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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juli 2016
17. Jahrgang
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Von RA FA StrR Jochen Thielmann, Wuppertal
Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen gibt seit Jahren eine Broschüre mit dem Titel "Was Sie über den Strafprozess wissen sollten." heraus, mit der der interessierte Bürger über die wichtigsten Themen des Strafverfahrens unterrichtet werden soll. Das "Ziel des Strafverfahrens" wird ebenso erläutert wie die einzelnen Verfahrensabschnitte, das Strafbefehlsverfahren und die "Beteiligung der Verletzten, Opferschutz". Liest der juristische Laie diese Broschüre, so kann er sich ein Bild machen über den theoretischen Gang des Strafverfahrens; die Praxis des Strafverfahrens bleibt ihm jedoch verborgen. Aber selbst der angehende Strafjurist wird weder durch das Studium noch durch das Referendariat darauf vorbereitet, wie die Realität eines Strafprozesses aussieht. Die Juristenausbildung an der Universität führt die Studenten nicht in einen Verhandlungssaal, allenfalls beim anwaltlichen Praktikum darf man Gerichtsluft schnuppern. Das Referendariat ändert dies zwar, aber es geht dort in der staatsanwaltlichen Station nur um kleine Strafsachen, in denen die Referendare die Sitzungsvertretung übernehmen. Es sind erste Einblicke in die Praxis der Strafjustiz, aber ein echtes Verständnis über die Mechanismen geben sie nicht, denn sobald eine Strafsache schwierig zu werden droht, wird ein "echter" Staatsanwalt eingesetzt.
Jedem, der als Strafverteidiger arbeitet, werden früher oder später die Augen aufgehen und er wird erkennen, nach welchen Regeln außerhalb der Strafprozessordnung tatsächlich gespielt wird. Wahrscheinlich wird es jedem jungen Richter oder jungen Staatsanwalt genauso ergehen, wenn auch mit einer anderen Perspektive. Nach und
nach werden die Regeln sichtbar, nach denen ein Strafverfahren abläuft. Niedergeschrieben werden diese Regeln doch in den seltensten Fällen, dabei wäre es für alle Beteiligte wichtig, möglichst frühzeitig darüber aufgeklärt zu werden.
Die Rolle des Aufklärers übernahm für mich der amerikanische Universitätsprofessor und Strafverteidiger Alan Dershowitz. Das erste auch in Deutschland erschienene Buch des Revisionsspezialisten aus Harvard hieß "Reversal of fortune"[1] und berichtete von dem in den USA berühmt-berüchtigten von-Bülow-Skandal, in dessen Verlauf Dershowitz eine entscheidende Rolle spielte und das aufzeigte, wie engagierte Strafverteidigung aussehen sollte. Da Professor Dershowitz offenbar bis heute niemals mit dem Schreiben aufgehört hat, wurde in den folgenden Jahren meine "Dershowitz-Bibliothek" immer größer. Die Lektüre der Bücher von Professor Dershowitz war stets trotz der Unterschiede zwischen dem anglo-amerikanischen Strafrechtssystem und den Prinzipien der Strafprozessordnung eine sehr große Hilfe beim Verständnis des Strafverfahrens und hat mich mehr gelehrt als jede Vorlesung an der Universität.
Vor fast 35 Jahren stellte Alan Dershowitz in seinem Buch "The Best Defense" die dreizehn Spielregeln des amerikanischen Strafprozesses auf.[2] Diese Regeln hat er knapp zwanzig Jahre später in seinem Buch "Letters to a young lawyer" noch einmal aufgenommen und in den Erläuterungen ergänzt[3]. Dass diese Regeln aus seiner Sicht noch immer Gültigkeit besitzen, beweist der Umstand, dass er sich in seiner 2013 erschienenen Autobiografie "Taking the Stand – My Life in the Law" erneut darauf berufen hat.[4] Die dreizehn ursprünglichen Regeln des Professors Dershowitz lauten wie folgt:
Regel I: Die meisten Angeklagten sind tatsächlich schuldig.
Regel II: Alle Strafverteidiger, Staatsanwälte und Richter kennen und glauben Regel I.
Regel III: Es ist grundsätzlich leichter, schuldige Angeklagte zu verurteilen, indem man die Verfassung verletzt, als wenn man sich daran hält, und in manchen Verfahren ist es sogar unmöglich, schuldige Angeklagte zu verurteilen, ohne gegen die Verfassung zu verstoßen.
Regel IV: Viele Polizisten lügen bei der Frage, ob sie die Verfassung verletzt haben, damit schuldige Angeklagte verurteilt werden.
