HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2012
13. Jahrgang
PDF-Download

Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Die Bedeutung der Kriminologie für die Kriminalprognose bei
"psychischen Störungen"

Anmerkung zum Urteil des BGH v. 25.9.2012, Az.: 1 StR 160/12 = HRRS 2012 Nr. 1010.

Von Prof. Dr. Dr. Michael Bock, Mainz

Der 1. Senat des BGH hebt das Urteil des LG München I in dem als "Westparkmord" bekannten Fall auf, weil das LG u. a. einen falschen Prognosemaßstab angelegt habe (Rn. 26). Diese Rüge ist nicht nachvollziehbar, weil das Landgericht keineswegs meint, für eine negative Prognose von deren Sicherheit überzeugt sein zu müssen, wohl aber bei Annahme eines grundsätzlich offenen prognostischen Möglichkeitsraums die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit und Gegenwärtigkeit schwerster Straftaten im Lichte der inzwischen durch die Rechtsprechung verschärften Maßstäbe (BVerfGE 128, 326 = HRRS 2011 Nr. 488 = NStZ 2011, 450, deren Berücksichtigung der Senat konzediert, Rn. 24) für nicht erfüllt hält.

Gerügt wird aber weiterhin, und darauf soll es hier im Schwerpunkt ankommen, dass das LG die Expertise eines kriminologischen Sachverständigen berücksichtigt: "Dieser Gutachter konnte … zum Vorliegen einer psychischen Störung eine gutachterliche Äußerung ‚aufgrund seiner Fachgebietsfremdheit nicht abgeben‘… Eine Prognose, die ohne Berücksichtigung der psychischen Störung des Probanden abgegeben wird, hat keinen forensisch relevanten Wert. Denn der Zustand und die Befindlichkeit des zu Beurteilenden sind unerlässliche Faktoren für die Prognoseentscheidung" (Rn. 27).

Gegen diese Vorstellung bestehen durchgreifende Bedenken. Zwar ist es richtig, dass der kriminologische Sachverständige nicht psychische Störungen als solche diagnostiziert. Darauf kommt es jedoch bei einer Kriminalprognose gar nicht an. Psychische Störungen, insbesondere Persönlichkeitsstörungen, sind auch in der Normalbevölkerung weit verbreitet und ihr Vorliegen scheint in weiten Teilen unserer gesellschaftlichen Eliten in Wirtschaft, Politik, Medien und Kunst geradezu die Voraussetzung für den Erfolg zu sein, von anderen "gestörten" Menschen erfährt man nichts, weil sie auf der Schattenseite des Lebens stehen, aber keine Straftaten begehen. Aus diesem Grund besteht Konsens unter den erfahrenen forensischen Psychiatern, dass für die Kriminalprognose die Diagnose einer psychischen Störung gerade nicht ausreicht, sondern dass es darauf ankommt, ob und wie sich eine psychische Störung für die Begehung von Straftaten auswirkt (Brockmann/Bock, Die Kriminalprognose bei persönlichkeitsgestörten Straftätern, Publikation in der FPPK zugesagt, mit Nachweisen). Ähnliches gilt auch für Sucht und andere Handicaps, deren kriminologische Relevanz im Einzelfall zu prüfen ist. Selbst bei einer akuten Psychose kommt es darauf an, ob die imperativen Stimmen dem Betreffenden sagen, er solle seine Briefmarkensammlung ordnen oder Feinde der Menschheit liquidieren. Es kommt also auf einen "zweiten Blick" an und für diesen besteht gerade beim forensischen Psychiater (und Psychologen) zunächst "Fachgebietsfremdheit", denn sein Fachgebiet sind Krankheiten und psychische Störungen, aber nicht deren Kriminorelevanz. Er ist daher darauf angewiesen, sich den "zweiten Blick" über Fortbildung und Erfahrung anzueignen, woran es freilich oft genug fehlt (vgl. die allgemein als "erschütternd" wahrgenommenen Befunde von Alex, Nachträgliche Sicherungsverwahrung – ein rechtsstaatliches und kriminalpolitisches Debakel, Diss. 2010 m. Bespr. Sobota GA 2011, 190). Der kriminologische Sachverständige hat hingegen eigene, aus dem Vergleich von Straftätern mit der Durchschnittspopulation ermittelte Kriterien, die unmittelbar die Kriminorelevanz von Persönlichkeit und Verhalten betreffen und insofern seinen eigenen Maßstab für die Kriminalprognose. Auch die hier in Frage stehende "Angewandte Kriminologie" (Bock Kriminologie, 3. Aufl. 2007; zu ihren Potentialen aus juristischer Sicht vgl. Eschelbach GA 2009, 610) ist freilich nur in Ausnahmefällen Gegenstand der universitären Ausbildung und forensischen Erfahrung. Es gibt daher auf allen Seiten Anlass für Bescheidenheit.

