HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 1
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1579/11, Beschluss v. 05.11.2013, HRRS 2014 Nr. 1
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob der Bundesgerichtshof seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zur Berücksichtigung der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs über die Rechte aus Art. 36 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen nachgekommen ist.
1. Dem am 24. April 1963 geschlossenen Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen (Wiener Konsularrechtsübereinkommen - WÜK, BGBl 1969 II S. 1585) ist auch die Bundesrepublik Deutschland beigetreten. Nach Art. 36 Abs. 1 WÜK haben die Behörden im Fall der Festnahme eines Ausländers unverzüglich die konsularische Vertretung seines Heimatstaats zu benachrichtigen. Die Konsularbeamten sind berechtigt, mit dem Festgenommenen Kontakt aufzunehmen und für seine rechtliche Vertretung zu sorgen. Über diese Rechte ist der Festgenommene nach Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK unverzüglich zu unterrichten.
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat sich bislang in zwei Entscheidungen zu Verletzungen der Belehrungspflicht nach Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK und ihren möglichen innerstaatlichen Konsequenzen geäußert (IGH, LaGrand Case, Germany vs. United States of America, Judgment of 27 June 2001, ICJ Reports 2001, S. 464; Case concerning Avena and other Mexican Nationals, Mexico vs. United States of America, Judgment of 31 March 2004, ICJ Reports 2004, S. 12) und im Wesentlichen festgestellt, dass Art. 36 Abs. 1 WÜK Rechte des Einzelnen begründe, die dem Empfangsstaat unmittelbar gegenüber festgehaltenen Personen oblägen. Mit Blick auf die Rechtsfolgen hat er festgestellt, dass der Empfangsstaat verpflichtet sei, in den Fällen einer unterbliebenen Belehrung die effektive Möglichkeit einer Nachprüfung von Schuld- und Strafausspruch vor staatlichen Gerichten zu gewährleisten (vgl. hierzu ausführlich BVerfGK 9, 174 <177 f.>).
2. Das Landgericht verurteilte den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, wegen räuberischer Erpressung mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchtem Raub mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren. Gegen dieses Urteil legte der Beschwerdeführer Revision ein. In deren Rahmen machte er mit der Verfahrensrüge geltend, er sei vor seiner polizeilichen Vernehmung nicht gemäß Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK belehrt worden.
a) Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs verwarf die Revision des Beschwerdeführers mit Beschluss vom 29. Januar 2003 (5 StR 475/02, juris) gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet. Der dagegen gerichteten Verfassungsbeschwerde gab das Bundesverfassungsgericht wegen Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf ein faires Verfahren - der Bundesgerichtshof hatte die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nicht hinreichend berücksichtigt - statt, hob den Beschluss auf und verwies die Sache zurück (BVerfGK 9, 174 ff.). Mit Beschluss vom 25. September 2007 (BGHSt 52, 48 ff.) verwarf der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Revision erneut, allerdings mit der Maßgabe, dass von der verhängten Freiheitsstrafe sechs Monate als vollstreckt zu gelten hätten. Der gegen diese Entscheidung erhobenen - zweiten - Verfassungsbeschwerde gab das Bundesverfassungsgericht wiederum statt (BVerfGK 17, 390 ff.), da auch die zweite Revisionsentscheidung die Vorgaben des Internationalen Gerichtshofs nicht hinreichend berücksichtigte und deshalb gegen das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren verstieß. Es hob die Entscheidung auf und verwies die Sache an einen anderen Strafsenat des Bundesgerichtshofs zurück.
