HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 721
Bearbeiter: Stephan Schlegel
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 677/05, Beschluss v. 27.06.2006, HRRS 2006 Nr. 721
Die sitzungspolizeiliche Verfügung des Jugendrichters des Amtsgerichts Tiergarten vom 26. Februar 2004 verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 4 Absätze 1 und 2 des Grundgesetzes. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag der Beschwerdeführerin auf Gewährung von Prozesskostenhilfe.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage der Grundrechtskonformität einer während einer strafrechtlichen Hauptverhandlung gegenüber einer Zuschauerin ergriffenen sitzungspolizeilichen Maßnahme des Gerichts.
Die Beschwerdeführerin ist türkische Staatsangehörige und lebt seit 1998 in Deutschland. Sie ist Muslima. Aus religiösen Gründen trägt sie seit ihrer Kindheit in der Öffentlichkeit ein Kopftuch.
Am 26. Februar 2004 besuchte die Beschwerdeführerin als Zuschauerin eine Verhandlung des Jugendrichters des Amtsgerichts Tiergarten. Die Verhandlung wurde gegen ihren Sohn geführt. Bekleidet war die Beschwerdeführerin u. a. mit einem langen Mantel und einem dezenten Kopftuch. Nach ihrem Vorbringen forderte der Jugendrichter sie auf, das Kopftuch abzulegen oder anderenfalls den Gerichtssaal zu verlassen. Zur Begründung habe der Richter angeführt, dass er das Tragen von Kopfbedeckungen bei seinen Verhandlungen prinzipiell nicht dulde. Sie - die Beschwerdeführerin - sei vom Jugendrichter nach den Gründen, warum sie ein Kopftuch getragen habe, nicht gefragt worden. Sie habe unter dem Eindruck der richterlichen Anordnung den Sitzungssaal verlassen.
Im Protokoll der Hauptverhandlung findet sich folgender Eintrag: "Die Mutter des Angeklagten wurde darauf hingewiesen, dass im Gerichtssaal Kopfbedeckungen nicht getragen werden. Sie verließ daraufhin ohne Kommentar freiwillig den Gerichtssaal".
Als Reaktion auf Presseveröffentlichungen über den Vorfall vom 26. Februar 2004 ließ der Präsident des Amtsgerichts über die Justizpressestelle mitteilen, dass er von einer dienstrechtlichen Überprüfung des Verhaltens des Jugendrichters habe absehen müssen, da sitzungspolizeiliche Befugnisse - um die es sich vorliegend handele - zum Kernbereich richterlicher Tätigkeit gehörten und die nachträgliche Bewertung auf Grund dieser Befugnisse getroffener Maßnahmen durch einen Dienstvorgesetzten in die richterliche Unabhängigkeit eingreife. Zudem habe die Beschwerdeführerin den Verhandlungssaal freiwillig verlassen und nicht darauf hingewiesen, dass sie ihr Kopftuch aus religiösen Gründen getragen habe.
1. Die Verfassungsbeschwerde greift die Anordnung des Jugendrichters im Termin vom 26. Februar 2004 an. Sie macht eine Verletzung der Beschwerdeführerin in deren Grundrecht auf Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie einen Verstoß gegen Art. 3 GG geltend.
Der Vorsitzende des Gerichts habe sich nicht über die Gründe der Beschwerdeführerin, ein Kopftuch zu tragen, informiert. Damit habe er die Schutzwirkung des Art. 4 GG verkannt. Die Beschwerdeführerin sei auf Grund ihres äußeren Erscheinungsbildes als Muslima erkennbar gewesen. Dem Jugendrichter hätte sich aufdrängen müssen, dass sie ihr Kopftuch nicht getragen habe, um gegenüber dem Gericht Missachtung auszudrücken. An einem Grundrechtsverstoß könne - entgegen der Auffassung des Amtsgerichtspräsidenten - nicht deshalb gezweifelt werden, weil die Beschwerdeführerin den Gerichtssaal "freiwillig" verlassen habe. Zum einen habe sie im Fall eines Verbleibens Nachteile für ihren angeklagten Sohn befürchtet. Zum anderen habe sie nicht in Kauf nehmen wollen, zwangsweise aus dem Saal entfernt zu werden.
2. Die Verfassungsbeschwerde wendet sich auch gegen § 176 GVG als Ermächtigungsnorm für sitzungspolizeiliche Verfügungen. Diese Vorschrift verletze die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG. Dass der Gesetzgeber gegen sitzungspolizeiliche Maßnahmen eines Richters keinen fachgerichtlichen Rechtsbehelf vorgesehen habe, sei verfassungswidrig.
Die Beschwerdeführerin beantragt mit der Verfassungsbeschwerde die Gewährung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung ihrer Bevollmächtigten.