Regel V: Alle Staatsanwälte, Richter und Strafverteidiger sind sich der Regel IV bewusst.
Regel VI: Viele Staatsanwälte ermutigen stillschweigend die Polizei, darüber zu lügen, ob sie die Verfassung verletzt haben, damit schuldige Angeklagte verurteilt werden.
Regel VII: Alle Richter sind sich der Regel VI bewusst.
Regel VIII: Viele Instanzrichter geben vor, den Polizisten zu glauben, von denen sie wissen, dass sie lügen.
Regel IX: Alle Revisionsrichter sind sich der Regel VIII bewusst und geben trotzdem vor, den Instanzrichtern zu glauben, die vorgeben, den lügenden Polizisten zu glauben.
Regel X: Viele Richter behaupten, Angeklagten nicht zu glauben, die von einer Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte berichten, selbst wenn diese die Wahrheit sagen.
Regel XI: Die meisten Richter und Staatsanwälte würden nicht bewusst einen Angeklagten verurteilen, von dem sie glauben, dass er hinsichtlich der angeklagten Tat (oder einer eng verwandten Tat) unschuldig ist.
Regel XII: Regel XI ist nicht anwendbar auf Mitglieder des organisierten Verbrechens, Drogendealer, Berufsverbrecher oder potentielle Spitzel.
Regel XIII: Niemand will wirklich Gerechtigkeit.
Die Regeln Dershowitz` sind eine Mischung aus Selbstverständlichkeiten (Regeln I, II und XI), deutlicher Kritik an den Ermittlungsbehörden und dem gesamten Justizapparat (Regeln III-X, XII) und einer Provokation (Regel XIII), die so bodenlos ist, dass Dershowitz mittlerweile das kleine Wort "Almost" (Fast) an deren Beginn gestellt hat.[5] Die aufgelisteten Punkte sind aus Sicht des Professors einige stark vereinfachte "Schlüsselregeln", die jedem bewusst sind, der sich seit einiger Zeit auf diesem Feld bewegt. Sie sind so einfach formuliert, dass sie keiner weiteren Erläuterung bedürfen, gleichwohl massig Diskussionsstoff bieten. Es soll hier nur auf die wichtigsten Regeln näher eingegangen werden.
1. Die durch Regel III aufgeworfene Fragestellung ist nicht nur die Grundlage für alle folgenden Regeln, sondern auch eine Art Gradmesser für die Rechtsstaatlichkeit einer Justizordnung. Die von Dershowitz gewählte Formulierung beinhaltet hier keinen Angriff gegen bestimmte Beteiligte des Justizapparates, sondern belässt es bei einer schlichten Feststellung: Es ist tatsächlich einfacher, einen schuldigen Angeklagten zu verurteilen, wenn man seine Rechte verletzt, und manchmal ist nur
dadurch eine Verurteilung möglich. Darauf aufbauend stellt sich die Frage nach der staatlichen Reaktion auf diesen Umstand, denn die daraus durch die Strafjustiz gezogenen Konsequenzen führen zu der Qualifizierung eines Systems als Rechtsstaat oder Unrechtsstaat, wo es keine Rolle spielt, wie ein Angeklagter verurteilt wird, denn es gibt keine, zumindest keine unabänderlichen Regeln, die man bei der Verfolgung von Rechtsbrechern einhalten muss. Wenn ein solcher Staat einen bestimmten Angeklagten bestraft sehen will, wird er bestraft, unabhängig von den angewandten Gesetzen und dem Weg dorthin. In einem Rechtsstaat darf so etwas nicht vorkommen, denn nur wenn die Gesetze richtig angewandt werden und ein fairer Prozess dem Urteil zugrunde liegt, ist eine Verurteilung gerechtfertigt.