b) Mit Beschluss vom 7. Juni 2011 verwarf der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (StV 2011, S. 603 ff.) die Revision des Beschwerdeführers mit der Maßgabe als unbegründet, dass von der verhängten Freiheitsstrafe sechs Monate als vollstreckt zu gelten hätten. Die vom Beschwerdeführer erhobene Verfahrensrüge sei unbegründet. Eine Gesetzesverletzung liege allerdings darin, dass er nach seiner Festnahme nicht durch die Polizeibeamten gemäß Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK über seine Rechte belehrt worden sei. Dass er keinen spezifisch auf die Verletzung des Art. 36 WÜK abstellenden Widerspruch erhoben, sondern der Verwertung seiner Angaben in der Beschuldigtenvernehmung durch zeugenschaftliche Vernehmung der Verhörspersonen mit Blick auf die Beanstandung eines Verstoßes gegen §§ 136, 137 StPO widersprochen habe, stehe der Geltendmachung dieses Verstoßes gegen die Belehrungspflicht nicht entgegen. Nach den vom Internationalen Gerichtshof im Urteil LaGrand entwickelten und zu beachtenden Grundsätzen müsse eine umfassende Überprüfung und Neubewertung von Schuld- und Strafausspruch unter Berücksichtigung des Konventionsverstoßes möglich sein (IGH, Fall LaGrand, a.a.O., Rn. 128). Diese Überprüfung dürfe nicht unter Berufung auf die Unterlassung nach nationalem Prozessrecht erforderlicher Einwände ausgeschlossen werden (IGH, Fall LaGrand, a.a.O., Rn. 90). Der Ausfall der Belehrung führe jedoch nicht zu einem Verwertungsverbot, weil dem Beschwerdeführer hierdurch im weiteren Verfahren kein Nachteil erwachsen sei. Zwar sei die Entstehung eines Beweisverwertungsverbots nicht von vornherein ausgeschlossen. Nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs im Fall Avena sei jedoch im Einzelfall zu untersuchen, ob dem Betroffenen im weiteren Verfahrensverlauf tatsächlich ein Nachteil entstanden sei (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 121 ff.). Dem sei durch die Anwendung der vom Bundesgerichtshof entwickelten Abwägungslehre Rechnung zu tragen, nach der eine Abwägung zwischen dem durch den Verfahrensverstoß bewirkten Eingriff in die Rechtsstellung des Beschuldigten einerseits und den Strafverfolgungsinteressen des Staates andererseits stattzufinden habe; auf den Schutzzweck der verletzten Norm sei dabei ebenso abzustellen wie auf die Umstände, Hintergründe und Auswirkungen der Rechtsverletzung im Einzelfall. Dass das Urteil in sonstiger Weise auf der unterbliebenen Belehrung beruhe, könne aus den bereits in die Abwägung eingestellten Gesichtspunkten zu den Umständen und Auswirkungen der Rechtsverletzung ausgeschlossen werden. Für ein Beruhen sei nichts ersichtlich, und die Revision habe hierzu auch nichts vorgetragen. Eine Kompensation für den Verstoß gegen die Pflicht zur Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK entsprechend den Grundsätzen der Vollstreckungslösung komme jedoch nicht in Betracht, da die Abwägung zur Frage eines Beweisverwertungsverbots und die Beruhensprüfung mit Blick auf den Verstoß gegen das Wiener Konsularrechtsübereinkommen im Übrigen ergeben hätten, dass dem Beschwerdeführer im konkreten Fall kein Nachteil entstanden sei. Allerdings seien für die der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerung sechs Monate der verhängten Freiheitsstrafe für vollstreckt zu erklären.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 (faires Verfahren), Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 3 Abs. 1 GG (Willkürverbot).
Die Abwägungslehre sei im vorliegenden Fall nicht anwendbar; ein Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK müsse grundsätzlich zu einem Beweisverwertungsverbot führen. Zudem habe der Bundesgerichtshof mehrere Gesichtspunkte zu seinen Lasten in der Abwägung berücksichtigt, die den Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs widersprächen. Die Abwägung sei beliebig und nichtssagend und verfolge alleine das Ziel, ein Beweisverwertungsverbot zu verneinen. Für den Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK hätte dem Beschwerdeführer jedenfalls eine Kompensation zugesprochen werden müssen. Auch sei Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Der 4. Strafsenat hätte gemäß § 132 GVG den Großen Senat für Strafsachen anrufen müssen, da er hinsichtlich der Zubilligung einer Kompensation von der Rechtsprechung des 5. Strafsenats abgewichen sei. Zugleich hätten die Vereinigten Großen Senate des Bundesgerichtshofs angerufen werden müssen, weil der V. Zivilsenat einen Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK als "grundlegenden Verfahrensmangel" ansehe.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen nicht vorliegen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Die in der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt oder lassen sich ohne weiteres auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung beantworten (BVerfGK 9, 174 <186>; 17, 390 <395>). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt, weil sie jedenfalls unbegründet ist (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>).