Die Senatsverwaltung für Justiz des Landes Berlin hat von einer Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde abgesehen.
Die Verfassungsbeschwerde wird, soweit sie sich gegen die Maßnahme des Jugendrichters wendet, zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die geltend gemachte Verletzung von Grundrechten hat besonderes Gewicht. Besonders gewichtig ist eine Grundrechtsverletzung unter anderem dann, wenn sie auf eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten hindeutet (vgl. BVerfGE 90, 22 <25>; 96, 245 <248>). Eine solche generelle Missachtung von Grundrechten, die sich in einer gefestigten Gerichtspraxis ausdrücken kann (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Dezember 1999 - 1 BvR 1287/99 -, NJW 2000, S. 944, 945), steht hier im Raum. Es entspricht ständiger Übung des Jugendrichters, in seinen Verhandlungen Anwesenden das Tragen von Kopfbedeckungen zu untersagen, ohne dabei das Vorliegen einer konkreten Störung der Sitzung unter Beachtung grundrechtlicher Positionen der von der Anordnung betroffenen Personen geprüft zu haben.
Die Zuständigkeit der Kammer ist gegeben. Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für eine Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 89, 1 <13 f.>) und des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG (vgl. BVerfGE 108, 282 <298 f.>) sind geklärt.
Soweit die Verfassungsbeschwerde § 176 GVG angreift, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen. Insoweit ist sie unzulässig.
1. Der Angriff der Verfassungsbeschwerde gegen die Norm des Gerichtsverfassungsgesetzes ist nicht ausreichend substantiiert. Er erschöpft sich in dem nicht weiter ausgeführten Vorbringen, dass ein Rechtsweg gegen sitzungspolizeiliche Maßnahmen eines Gerichts nicht eröffnet sei.
2. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Anordnung des Jugendrichters wendet, ist sie zulässig. Insbesondere fehlt es nicht an einem Rechtsschutzbedürfnis der Beschwerdeführerin. Zwar entfaltet die von ihr angegriffene richterliche Maßnahme für sie keine gegenwärtige Beschwer mehr. Für die Beschwerdeführerin muss gleichwohl die - nunmehr nachträgliche - Möglichkeit einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung der gegen sie ergangenen Maßnahme bestehen. Anderenfalls würde der Schutz ihrer Grundrechte in unzumutbarer Weise verkürzt. Es liegt in der Natur der Sache, dass gegen sitzungspolizeiliche Maßnahmen - es sei denn, sie entfalten, wie bei einer mehrtägigen Verhandlung, über einen längeren Zeitraum hinweg Wirkung - um Rechtsschutz vor dem Bundesverfassungsgericht nicht rechtzeitig nachgesucht werden kann (vgl. zu entsprechenden Sachlagen BVerfGE 9, 89 <93 f.>; 52, 223 <235>).
1. In dem Rahmen, in dem sie zulässig ist, ist die Verfassungsbeschwerde auch begründet. Mit dem Hinweis auf seine Praxis, das Tragen von Kopfbedeckungen in seinen Verhandlungen prinzipiell nicht zuzulassen, hat der Jugendrichter der Beschwerdeführerin verboten, im Gerichtssaal ihr Kopftuch zu tragen. Dieses Verbot verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als allgemeines Willkürverbot in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.
Als Rechtsgrundlage des Verbots, ein Kopftuch zu tragen, kommt - da die Beschwerdeführerin wegen ihrer Kleidung nicht ausdrücklich gemäß § 175 GVG aus dem Saal gewiesen wurde (zur Anwendung des § 175 GVG auf Fälle nachträglicher Zutrittsversagung vgl. Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, 4. Aufl. 2005, § 175 Rn. 2) - nur die sitzungspolizeiliche Generalklausel des § 176 GVG in Betracht.
Nach § 176 GVG obliegt die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung dem Vorsitzenden. Die Ordnung besteht dabei nicht nur in der Sicherung des ungestörten Verlaufs der Verhandlung (vgl. BGH, NJW 1998, S. 1420). Auch die Würde des Prozesses ist Teil der Sitzungsordnung (vgl. Albers, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 63. Aufl. 2004, § 176 GVG Rn. 2). Zur Aufrechterhaltung der Ordnung und damit auch zur Wahrung äußerer Formen (vgl. Wickern, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozessordnung, 25. Aufl. 2003, § 176 GVG Rn. 16), wozu auch das Tragen angemessener Kleidung gehören kann (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 3. August 1966 - 1 BvR 441/96 -, zit. in DRiZ 1966, S. 356; OLG Karlsruhe, NJW 1977, S. 311, 312), hat der Vorsitzende die erforderlichen Maßnahmen nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Mai 1994 - 1 BvR 733/94 -, NJW 1996, S. 310; Albers, a.a.O., Rn. 3; Wolf, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 2. Aufl. 2001, § 176 GVG Rn. 9). Um sein Ermessen ausüben zu können, muss der Richter zuvor allerdings prüfen, ob eine Beeinträchtigung der Ordnung der Sitzung durch das Verhalten eines Prozessbeteiligten oder Zuschauers überhaupt vorliegt oder konkret zu besorgen ist (Wolf, a.a.O., Rn. 8).