Die Vokabel der Fachgebietsfremdheit deutet hingegen auf eine geradezu territorial oder berufsständisch verstandene Zuständigkeit bzw. Verschlossenheit bestimmter Fächer für die fraglichen Phänomene hin, die mit

aufgeklärten wissenschaftstheoretischen Standards nicht zu vereinbaren ist. Die Diagnose einer psychischen Störung durch einen Psychiater schließt keineswegs aus, dass dieselben Phänomene ("Zustand und Befindlichkeit des zu Beurteilenden"[1]), unter anderen Gesichtspunkten und in anderer Begrifflichkeit zum Gegenstand anderer wissenschaftlicher Expertise werden. Aber selbst bei einer nicht aufgeklärten Betrachtungsweise müsste deutlich werden, dass – gerade umgekehrt als der Senat voraussetzt – nicht das Wissen auf der Achse gestört/nicht gestört sondern auf der Achse kriminovalent/kriminoresistent dasjenige ist, auf das es bei der Kriminalprognose ankommt. Sowieso gilt dies bei der dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung. Bei dieser fallen nämlich die beiden Achsen zusammen, denn sie ist kein psychiatrisches Störungsbild, sondern beschreibt in pathologisierender Diktion den früheren "Hang" aus § 66 StGB (Kröber, Editorial StV 01/2012). Auch der bei ihrem Einsatz bei Kriminalprognosen entstehende Zirkelschluss ist bekannt. Gegenüber der Feststellung einer mehr oder weniger ausgeprägten Annäherung einer Biographie an die idealtypische Verlaufsform einer "kontinuierlichen Hinentwicklung zur Kriminalität" (Bock, Kriminologie, 3. Aufl. 2007, 191 ff.) aus der Angewandten Kriminologie sind ihre Kriterien grob, undifferenziert und erzeugen kontraproduktive negative Emotionen. Die Kriminologie ist hier also die erste Adresse.

Die Verkennung dieser grundlegenden Verhältnisse kommt freilich nicht von ungefähr (vgl. zum Folgenden insgesamt Bock/Sobota NK 2012, 106). Während die StPO traditionell unspezifisch von "Sachverständigen" spricht, hat schon die Arbeitsgruppe zur Erarbeitung von Mindeststandards bei der Kriminalprognose die Kriminologie ignoriert (Boetticher u. a. NStZ 2006, 537; dazu Bock StV 2007, 269, Schöch in FS Widmaier, S. 967 und wieder Bock ZStW 2009, 450). Sodann hat das BVerfG als Reaktion auf die Rüge des EGMR (HRRS 2010 Nr. 65 = NJW 2010, 2495 m. Anm. Eschelbach ) ohne Begründung in der Sache als Anordnungsvoraussetzung für die nachträgliche SV die "psychische Störung" aus dem ThUG importiert und deren Feststellung "Ärzten" vorbehalten (BVerfGE 128, 326, 373 mit Verweis auf BVerfGE 109, 133, 164). Niemand weiß so recht, was eine Störung ist, die einerseits so gering ist, dass sie für §§ 20, 21, 63 StGB nicht ausreicht (so in casu im Erkenntnisverfahren auch der Sachverständige N.), andererseits so schwer, dass schwerste Straftaten unmittelbar drohen, weshalb das BVerfG kurzerhand die psychische Störung von den diagnostischen Kriterien der forensischen Psychiatrie abgekoppelt und durch ein moralisierendes Judiz der Gerichte ersetzt wissen will.[2] Auf dieser Linie rügt im vorliegenden Urteil der Senat, das Landgericht habe nicht angemessen berücksichtigt, dass die Straftaten auf eine "menschenverachtende Gesinnung" hindeuten (Rn. 31) sowie "sein Verhalten in der Hauptverhandlung … nicht erkennbar in die Überlegungen einbezogen" (Rn. 33) habe. Dabei hat sich das LG sehr wohl die Diagnose eines "sekundären Psychopathen" durch den Sachverständigen S. zu eigen gemacht, wonach das martialische Gerede und Gehabe des Verurteilten B. ein psychischer Schutz davor ist, die eigene Verletzlichkeit und den Jammer über die früh und nachhaltig versagten Grundbedürfnisse von Zugehörigkeit und Anerkennung selbst sehen und/oder anderen zeigen zu müssen. Folgt man dieser differenzierenden Überlegung, so ist B. nicht einfach menschenverachtend, sondern er gibt sich so, und sein Verhalten in der Hauptverhandlung ("respektlos und verbal aggressiv", Rn. 20) erklärt sich daraus ohne weiteres: die öffentliche Verlesung seiner Briefe an die Person, der er sein inneres und wahres Gesicht gezeigt hatte, musste ihn aufs Äußerste erregen, während er sich umgekehrt bei Themen, die seine martialische Fassade betrafen, "cool" geben konnte. Die Reaktionen in der Hauptverhandlung haben im Übrigen für das künftige Alltagsleben, das normalerweise nicht aus Gerichtsverhandlungen besteht, in denen die Persönlichkeit auf diese Weise bloßgestellt wird, keine nennenswerte prognostische Aussagekraft. Für moralische Empörung eignen sie sich allerdings vorzüglich.