1. Das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) ist nicht verletzt.
a) Die Fachgerichte sind verpflichtet, die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs auf dem Gebiet des Konsularrechts bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen. Diese Pflicht ergibt sich aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes in Verbindung mit der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht (BVerfGK 9, 174 <191>; 17, 390 <397>). Das Fachgericht muss die einschlägige Judikatur zur Kenntnis nehmen und sich mit ihr auseinandersetzen (BVerfGK 17, 390 <398 f.>). Ein Verstoß gegen die verfassungsrechtliche Berücksichtigungspflicht kann jedoch nur bei einer erkennbar fehlerhaften Rezeption der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs festgestellt werden, da dessen Urteile regelmäßig zu einer anderen Rechtsordnung ergehen und die Frage, wie seinen Feststellungen gerade in der deutschen Rechtsordnung Rechnung zu tragen ist, nicht immer zweifelsfrei zu beantworten sein wird (BVerfGK 17, 390 <398 f.>).
Vor diesem Hintergrund kann ein Beschwerdeführer namentlich die Missachtung der Berücksichtigungspflicht als Verstoß gegen sein Grundrecht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip rügen (BVerfGK 17, 390 <399 f.>). Das Rechtsstaatsprinzip gewährleistet in Verbindung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG das Recht des Beschuldigten auf ein rechtsstaatliches, faires Strafverfahren (vgl. BVerfGE 38, 105 <111>; 86, 288 <317 f.>; 109, 13 <34>; 122, 248 <270 ff.>; 130, 1 <25>). Dabei wird das faire Verfahren nicht nur durch die Normen der Strafprozessordnung, sondern auch durch völkervertragsrechtliche Vorschriften ausgestaltet, wenn diese hinreichend bestimmt, das heißt "self-executing" sind, um von den Strafverfolgungsbehörden unmittelbar angewendet zu werden. Dies ist mit Blick auf Art. 36 Abs. 1 WÜK zu bejahen (vgl. BVerfGK 9, 174 <189>; 17, 390 <399>).
Die Fachgerichte haben das anwendbare Völkervertragsrecht wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden (vgl. BVerfGE 111, 307 <317>; BVerfGK 9, 174 <189>; 17, 390 <399>). Die Verkennung des Schutzgehalts einer verletzten Verfahrensnorm kann dabei ebenso in das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren eingreifen wie eine Überspannung der Voraussetzungen für die Annahme eines Verwertungsverbots hinsichtlich rechtswidrig gewonnener Beweise (BVerfGK 9, 174 <189>; 17, 390 <399>).
b) Hieran gemessen ist der Bundesgerichtshof in dem angegriffenen Beschluss seiner Pflicht zur Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs bei der Frage der aus einer Verletzung von Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK resultierenden Konsequenzen in hinreichender Weise gerecht geworden. Die Vorgaben, die sich insoweit aus der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs ergeben, hat er zur Kenntnis genommen und sich mit ihnen ausführlich auseinandergesetzt. Da nach deutschem Strafprozessrecht eine Revision nach § 337 StPO auf den völkerrechtswidrigen Belehrungsausfall selbst gestützt werden kann, ist sichergestellt, dass der Bruch des Völkerrechts nicht generell folgenlos bleibt (aa). Der Annahme eines Beweisverwertungsverbots als Folge einer unterbliebenen Belehrung bedarf es daher grundsätzlich ebenso wenig (bb) wie einer anderweitigen Kompensation des Verfahrensverstoßes im Rahmen der sogenannten Vollstreckungslösung (cc).
aa) Der völkerrechtswidrige Belehrungsausfall ist nach deutschem Strafprozessrecht ein Verfahrensfehler, auf den gemäß § 337 StPO eine Revision gestützt werden kann. Bereits hierdurch ist für den Regelfall sichergestellt, dass der Bruch des Völkerrechts nicht "folgenlos" (vgl. Schomburg/Schuster, NStZ 2008, S. 593 <594>) im Sinne der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs bleibt. Die Rechtsfolgen einer unterbliebenen Belehrung sind völkerrechtlich nicht im Einzelnen festgelegt (1). Es genügt daher den Vorgaben des Internationalen Gerichtshofs, den völkerrechtswidrigen Ausfall einer Belehrung als Verfahrensfehler zu begreifen, der im Rahmen der strafprozessualen Revision zu einer umfassenden Kontrolle des gesamten Strafurteils zwingt (2).
