenden Verfahren zugleich die Voraussetzungen von § 129 StGB nachgewiesen werden können oder ein bestandskräftiges Verbot der Vereinigung existiert), ob diese Umstände vorliegen? Etwa die Polizei, die einschlägige Rockerclubs zwar entsprechend einschätzt, dafür aber leider nur selten gerichtsfeste Beweise anführen kann, weshalb die meisten "Chapter" bzw. "Charter" der einschlägigen Gruppierungen bislang denn auch gerade nicht verboten sind?
c) Das alles zeigt: Ein gleichermaßen sachgerechtes und griffiges, rechtsstaatlichen Anforderungen auch nur annährend genügendes Kriterium, nach dem man eine von der konkreten Tatsituation losgelöste notwehrrechtliche Unterscheidung zwischen "Guten", die sich einem Angriff stellen und ihn mit allen erforderlichen Mitteln ohne Eigengefährdung abwehren dürfen, und "Bösen", bei denen das nicht ohne weiteres der Fall ist, treffen könnte, gibt es nicht.[14] Dementsprechend ist es auch unmöglich, die von Burchard dargestellte notwehrrechtliche Diskriminierung "Krimineller" in den USA[15] von dem "‚feindstrafrechtlichen' Populismus" zu befreien, den er in Bezug auf die dortige Handhabung selbst konstatiert.[16] Es ist deshalb nachdrücklich zu begrüßen, dass der BGH solchen Konzepten bislang keine Beachtung geschenkt hat.
2. Wenn das Vorleben des Angeklagten bei der notwehrrechtlichen Behandlung dieses und anderer Fälle nach alledem noch eine Rolle spielen könnte, dann allenfalls in mittelbarer Form bei der tatsächlichen Bewertung des Sachverhalts. Eine frühere Auffälligkeit als Schläger ermöglicht nämlich u.U. Rückschlüsse auf die Fertigkeiten des Verteidigers, sich in entsprechenden Auseinandersetzungen zu behaupten, und kann insofern ein gewichtiges Indiz für die Annahme bilden, er hätte sich gegenüber einem bestimmten Angriff im Gegensatz zu einem nicht "kampferfahrenen" Angriffsopfer auch ohne (oder jedenfalls ohne überraschenden) lebensgefährlichen Waffeneinsatz mit hinreichender Erfolgsaussicht zur Wehr setzen können. Dafür bedarf es freilich eingehender Feststellungen, welcher Art die früheren Auseinandersetzungen waren und welche kämpferischen Fähigkeiten der spätere Notwehrtäter darin an den Tag gelegt oder erworben hat. Dass Vorstrafen wegen Körperverletzungsdelikten, bei denen er sich anscheinend an Schwächeren vergriffen hatte, hierfür jedenfalls nicht per se genügen, liegt auf der Hand; zur "Rettung" des Urteils auf diesen Aspekt zu rekurrieren, war dem Senat im Übrigen schon deshalb verwehrt, weil ihn der Tatrichter bei seinen Überlegungen zur Kampfüberlegenheit des Angeklagten überhaupt nicht berücksichtigt hatte.
3. Der zentrale Aspekt, der im vorliegenden Fall zu einer den konkreten Umständen angemessenen Ergebniskorrektur führen könnte, ist die Notwehrprovokation.
a) Ungeachtet der Bedenken, denen diese und andere "sozialethische Einschränkungen" des Notwehrrechts im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG nach wie vor unterliegen,[17] dürfte an der sachlichen Berechtigung einer Bindung der Notwehrbefugnisse an Verhältnismäßigkeitserwägungen speziell dort, wo der Verteidiger durch eigenes rechtswidriges Verhalten zur Eskalation des Geschehens beigetragen hat, in der Sache kein Zweifel bestehen: Welche Zustände der Staat befördern würde, wenn er in den für gewisse Milieus charakteristischen gewalttätigen Auseinandersetzungen, zu denen alle Beteiligten ihren Teil beigetragen haben, dem (in dubio pro reo vielleicht) in die Defensive geratenen Part erlaubte, die Angelegenheit durch einen überraschenden lebensgefährlichen Waffeneinsatz zu seinen Gunsten zu bereinigen, obwohl er sich nicht in höchster Gefahr befand, bedarf wohl keiner näheren Ausführung.
