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HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 653

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 3044/09, Beschluss v. 11.06.2010, HRRS 2010 Nr. 653


BVerfG 2 BvR 3044/09 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 11. Juni 2010 (LG Traunstein/AG Traunstein)

Unverletzlichkeit der Wohnung; Durchsuchungsanordnung (Tatverdacht; bloße Mutmaßungen; nachträgliche verdachtsbegründende Tatsachen); Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde.

Art. 13 Abs. 1 GG; Art 13. Abs. 2 GG; § 102 StPO; § 98 Abs. 2 S. 2 StPO; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Erforderlich zur Rechtfertigung eines Eingriffs in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) ist der Verdacht, dass eine Straftat begangen wurde. Das Gewicht des Eingriffs verlangt dabei Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, wenn sich sachlich plausible Gründe für eine Durchsuchung nicht mehr finden lassen (vgl. BVerfGE 59, 95, 97; 117, 244, 262 f.). Eine Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Verdachts erforderlich sind; denn sie setzt einen Verdacht bereits voraus (vgl. BVerfGK 8, 332, 336; 11, 88, 92).

2. Zur Verneinung eines entsprechenden Verdachts in einem Fall, in dem bei einer Verkehrskontrolle lediglich bei einem Begleiter des Betroffenen Drogen gefunden wurden, bei ersterem ein Drogenschnelltest ein positives Ergebnis zeigte und der Betroffene bereits mehrfach wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden war.

3. Für das Vorliegen eines Tatverdachts ist auf den Zeitpunkt der Anordnung abzustellen. Gibt der Betroffene nach Bekanntgabe der entsprechenden Durchsuchungsanordnung an, die zu suchenden deliktischen Gegenstände (vorliegend Drogen) in seiner Wohnung aufzubewahren, ist dies unerheblich für die Beurteilung, ob ein anfänglicher Tatverdacht gegeben war.

Entscheidungstenor

Der Beschluss des Landgerichts Traunstein vom 18. November 2009 - 2 Qs 311/09 -, der Beschluss des Amtsgerichts Traunstein vom 16. Oktober 2009 - 5 Gs 2163/09 - und die Durchsuchung seiner Wohnung am 7. Juli 2009 verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die gerichtlichen Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Traunstein zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu drei Vierteln zu erstatten.

Gründe

A.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft das Vorliegen eines Tatverdachts als Eingriffsvoraussetzung bei einer strafprozessualen Durchsuchung.

I.

1. Der Beschwerdeführer war am 6. Juli 2009 Beifahrer in einem PKW, der von Polizeibeamten gegen 21.10 Uhr einer verdachtsunabhängigen Kontrolle unterzogen wurde. Bei dem Fahrer wurde in der Hosentasche Haschisch aufgefunden und der daraufhin veranlasste Drogenschnelltest war positiv. Bei dem Beschwerdeführer wurden keine Betäubungsmittel gefunden. Ein Urintest wurde bei ihm nicht durchgeführt. Zum Anlass ihrer Fahrt gaben beide an, dass sie einen Rasenmäher transportiert hätten. Der Beschwerdeführer wurde zur Polizeiinspektion verbracht, wo er bei der Vernehmung keine weiteren Angaben machte. Den Ermittlungsbeamten war der Beschwerdeführer wegen mehrerer Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz bekannt. Zuletzt war er im Jahr 2006 wegen des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt worden, wobei die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden war. Die Dauer der Bewährungszeit wurde bis zum 15. Januar 2010 festgesetzt.

2. Gegen 22.45 Uhr nahmen die Ermittlungsbeamten Kontakt mit dem Staatsanwalt auf. Dieser ordnete die Durchsuchung der Wohnung des Beschwerdeführers gemäß § 102 StPO an. Der Beschwerdeführer räumte nach der Mitteilung der durch den Staatsanwalt angeordneten "Nachschau" ein, dass er Haschisch in der Wohnung aufbewahre. Die Durchsuchung wurde dann gegen 00.08 Uhr vollzogen, wobei 5,7 Gramm Haschisch aufgefunden und beschlagnahmt wurden.