(1) Das Wiener Konsularrechtsübereinkommen enthält keine Vorgaben für die Frage, welche Rechtsfolgen ein Ausfall der Belehrung nach sich zieht (Paulus/Müller, StV 2009, S. 495 <496 f.>; Schomburg/Schuster, NStZ 2008, S. 593 <594>). Der Internationale Gerichtshof hat allerdings klargestellt, dass dem Bruch des Völkerrechts eine angemessene Wiedergutmachung folgen müsse (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 119: "reparation in an adequate form"). Es sei jedoch Sache der nationalen Gerichte, die Fakten und insbesondere die aus einer Verletzung des Wiener Konsularrechtsübereinkommens resultierenden Nachteile zu untersuchen und eine angemessene Rechtsfolge festzuschreiben. Eine Aufhebung der strafrechtlichen Verurteilung sei völkerrechtlich nicht zwingend geboten (vgl. IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 122, 124). Unter Umständen könne bereits eine förmliche Entschuldigung eine ausreichende Wiedergutmachung darstellen (IGH, Fall LaGrand, a.a.O., Rn. 63, 125). In Fällen, in denen die Betroffenen - wie hier - zu einer langjährigen Freiheitsentziehung verurteilt worden sind, sei dies jedoch nicht ausreichend; dann sei die erneute Überprüfung des Schuld- und Strafausspruchs geboten (IGH, Fall LaGrand, a.a.O., Rn. 125: "review and reconsideration of the conviction and sentence by taking account of the violation of the rights set forth in the conviction"). Dabei sei zu prüfen, ob dem Beschuldigten durch den Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 WÜK im Laufe des Strafverfahrens ein konkreter Nachteil entstanden sei (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 121: "with a view to ascertaining whether in each case the violation of Article 36 committed by the competent authorities caused actual prejudice to the defendant in the process of administration of criminal justice").
(2) Diese Vorgaben des Internationalen Gerichtshofs zur Auslegung des Art. 36 Abs. 1 WÜK lassen sich im Rahmen einer methodisch vertretbaren Auslegung (vgl. BVerfGE 111, 307 <317>; BVerfGK 9, 174 <189>; 17, 390 <399>) ohne weiteres in das System der strafprozessualen Revisionsvorschriften integrieren.
Nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs begründet Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK ein subjektives Recht des Betroffenen (IGH, Fall LaGrand, a.a.O., Rn. 77). Art 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK muss daher ein Recht des Angeklagten begründen, das seine verfahrensrechtliche Stellung konstituiert (BVerfGK 9, 174 <194>; 17, 390 <402>) und eine "review and reconsideration" der Entscheidung ermöglicht. Dies wird dadurch sichergestellt, dass ein Belehrungsausfall als solcher im Revisionsverfahren als relativer Revisionsgrund geltend gemacht werden kann (vgl. BGHSt 52, 110 <113>; Paulus, StV 2003, S. 57 <59>; Burchard, JZ 2007, S. 891 <893 f.>; Esser, JR 2008, S. 271 <277>; Kreß, GA 2007, S. 296 <306 f.>; Paulus/Müller, StV 2009, S. 495 <498>; Weigend, StV 2008, S. 39 <43>). Der Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK gestattet es somit, das gesamte Strafurteil, Schuld- und Strafausspruch, im Revisionsverfahren zu überprüfen und - mit Blick auf die unterbliebene Belehrung - neu zu bewerten (vgl. BGHSt 52, 110 <113 f.>).
Ein Unterbleiben der Belehrung kann - wie jeder andere Verfahrensfehler auch - mit der Verfahrensrüge gemäß § 344 Abs. 2 Satz 1, 1. Alternative StPO geltend gemacht werden (Esser, JR 2008, S. 271 <277>), die der Form des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechend begründet sein muss (vgl. BGHSt 52, 110 <111>). Dem steht nicht entgegen, dass prozessuale Hindernisse, die die Geltendmachung des Verfahrensverstoßes erschweren, am Effektivitätsgrundsatz des Art. 36 Abs. 2 WÜK zu messen sind (Paulus/Müller, StV 2009, S. 495 <498>). Für die Betroffenen muss die Möglichkeit bestehen, eine Verletzung des Art. 36 Abs. 1 WÜK prozessual vorzubringen, und diese Garantie darf durch das nationale Verfahrensrecht weder substantiell gefährdet noch förmlich ausgeschlossen werden (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 134; vgl. Esser, JR 2008, S. 271 <273>).