Rügen können hätte der Senat allerdings, dass das ganze Verfahren von vornherein rechtswidrig war. Durch die erst rund 5 Jahre nach der Tat erfolgte Verurteilung des B. ist eine Situation entstanden, in der die Frage der Gefährlichkeit schon vor der Verurteilung entschieden war, und zwar nicht durch Sachverständige, sondern durch das Leben (Sobota ZJJ 2012, 211). Der wegen anderer schwerer Straftaten 1995 verurteilte B. wurde nach Teilverbüßung im Jugendstrafvollzug abgeschoben und hat in Kroatien (also in dem auch jetzt aktuellen Empfangsraum) rund 2 Jahre lang in Freiheit sozial integriert gelebt: ohne Drogen, mit Arbeit (auf dem Bau), einem Hobby (Fischen), mit einer Freundin und in einer Nachbarschaft, die ihn als höflich und unauffällig beschreibt, und es kam mit Ausnahme einer Kneipenschlägerei (also keiner "schwersten" Straftat) zu keinen weiteren Straftaten. Man konnte ihn daher allenfalls noch wegen Schwere der Schuld zu einer Jugendstrafe verurteilen,[3] seine Gefährlichkeit war aber (schon nach dem ursprünglichen § 7 Abs. 2 JGG, erst recht nach den aktuellen Maßstäben) widerlegt, so dass, was immer jetzt aktuell zu besorgen

ist,[4] nicht mehr im Zusammenhang mit der damaligen Straftat steht und daher keine nachträgliche Sicherungsverwahrung veranlassen kann.

Insgesamt ist das Urteil ein weiterer Schritt in der sachfremden Pathologisierung von Straftätern im Allgemeinen und der Klientel der Sicherungsverwahrung im Besonderen. Auf den nun fälligen Geisterprozess in Abwesenheit des inzwischen abgeschobenen B. darf man gespannt sein.


[1] Auch diese Vokabeln zeigen eine unkritische Unterstellung von Wesenhaftigkeit (und Dauer, vgl. dazu in casu Eisenberg StV 2011, 599), die bei der Rezeption psychiatrischer Befunde in juristischen Kontexten üblich ist. Tatsächlich handelt es sich immer nur um eine unter dramatischen Unsicherheiten eines Faches und seiner Tradition zustande kommende selektive Zuschreibung von Aspekten einer individuellen Biographie (vgl. Bock in FS Heinz 2012, S. 609).

[2] Es komme fortan auf "den Grad der objektiven Beeinträchtigung der Lebensführung in sozialer und ethischer Hinsicht" an, der wiederum "anhand des gesamten – auch des strafrechtlich relevanten – Verhaltens des Betroffenen zu bestimmen" sei (BVerfG StV 2010, 25, 27).

[3] "Schädliche Neigungen" lagen zum Tatzeitpunkt zweifelsfrei vor, zum Zeitpunkt der Verurteilung aber nicht mehr. Nach ständiger Rechtsprechung wäre aber auch eine Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld gemäß § 18 Abs. 2 JGG "erzieherisch" nach dem aktuellen Bedarf (!) zu bemessen und nicht alternativlos die Höchststrafe zu verhängen gewesen.

[4] Da es sich um das letzte biographische Intervall in Freiheit handelt, ist es natürlich auch für die aktuell anstehende Prognose von zentraler Bedeutung, zusammen mit dem Umstand, dass es in der langjährigen Haft – trotz aktenkundiger Schikanen in Vollstreckung und Vollzug – keine einschlägigen Disziplinarmaßnahmen gegeben hat. Vgl. wiederum Sobota ZJJ 2012, 211, 212.