b) Bei seiner Stellungnahme zu den Voraussetzungen und Auswirkungen eines notwehrrechtlich relevanten Vorverhaltens differenziert der Senat im Einklang mit der st. Rspr. des BGH zwischen dem - durchaus fragwürdigen[18] - vollständigen Ausschluss des Notwehrrechts bei der (vorliegend wohl nicht gegebenen oder jedenfalls nicht nachweisbaren) "Absichtsprovokation" und dessen mehr oder weniger weitreichenden Einschränkungen nach Provokationen, die nicht gerade darauf abzielten, den Angriff heraufzubeschwören. Was letztere betrifft, so sind drei Dinge bemerkenswert: Erstens nimmt der Senat hier ausdrücklich auf ein "rechtswidriges" Vorverhalten Bezug. Dies ist zwar keine ausdrückliche Distanzierung von der (für den konkreten Fall nicht relevanten) hochproblematischen Position, wonach bereits ein lediglich sozialethisch missbilligtes Vorverhalten entsprechende Konsequenzen auslösen kann,[19] könnte aber immerhin für eine Tendenz des Senats zu der vorzugswürdigen, im Schrifttum vorherrschenden Ansicht sprechen, die einen klar definierbaren Rechtsverstoß verlangt. [20] Zweitens setzt der Senat voraus, dass der Angriff "mindestens leichtfertig" provoziert wurde, möchte bei einem Angriff, der als Reaktion auf das rechtswidrige Vorverhalten nicht in besonderem Maße vorhersehbar war, also offenbar ein ungeschmälertes Notwehrrecht gewähren.[21] Drittens soll die Notwehrprovokation zunächst einmal nur eine Obliegenheit erzeugen, dem Angriff nach Möglichkeit auszuweichen, während der Senat dem Notwehrtäter Abstriche von der Sicherheit des Verteidigungserfolgs nur dann zumuten will, wenn die Provokation "besonders stark" war; zugleich stellt er klar, dass der Einsatz von lebensgefährlichen Verteidigungsmitteln durchaus zulässig bleibt, wenn er als ultima ratio unumgänglich erscheint.
c) Auch bei dieser - im Interesse der Vermeidung einer zu weitgehenden Aushöhlung des Notwehrrechts begrüßenswerten - zurückhaltenden Formulierung provokationsbedingter Notwehrbeschränkungen liegt es bei dem vom Landgericht zugrunde gelegten Sachverhalt nahe, dass die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt waren. Warum das Landgericht meinte, dies sei "noch nicht" der Fall, erschließt sich nicht; da insofern offenbar keine näheren Feststellungen erfolgt waren, führte an einer Zurückverweisung an die Vorinstanz kein Weg vorbei.
Der Umstand, dass sich der Angreifer in Beglei-
tung einer weiteren Person befand, von der der Angeklagte möglicherweise annahm, sie werde den gegen ihn gerichteten Angriff alsbald unterstützen und verstärken, gab dem Senat Anlass, dem Tatrichter ggf. auch die Prüfung eines Erlaubnistatbestandsirrtums nahezulegen. Ein solcher käme dann in Betracht, wenn sich der Messerstich einerseits mit Blick auf den getöteten Angreifer allein als nicht durch § 32 StGB gedeckt erweisen sollte, im Falle einer vom Angeklagten befürchteten Verstärkung des Angriffs durch dessen Begleiter aber gerechtfertigt wäre. Zu diesem Ergebnis könnte man gelangen, wenn neue Feststellungen hinsichtlich der Schlägereierfahrung des Angeklagten die Annahme einer hinreichenden Überlegenheit bei der unbewaffneten Abwehr eines, nicht aber zweier zeitgleich handelnder Angreifer tragen sollten, oder wenn das Gericht feststellt, dass der Angeklagte nach den Grundsätzen der Notwehrprovokation zwar verpflichtet war, eine deutlich erhöhte Eigengefährdung in Kauf zu nehmen, nicht jedoch eine so drastische Verminderung der Erfolgsaussichten seiner Verteidigung, wie er sie im gleichzeitigen Kampf gegen zwei Angreifer ohne den überraschenden Einsatz des Messers evtl. befürchtete. In der vorliegenden Konstellation ist dabei für die Annahme eines Erlaubnistatbestandsirrtums auch dann Raum, wenn man die Erforderlichkeit der Verteidigung im Gegensatz zum Vorliegen eines rechtswidrigen Angriffs richtigerweise aus der ex-ante-Perspektive bestimmt:[22] Auch bei Zugrundelegung dieser Position ist ein (in diesem Falle vermeidbarer bzw. fahrlässiger, mit den entsprechenden Konsequenzen nach § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB bei Zugrundelegung der herrschenden, auch von der Rspr. vertretenen "eingeschränkten Schuldtheorie") Erlaubnistatbestandsirrtum gegeben, wenn die Befürchtung einer Massivität des Angriffs, die zu der gewählten Verteidigung berechtigt, auf einer rein subjektiven Fehleinschätzung beruht, von einem objektiven Beobachter in der konkreten Situation also nicht geteilt würde. Stimmen objektive Beobachter- und individuelle Täterperspektive stattdessen überein, so hängt die Frage, ob eine echte Rechtfertigung nach § 32 StGB eingreift oder lediglich ein Erlaubnistatbestandsirrtum vorliegt, von folgendem Gesichtspunkt ab: Ist es der Angreifer selbst, der für einen objektiven Beobachter den Anschein eines durch die akute Eingriffsbereitschaft von Komplizen erhöhten Gefährlichkeit seines Vorgehens erweckt (so insbesondere bei einem bewussten Handeln aus einer bedrohlich wirkenden Gruppe heraus), begründet dies die "Erforderlichkeit" und mithin die Rechtfertigung einer Verteidigung, die in ihrer Massivität die zu befürchtende Verstärkung des Angriffs antizipiert. Lässt das Auftreten des Angreifers für sich genommen hingegen nur einen Einzelangriff erwarten und folgt die Befürchtung des Hinzutretens eines weiteren Angreifers erst aus dem Verhalten von letzterem, das der Verteidiger als Komplizenschaft missversteht, so ist die irrige Erwartung einer gemeinschaftlichen Ausführung des Angriffs dem (tatsächlich einzigen) Angreifer nicht zurechenbar. Sein Angriff strahlt deshalb als solcher nicht die erhöhte Bedrohlichkeit aus, die eine in der Konfrontation mit zwei Gegnern erforderliche Massivität rechtfertigen würde; hier begründet die irrige Wahrnehmung einer entsprechenden Situation deshalb nur einen Erlaubnistatbestandsirrtum. Weil dieser im Falle seiner Unvermeidbarkeit bzw. Nichtfahrlässigkeit ebenfalls zur Straflosigkeit führt, bestand für den Senat freilich kein Anlass, dem neuen Tatrichter derart subtile Erwägungen zur Abgrenzung von Notwehr und Putativnotwehr mit auf den Weg zu geben.
[1] Dazu etwa LK/Rönnau/Hohn, 12. Aufl., Bd. 2 (2006), § 32 Rn. 189 m.w.N.
[2] Näher dazu bei einem ähnlich gelagerten Fall Erb GA 2012, 72, 76 f.
[3] Vgl. etwa die Entscheidungen der jeweiligen Vorinstanz in BGH NStZ 1996, 29 (LG Schwerin); BGH NStZ 1998, 508 (LG Dortmund); BGH StV 1999, 143 (LG Düsseldorf); BGH StV 1999, 145 (LG Köln); BGH NStZ 2000, 365 (LG Düsseldorf); BGH NStZ 2001, 591 (592) (LG Ellwangen); BGH v. 24. 7. 2001 - 4 StR 256/01, Juris-Datenbank Nr. KORE515072002, red. Leitsatz mit Anm. Vahle Kriminalistik 2001, 422 (LG Neubrandenburg); BGH NStZ 2002, 140 f. (LG Mannheim); BGH NStZ-RR 2007, 199 (LG Essen) = HRRS 2007 Nr. 446.
[4] BGH NStZ 2010, 82 = StV 2010, 303 = HRRS 2009 Nr. 816 (allerdings eine Entscheidung nach § 349 Abs. 2 StPO, aus deren Begründung sich die Problematik des Falles nicht erschließt) im Anschluss an LG München I v. 9.1.2009 - 1 Ks 121 Js 10459/08, Darstellung und Kritik des Urteils bei Erb NStZ 2011, 186 ff.; zur Kritik am Vorgehen des 1. Strafsenats Erb GA 2012, 72 ff.
[5] Darstellung einer Stellungnahme von Einsatztrainern einer Polizeiakademie bei Erb NStZ 2011, 186, 188 f.
[6] Näher dazu Erb NStZ 2011, 186, 193.
[7] Was in Fällen, in denen Staatsanwaltschaften und Gerichte ein derartiges Vorgehen auch dann an den Tag legen, wenn die Tat der Verteidigung gegen einen unprovozierten Übergriff diente, die weitere Frage einer Subsumtion unter die §§ 339, 344 StGB aufwirft, dazu in Bezug auf das in Fn. 4 genannte Urteil des LG München I Erb NStZ 2011, 186 (191 f.).
[8] BGH NStZ 2012, 272 ff. m. Anm. Engländer = JR 2012, 204 ff. m. Anm. Erb = HRRS 2012 Nr. 153.
[9] Gegen ein solches im vorliegenden Zusammenhang zu Recht Engländer NStZ 2012, 272, 276; Rotsch ZJS 2012, 109, 110; van Rienen ZIS 2012, 376, 384.
[10] G. Merkel, FAZ v. 19.4.2012, http://faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/bgh-urteil-wider-das-faustrecht-11722637.html , abgerufen am 1.2.2013.