Die angegriffene Entscheidung wird diesen Anforderungen gerecht, denn sie hat die Verfahrensrüge - trotz Bedenken - als zulässig behandelt.
bb) Der Bundesgerichtshof hat bei der Überprüfung des Strafurteils ("review and reconsideration") aufgrund der konkreten Umstände des in Rede stehenden Falles ein Beweisverwertungsverbot in Betracht gezogen (vgl. IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 127). Dass er in diesem Zusammenhang die "Abwägungslehre" angewandt hat, ist nicht zu beanstanden (1). Die Anforderungen an die Annahme eines Beweisverwertungsverbots wurden nicht überspannt (2). Das gilt auch mit Blick auf die Abwesenheit des Verteidigers bei der zweiten polizeilichen Vernehmung (3) und im Hinblick auf die Anforderung eines Ursachenzusammenhangs zwischen der unterbliebenen Belehrung und einem möglichen Nachteil (4).
(1) Die sich aus dem Verstoß gegen die Belehrungspflicht ergebenden Rechtsfolgen sind verfassungsrechtlich nicht festgelegt (vgl. BVerfGK 4, 283 <285>; 9, 174 <196>; 17, 390 <404>). Auch der Internationale Gerichtshof hat die Rechtsfolgen eines Verstoßes in das Ermessen des strafverfolgenden Staates gestellt (IGH, Fall LaGrand, a.a.O., Rn. 125; Fall Avena, a.a.O., Rn. 120 ff., 127, 141; vgl. Burchard, JZ 2007, S. 891 <893>; Esser, JR 2008, S. 271 <271 f.>; Weigend, StV 2008, S. 39 <42>), solange die Überprüfung und Neubewertung insgesamt hinreichend "effektiv" ist (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 138). Eine restitutio in integrum in dem Sinne, dass das Strafurteil in jedem Fall in vollem Umfang aufgehoben und der Prozess vollständig neu aufgerollt werden müsste, hat er nicht verlangt (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 121 ff.; Esser, JR 2008, S. 271 <273>; Weigend, StV 2008, S. 39 <42, Fn. 51>). Ein zwingendes Beweisverwertungsverbot, also ein Bewertungsverbot allein aufgrund der unterbliebenen Belehrung und unabhängig vom Vorliegen eines dadurch ursächlich verursachten Nachteils, gebietet das Völkerrecht nicht (BVerfGK 9, 174 <195>; Paulus, StV 2003, S. 57 <58, 59>; Kreß, GA 2007, S. 296 <304>; Esser, JR 2008, S. 271 <275>; Paulus/Müller, StV 2009, S. 495 <498>; Schomburg/Schuster, NStZ 2008, S. 593 <594>; Gless/Peters, StV 2011, S. 369 <372>). Vielmehr ist es ausreichend, wenn im Fall nachweisbarer Kausalität des Belehrungsausfalls für den Verfahrensausgang die Möglichkeit der Urteilskorrektur besteht (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 121 ff.; Weigend, StV 2008, S. 39 <42, Fn. 51>).
Dem Bundesgerichtshof ist es daher unbenommen, auf seine zu den Folgen von Verstößen gegen Belehrungspflichten entwickelte Rechtsprechung zurückzugreifen, wonach nicht jedes Verbot, einen Beweis zu erheben, zwingend ein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht; die Entscheidung für oder gegen ein Verwertungsverbot ist vielmehr aufgrund einer Abwägung der im Rechtsstaatsprinzip angelegten gegenläufigen Gebote und Ziele zu treffen (BVerfGK 9, 174 <196>; 17, 390 <402 f.>; vgl. auch BVerfGE 122, 248 <257 f.>; 130, 1 <29, 40>). Vor diesem Hintergrund greift der Einwand des Beschwerdeführers, die Abwägungslehre sei im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da ein Verstoß gegen Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK stets zu einen Beweisverwertungsverbot führen müsse, nicht durch.
(2) Es ist vielmehr Aufgabe der Fachgerichte, die sich aus dem Unterbleiben einer Belehrung ergebenden Konsequenzen festzulegen (BVerfGK 9, 174 <196>). Bei der Frage nach einem Beweisverwertungsverbot im konkreten Fall handelt es sich daher um eine Frage der Anwendung einfachen Rechts, die grundsätzlich das Fachgericht zu beantworten hat (vgl. BVerfGK 9, 174 <197 f.>; 17, 390 <405>). Zu hohe Anforderungen an die Annahme eines Verwertungsverbots hinsichtlich rechtswidrig gewonnener Beweise können allerdings in das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren eingreifen (BVerfGK 9, 174 <189>; 17, 390 <399>).
Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der Bundesgerichtshof die Anforderungen an die Annahme eines Beweisverwertungsverbots überspannt hätte. Insbesondere bestehen keine verfassungs- oder völkerrechtlichen Bedenken dagegen, den Umstand, dass der Beschwerdeführer ordnungsgemäß gemäß § 136 Abs. 1, § 163a StPO belehrt worden war, in die Abwägung einzustellen. Beide Belehrungen unterscheiden sich zunächst darin, dass Art. 36 Abs. 1 WÜK - anders als § 136 Abs. 1 StPO - die Belehrungspflicht nicht an den Beginn der Vernehmung des Beschuldigten knüpft, sondern an seine Festnahme (BVerfGK 9, 174 <196>). Überdies hat der Internationale Gerichtshof betont, dass die Belehrung gemäß Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK nicht stets unmittelbar im Zusammenhang mit der Festnahme erfolgen (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 85: "neither the terms of the Convention as normally understood nor its object and purpose suggest that ‚without delay' is to be understood as ‚immediately upon arrest and before interrogation'") oder einer Beschuldigtenvernehmung zeitlich vorangehen müsse (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 87: "cannot be interpreted to signify that the provision of such information must necessarily precede any interrogation so that the commencement of interrogation before the information is given would be a breach of Article 36"). Beide Belehrungen sind daher nicht gleichrangig und gleichwertig (vgl. Kreß, GA 2007, S. 296 <305>; Esser, JR 2008, S. 271 <275 f.>; Weigend, StV 2008, S. 39 <42>). Vielmehr kann bei der für die Entscheidung über ein Beweisverwertungsverbot wegen unterlassener Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 WÜK notwendigen Gesamtabwägung auch eine ordnungsgemäße Belehrung nach § 136 Abs. 1, § 163a StPO Berücksichtigung finden.
(3) Nicht zu beanstanden ist ferner, dass der Umstand, dass die zweite polizeiliche Vernehmung des Beschwerdeführers "ohne anwaltlichen Beistand" erfolgt ist, in der Abwägung des Bundesgerichtshofs keine Berücksichtigung gefunden hat. Art. 36 Abs. 1 WÜK schützt nicht die Aussagefreiheit des Betroffenen, sondern ausschließlich die Möglichkeit, über den konsularischen Beistand einen Verteidiger beizuziehen (BGHSt 52, 110 <116>; Esser, JR 2008, S. 271 <275>). Nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs ist es zulässig, den Betroffenen zunächst ohne Belehrung zu vernehmen oder die Vernehmung - nach Belehrung - vor der Kontaktaufnahme mit dem Konsulat durchzuführen (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 87 f.; Kreß, GA 2007, 296 <306>; Walter, JR 2007, S. 99 <100 f.>). Denn es ist gerade nicht Aufgabe des Konsulatspersonals, selbst anwaltlich tätig zu werden, sondern nur, den Betroffenen zu besuchen, mit ihm zu sprechen und ihm Hilfestellung bei der Suche nach einem Verteidiger zu leisten (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 85).
Zum Zeitpunkt der zweiten polizeilichen Vernehmung hatte der Beschwerdeführer bereits einen Verteidiger, den er auch schon konsultiert hatte. Weshalb dieser nicht bei der Vernehmung anwesend war, bleibt letztlich unklar; jedenfalls aber war in diesem Zeitpunkt der Schutzzweck der Belehrungspflicht erfüllt, sodass dem Beschwerdeführer kein Nachteil im Sinne der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs entstanden sein dürfte (Reich, Überlange Verfahrensdauer und andere Verfahrensfehler im Strafverfahren unter Berücksichtigung der Vollstreckungslösung des Großen Senats für Strafsachen, 2011, S. 212).
(4) Ebenfalls nicht zu beanstanden ist, dass die Aufhebung des Strafurteils bei unterbliebener Belehrung nach den Regeln des deutschen Strafprozesses davon abhängt, dass das Urteil auch auf dem Verfahrensverstoß beruht.