3. Der Beschwerdeführer stellte nach Erhalt der Anklageschrift am 1. September 2009 einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Durchsuchung, weil kein Anfangsverdacht bestanden habe.

4. Der Staatsanwalt nahm am 25. September 2009 zu dem Sachverhalt Stellung. Die Ermittlungsbeamten hätten ihm mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer und der Fahrer zum Anlass der Fahrt "völlig unglaubwürdige Angaben" gemacht hätten. Das von der Polizei mitgeteilte Verhalten und die Vorstrafen des Beschwerdeführers, der Betäubungsmittelfund beim Fahrer und die unglaubwürdige Einlassung hätten den Verdacht begründet, dass der Beschwerdeführer weiterhin mit Betäubungsmitteln zu tun habe und diese bei sich aufbewahre.

5. Das Amtsgericht stellte mit Beschluss vom 16. Oktober 2009 fest, dass die Durchsuchung rechtmäßig gewesen sei. Ein Tatverdacht habe vorgelegen. Bei dem Fahrer des Pkw seien Betäubungsmittel gefunden worden und ein Drogenschnelltest positiv verlaufen. Zum Anlass der Fahrt hätten der Beschwerdeführer und der Fahrer unglaubwürdige Angaben gemacht. Ferner sei der Beschwerdeführer polizeibekannt mehrmals wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz in Erscheinung getreten. Diese Gesamtumstände hätten den Staatsanwalt zum Anordnungszeitpunkt zutreffend auf einen Anfangsverdacht schließen lassen. Ferner sei um 00.08 Uhr kein Ermittlungsrichter zu erreichen gewesen. Bei einem Abwarten bis zum Beginn des richterlichen Notdienstes gegen 06.00 Uhr hätte die Gefahr eines Beweismittelverlusts bestanden. Es sei daher von einer Gefahr im Verzug auszugehen.

6. Die Beschwerde wurde mit Beschluss des Landgerichts Traunstein vom 18. November 2009 verworfen. Tatsächliche Anhaltspunkte für eine Straftat seien gewesen, dass der Fahrer des PKW Betäubungsmittel mit sich geführt habe und dass diese Situation von den Fahrzeuginsassen nicht plausibel habe erklärt werden können. Ferner sei der Beschwerdeführer zwischen 1987 und 2006 fünfmal wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden, davon zweimal wegen unerlaubten Handeltreibens. Es habe auch Gefahr im Verzug bestanden.

7. Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Amtsgerichts Traunstein vom 7. Dezember 2009 zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

II.

Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG durch die Durchsuchung und die Beschlagnahme.

1. Es habe kein Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer bestanden. Der Umstand, dass bei dem Fahrer des PKW Betäubungsmittel gefunden worden seien, begründe noch keinen Anfangsverdacht auf einen Besitz von Betäubungsmitteln bei dem Beschwerdeführer. Der Bezug auf frühere Verurteilungen nähre lediglich Vermutungen, führe aber nicht zu einem konkreten Anfangsverdacht.

2. Der Richtervorbehalt sei missachtet worden. Der am Landgericht Traunstein eingerichtete Notdienst des Ermittlungsrichters ende um 21.00 Uhr und beginne um 06.00 Uhr. Damit werde die Anordnungsbefugnis des Staatsanwalts wegen Gefahr im Verzug in dieser Zeit zum Regelfall. Dies widerspreche den Anforderungen des Art. 13 Abs. 2 1. Halbsatz GG, der eine ständige Erreichbarkeit des Ermittlungsrichters gebiete.

III.

Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hatte Gelegenheit zur Stellungnahme; es hat hiervon keinen Gebrauch gemacht. Dem Bundesverfassungsgericht hat die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Traunstein (110 Js 19182/09) vorgelegen.

B.