[11] So insbesondere Burchard HRRS 2012, 421, 449 ff.; ähnlich bereits Jäger JA 2012, 227, 230. Dabei stellt sich freilich die Frage, wie jemand in der Situation des Angeklagten im Ausgangsfall, der diesen Überlegungen zugrunde lag, denn überhaupt in der Lage sein sollte, letzteres zu tun: Ein "Hells Angel" würde doch wohl kaum vorbeugenden Polizeischutz erhalten, weil er einen Racheakt von "Bandidos" befürchtet, und wenn die Angreifer schon in Begriff stehen, die Haustür aufzubrechen (in concreto in einem kleinen Dorf im Westerwald), käme die dann herbeigerufene Polizei mit Sicherheit zu spät!
[12] Wie Burchard HRRS 2012, 421, 450 meint, bei seinem Konzept die Arbeit mit dem "Vorwurf krimineller Lebensführung" gegenüber den Betroffenen vermeiden zu können, ist insofern nicht nachvollziehbar.
[13] Wenn Burchard HRRS 2012, 421, 449 möglichen Vorwürfen dieser Art mit der Erwägung entgegentritt, es gehe nicht um "Feindstrafrecht im eigentlichen Sinn, weil der Straftäter weiterhin als Bürger akzeptiert wird und ihm Notwehrrechte nicht per se versagt werden" [Hervorhebung im Original], ein bisschen Diskriminierung (aber wieviel genau?) also für akzeptabel hält, solange keine totale Entrechtung stattfindet, ist er bereits einer "feindstrafrechtlichen" Logik erlegen. Demgegenüber geht seine Andeutung, der Vorwurf des "Feinstrafrechts" könne evtl. umgekehrt "monistisch-individualistische Deutungen des Notwehrrechts" treffen, die mit der fehlenden Schutzbedürftigkeit des Angreifers in der Notwehrsituation argumentieren (a.a.O., Fn. 189), schon deshalb fehl, weil diese nicht an einem der Person des Angreifers anhaftenden Feindstatus anknüpfen, sondern ausschließlich an einem aktuellen rechtswidrigen Verhalten, das der Angreifer als solches unterlassen könnte.
[14] Zum Verstoß entsprechender Ansätze gegen das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot bereits van Rienen ZIS 2012, 376, 384.
[15] Burchard HRRS 2012, 421, 440 ff.
[16] Burchard HRRS 2012, 421, 446.
[17] Näher MüKoStGB/Erb 2. Aufl., Bd. 1 (2011), § 32 Rn. 204 ff. m.w.N.
[18] Zur Kritik etwa Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe (2008), S. 325 f.
[19] BGHSt 42, 97, 101 = NStZ 1996, 380 = JR 1996, 466 m. krit. Anm. Krack = StV 1997, 296 m. zust. Anm. Kühl; vgl. auch BGH NStZ 2006, 332, 333 = StV 2006, 235, 236 f. m. Anm. Roxin = HRRS 2005 Nr. 873; BGH NStZ 2011, 82, 83 = HRRS 2009 Nr. 954; BGH NStZ-RR 2011, 74 f. = HRRS 2011 Nr. 91; im Schrifttum entsprechend Wessels/Beulke AT, 42. Aufl. (2012), Rn. 348.
[20] Vgl. etwa Grünewald ZStW 122 (2010), 51, 79 ff.; Engländer (Fn. 18 ), S. 329 f.; Roxin AT I, 4. Aufl. (2006), § 15 Rn. 73; HK-GS/Duttge, 2. Aufl. (2011), § 32 Rn. 30; LK/Rönnau/Hohn (Fn. 1), § 32 Rn. 255; MüKoStGB/Erb (Fn. 17), § 32 Rn. 234; Schönke/Schröder/Perron, 28. Aufl. (2010), § 32 Rn. 59; SSW-StGB/Rosenau (2009), § 32 Rn. 39; Otto AT, 7. Aufl. (2004), § 8 Rn. 87; Rengier AT, 4. Aufl. (2012), § 18 Rn. 78.
[21] So im Schrifttum bereits Jakobs AT, 2. Aufl. 1993, 12. Abschnitt Rn. 54; Kühl AT, 7. Aufl. (2012), § 7 Rn. 251; ähnlich (keine Einschränkung des Notwehrrechts bei unbewusster Fahrlässigkeit LK/Rönnau/Hohn (Fn. 1), § 32 Rn. 254.
[22] Dazu m.w.N. MüKoStGB/Erb (Fn. 17), § 32 Rn 130 ff.; a.A. etwa Schönke/Schröder/Perron (Fn. 20), § 32 Rn 34.