Auch der Internationale Gerichtshof verlangt nicht nur einen tatsächlich entstandenen Nachteil für den Betroffenen, sondern darüber hinaus die Feststellung eines Ursachenzusammenhangs zwischen diesem Nachteil und der Verletzung des Völkerrechts (vgl. IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 122 f., 138: "in the causal sequence of events" bzw. "the possible prejudice caused by that violation"; vgl. Kreß, GA 2004, S. 691 <697 f.>). Fehlt es daran, so gibt es nichts dagegen zu erinnern, dass - wie in der angegriffenen Entscheidung - der Ausfall der Belehrung im Ergebnis ohne prozessuale Sanktion bleibt. Ausdrücklich verlangt der Internationale Gerichtshof nicht in jedem Fall eine Sanktionierung des Völkerrechtsverstoßes (IGH, Fall Avena, a.a.O., Rn. 139: "whatever may be the actual outcome of such review and reconsideration").
Dass der Bundesgerichtshof die Gesichtspunkte des Nachteils und des Ursachenzusammenhangs in die Beruhensprüfung integriert hat, lässt einen Verstoß gegen diese Anforderungen und das Recht auf ein faires Verfahren nicht erkennen.
cc) Die Nichtgewährung einer Kompensation im Rahmen der sogenannten Vollstreckungslösung (vgl. hierzu BGHSt 52, 124 ff.) kann den Beschwerdeführer schon deshalb nicht in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzen, weil die Vollstreckungslösung nicht im Einklang mit den Vorgaben für eine angemessene Wiedergutmachung für eine unterbliebene Belehrung stünde. In Fällen, in denen der Betroffene - wie hier - zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, ist die erneute Überprüfung des Schuld- und Strafausspruchs geboten (IGH, Fall LaGrand, a.a.O., Rn. 125: "review and reconsideration of the conviction and sentence"). Dagegen bleibt es bei der sogenannten Vollstreckungslösung bei der dem Unrecht und der Schuld angemessenen Strafe, die nicht in eine aus Entschädigungsgründen reduzierte Strafe umgewandelt wird (vgl. BGHSt 52, 124 <141>); der Strafausspruch - und erst recht der Schuldspruch - bleiben unberührt (Paulus/Müller, StV 2009, S. 495 <500 f.>; Esser, JR 2008, S. 271 <277>; Gless/Peters, StV 2011, S. 369 <370>; Reich, a.a.O., S. 208 f.). Die Anwendung der Vollstreckungslösung eröffnet damit keine Möglichkeit, das Strafurteil im Einzelfall in seiner Gesamtheit zu überprüfen und die Fragen der Schuld und der Strafzumessung neu zu bewerten. "Review and reconsideration" sollen indes gerade sicherstellen, dass im Revisionsverfahren geprüft wird, welchen Einfluss der Belehrungsausfall auf die Urteilsfindung hatte (Simma/Hoppe, Tulane Journal of International and Comparative Law 14 <2005>, S. 7 <36>; Paulus/Müller, StV 2009, S. 495 <501 f.>).
2. Auch soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG rügt, hat die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg. Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kann zwar auch dadurch begründet sein, dass das Revisionsgericht eine Vorlage gemäß § 132 Abs. 2 GVG an den Großen Senat für Strafsachen oder die Vereinigten Großen Senate unterlässt (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Juli 2007 - 2 BvR 1255/07 -, NStZ 2008, S. 39 m.w.N.). Der Beschwerdeführer legt jedoch nicht dar, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Divergenzvorlage erfüllt waren. Soweit er eine Abweichung der angegriffenen Entscheidung von dem Beschluss des 5. Strafsenats vom 25. September 2007 (BGHSt 52, 48 ff.) behauptet, setzt er sich nicht damit auseinander, dass diese Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben wurde, damit keine Rechtswirkungen mehr von ihr ausgehen können und sie erst recht keine Grundlage mehr für eine Divergenzvorlage bilden kann (vgl. Hannich, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl. 2013, § 132 GVG, Rn. 8). Hinsichtlich der behaupteten Abweichung der angegriffenen Entscheidung von einem Beschluss des V. Zivilsenats (BGH, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 223/09 -, FGPrax 2010, S. 212), legt der Beschwerdeführer nicht dar, dass dieser Beschluss der angegriffenen Entscheidung entgegensteht. Die dort behandelte Belehrungspflicht ergab sich nicht aus Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK, sondern ließ sich - da der Betroffene aus Sierra Leone stammte - nur aus dem Konsularvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland (BGBl II 1957, S. 285) herleiten, der eine Art. 36 Abs. 1 Buchstabe b Satz 3 WÜK entsprechende ausdrückliche Belehrungspflicht nicht vorsieht.
3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2014 Nr. 1
Externe Fundstellen: NJW 2014, 532
Bearbeiter: Holger Mann