Diese Prüfung hat der Jugendrichter nicht vorgenommen. Als Grund für das gegenüber der Beschwerdeführerin ausgesprochene Verbot hat er angeführt, das Tragen von Kopfbedeckungen in seinen Verhandlungen prinzipiell nicht zu dulden. Eine solch pauschalisierende Betrachtung lässt außer Acht, dass nicht in jedem Aufbehalten von Hüten oder Kopftüchern in geschlossenen Räumen eine Missachtungskundgebung gegenüber anderen anwesenden Personen und damit ein "ungebührliches" Verhalten liegen muss. Das Tragen von Kopfbedeckungen in Anwesenheit anderer kann auch billigenswerte Gründe haben. Unter anderem kann es - wie das Bundesverfassungsgericht auch schon entschieden hat (vgl. BVerfGE 108, 282 <298 und 305>) - Ausdruck von Religionsausübung sein, womit es den Schutz des Art. 4 GG genießt.
Des Schutzes aus Art. 4 GG geht der Einzelne nicht deshalb verlustig, weil er sich als Zuhörer in einem Gerichtssaal befindet. Verträgt sich das der Religionsausübung dienende Verhalten mit einem störungsfreien Ablauf der Sitzung, ist es vom Gericht mit Blick auf Art. 4 GG hinzunehmen (vgl. Kissel/Mayer, a.a.O., § 178 Rn. 14). Für den konkreten Fall des Tragens von Kopfbedeckungen im Gerichtssaal gilt daher, dass eine Ungebühr und damit eine Störung der Sitzung nicht vorliegt, wenn das Aufbehalten eines Hutes oder Kopftuchs lediglich aus religiösen Gründen erfolgt und auszuschließen ist, dass mit ihm zugleich Missachtung gegenüber der Richterbank oder anderen Anwesenden ausgedrückt werden soll (vgl. Kissel/Mayer, a.a.O., § 175 Rn. 8) und solange der Zuhörer als Person identifizierbar bleibt.
Der Jugendrichter hat dies bei seiner Würdigung des Verhaltens der Beschwerdeführerin nicht berücksichtigt, obwohl hierfür Anlass bestanden hätte. Ihrem äußeren Erscheinungsbild nach war die Beschwerdeführerin deutlich als Muslima zu erkennen, was es nahe legte, dass sie ihr Kopftuch aus religiösen Gründen trug. Dass die Beschwerdeführerin nicht ausdrücklich auf den religiösen Bezug ihrer Kleidung hingewiesen hat, ist deshalb unerheblich.
Das Verhalten des Jugendrichters verletzt Art. 3 Abs. 1 GG. Der Jugendrichter hat verkannt, dass für den Erlass einer sitzungspolizeilichen Maßnahme eine Störung der Verhandlung konkret festzustellen ist und dass bei der insoweit vorzunehmenden Prüfung grundrechtliche Positionen des Einzelnen von Bedeutung sein können. Daneben trägt die Maßnahme der besonderen Bedeutung des Grundsatzes der Öffentlichkeit mündlicher Verhandlungen als Bestandteil sowohl des Rechtsstaatsprinzips wie des Demokratieprinzips (vgl. BVerfGE 103, 44 <63>) nicht ausreichend Rechnung. Dieser Grundsatz gilt zwar nicht ausnahmslos; insbesondere besagt er noch nichts zu den Modalitäten, unter denen die Öffentlichkeit zugelassen wird. Ungeachtet der einfachgesetzlichen Konkretisierung in § 176 GVG zwingt sein verfassungsrechtlicher Rang den Richter jedoch dazu, im Rahmen der Wahrnehmung der sitzungspolizeilichen Gewalt nach pflichtgemäßem Ermessen auch die hinter der Öffentlichkeit stehenden Belange angemessen zu berücksichtigen. Dem wird eine undifferenzierte Handhabung der Frage des Tragens von Kopfbedeckungen nicht gerecht.
Da die Verfassungsbeschwerde überwiegend Erfolg hat, hat das Land Berlin der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen in vollem Umfang zu erstatten (vgl. BVerfGE 32, 1 <39>).
Mit dieser Anordnung erledigt sich der Antrag der Beschwerdeführerin auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (vgl. BVerfGE 104, 220 <238>).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 721
Externe Fundstellen: NJW 2007, 56
Bearbeiter: Stephan Schlegel