Soweit der Beschwerdeführer die Beschlagnahme des Betäubungsmittels und die Nichtbeachtung des verfassungsrechtlichen Richtervorbehalts aus Art. 13 Abs. 2 1. Halbsatz GG rügt, liegen die Annahmevoraussetzungen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) nicht vor. Hinsichtlich der Beschlagnahme ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, weil der Beschwerdeführer den Rechtsweg nicht erschöpft hat (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Er hätte zunächst eine Entscheidung des Amtsgerichts über die Beschlagnahme nach § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO herbeiführen müssen. In dem hier vorliegenden Verfahren hat er nur die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Durchsuchung beantragt. Dementsprechend betreffen die gerichtlichen Entscheidungen nur diese Frage. Ebenfalls unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde, soweit die Nichteinhaltung des Richtervorbehalts gerügt wird, weil die Begründung nicht den Anforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügt. Der Beschwerdeführer hat nicht dargelegt, dass er im fachgerichtlichen Verfahren diese Rüge bereits vorgetragen hat (vgl. BVerfGE 81, 97 <102>; 104, 65 <70 f.>; 112, 50 <60 ff.>). Dies kann auch den angegriffenen Entscheidungen nicht entnommen werden.

C.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde im Übrigen zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 13 Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die angegriffenen Beschlüsse und die Durchsuchung verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG.

I.

Mit der Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung durch Art. 13 Abs. 1 GG erfährt die räumliche Lebenssphäre des Einzelnen einen besonderen grundrechtlichen Schutz. Erforderlich zur Rechtfertigung eines Eingriffs in dieses Grundrecht ist der Verdacht, dass eine Straftat begangen wurde. Das Gewicht des Eingriffs verlangt dabei Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, wenn sich sachlich plausible Gründe für eine Durchsuchung nicht mehr finden lassen (vgl. BVerfGE 59, 95 <97>; 115, 166 <197 f.>; 117, 244 <262 f.>). Eine Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Verdachts erforderlich sind; denn sie setzt einen Verdacht bereits voraus (vgl. BVerfGK 8, 332 <336>; 11, 88 <92>).

II.

Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Beschlüsse nicht gerecht. Die Annahme eines ausreichenden Tatverdachts ist von Verfassungs wegen nicht haltbar. Bei dem Beschwerdeführer selbst wurden keine Betäubungsmittel aufgefunden. Anders als bei dem Fahrer des PKW wurde auch kein Drogenschnelltest durchgeführt, der zu weiteren tatsächlichen Anhaltspunkten für den Besitz von Betäubungsmitteln hätte führen können. Auch die übereinstimmenden Aussagen des Beschwerdeführers und des Fahrers zum Zweck ihrer Fahrt waren nicht derart fernliegend oder in sich widersprüchlich, dass diese als unglaubwürdig und damit als ein weiterer hinreichender Anknüpfungspunkt für einen Tatverdacht gewertet werden konnten. Die fünf Vorverurteilungen des Beschwerdeführers wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz aus den Jahren 1987 bis 2006 waren ohne das Vorliegen weiterer tatsächlicher Anhaltspunkte keinesfalls ausreichend, um einen Tatverdacht auf eine aktuelle Straftat anzunehmen. Schließlich begründet auch die Gesamtschau der aufgeführten Indizien keinen auf tatsächlichen Gründen beruhenden Tatverdacht. Daran ändert auch die Einlassung des Beschwerdeführers auf die Mitteilung der Durchsuchungsanordnung hin nichts, weil für das Vorliegen eines Tatverdachts hier auf den Zeitpunkt der Anordnung abzustellen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 2008 - 2 BvR 683/08 -, ZIP 2008, S. 2027 <2029>). Den Ermittlungsbehörden lag kein Hinweis darauf vor, dass der Fahrer des PKW die bei ihm aufgefundenen Betäubungsmittel von dem Beschwerdeführer erhalten hat. Auch geht aus den Ermittlungsakten nicht hervor, dass der Beschwerdeführer den Eindruck erweckt hatte, Betäubungsmittel konsumiert zu haben. Die Annahme eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz beruhte daher auf bloßen Vermutungen, die den schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre nicht zu rechtfertigen vermögen.

III.

Die angegriffenen Beschlüsse sind aufzuheben (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen, das noch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben wird.

IV.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 653

Bearbeiter: Stephan Schlegel