Die nachfolgenden Regeln des Harvard-Professors machen deutlich, dass sich im Amerika der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts und offenbar bis heute Polizisten, Staatsanwälte und Richter gerade nicht an gewisse Regeln halten. Zwar gibt es keine gesetzliche Regelung, wie ein Richter speziell die Zeugenaussage eines Polizisten zu werten hat, so dass ein Gesetzesverstoß nicht offenkundig vorliegt. Wenn der Richter erklärt, er glaube dem Zeugen, weil es keinerlei Anlass gebe, an dessen überzeugenden Ausführungen zu zweifeln, so ist das Gesetz dadurch nur verletzt, wenn der Richter subjektiv eine völlig andere Überzeugung hat. Ein solcher Verstoß ist fast unmöglich nachzuweisen, denn ebenso wie in Deutschland gibt es auch in den USA die freie Beweiswürdigung.[6] Und weil man nicht in den Kopf des Richters eindringen kann, muss man nicht selten mit der Überzeugung leben, dass der Richter nach einem Motto verfahren ist, das laut Professor Dershowitz über jedem Gerichtsgebäude eingemeißelt sein müsste: "Der Zweck heiligt die Mittel."[7] In der deutschen Rechtsprechung ist seit langem anerkannt, dass nicht jeder Gesetzesverstoß der Ermittlungsbehörden dazu führen muss, dass ein Beschuldigter davon z.B. mittels eines Beweisverwertungsverbotes profitiert. Es kommt auf die Schwere des Verstoßes ebenso an wie auf die Schwere der vorgeworfenen Tat. Zum Beispiel führt aus Sicht des Bundesgerichtshofs der Umstand, dass eine Wohnraumüberwachung auf einer verfassungswidrigen Norm beruht, nicht zur Unverwertbarkeit ihrer Ergebnisse, weil eine Interessenabwägung notwendig ist und die Interessen des Angeklagten an der Erhaltung seiner Privatsphäre gegenüber den Interessen des Staates an der Verfolgung terroristischer Straftaten zugunsten des Staates ausfällt.[8] Das Bundesverfassungsgericht hat die Entscheidung in diesem Punkt nicht beanstandet.[9] Mit solchen Entscheidungen fallen Grenzen, die zum Schutz des Bürgers aufgestellt worden sind. Wie Dershowitz sagt: es ist halt leichter, Angeklagte zu verurteilen, wenn man sich nicht an die eigenen Regeln hält, und in dem angesprochenen Fall wäre es unmöglich gewesen, die Angeklagten zu verurteilen, wenn man sich an die Regeln gehalten hätte. Es ist daher nicht mehr notwendig, dass ein schwerer Eingriff wie eine präventive, verdachtsunabhängige Wohnraumüberwachung auf einer verfassungsmäßigen Eingriffsgrundlage basiert, wenn damit nur vermeintliche Terrorverdächtige, Mafiosi oder Berufskriminelle dingfest gemacht werden können. Der Zweck heiligt die Mittel.
Besonders interessant wird die Regel III, wenn man sie leicht verändert und das Adjektiv "schuldig" eliminiert: "Es ist grundsätzlich leichter, Angeklagte zu verurteilen, indem man die Verfassung verletzt, als wenn man sich daran hält, und in manchen Verfahren ist es sogar unmöglich, Angeklagte zu verurteilen, ohne gegen die Verfassung zu verstoßen." Dadurch wird einerseits deutlich, dass auch die Verurteilung Unschuldiger in dem Moment leichter möglich ist, wenn man gegen bestimmte Regeln zum Schutz von Beschuldigteninteressen verstößt. Natürlich ist es nicht das Ziel von Richtern und Staatsanwälten, Unschuldige anzuklagen und zu verurteilen (siehe Regel XI). Aber in den meisten Fällen kann der Richter nicht wissen, ob der Angeklagte tatsächlich schuldig ist oder nicht, es sei denn, es geht um ein Beweisverwertungsverbot, das den ansonsten sicheren Schuldnachweis entfallen ließe. Dies führt direkt zum entscheidenden Punkt: es ist erst der manchmal beschwerliche Weg eines prozessual geordneten und fairen Verfahrens, der es einem Richter ermöglicht, eine verlässliche Aussage über die Schuld des Angeklagten zu treffen. Dershowitz` Regel vermischt insofern formelle und materielle Richtigkeit, indem sie das materielle Ergebnis – die Schuld des Angeklagten – voraussetzt, obwohl sie erst durch den formell ordnungsgemäßen Prozess ermittelt werden muss. Der Rechtsgelehrte nimmt hier eine Art "göttliche Perspektive" ein, um seinen Punkt klarzumachen. Nichts anderes machen Richter, die schon nach dem Aktenstudium überzeugt sind, dass der Angeklagte schuldig ist und daher eine Verurteilung für das richtige Ergebnis halten. Es sei an das leuchtende Beispiel einer langjährigen Strafkammervorsitzenden erinnert, die im Jahre 2007 in einem Leserbrief an die Deutsche Richterzeitung folgendes schrieb: "Das – insbesondere Steuern zahlende – Volk ist empört, wenn ein Angeklagter nach einer immens langen und teuren Beweisaufnahme mangels Beweises auf Kosten des Steuerzahlers zu Unrecht freigesprochen wird."[10] Einfacher formuliert: "Das Volk ist empört, wenn ein schuldiger Angeklagter mangels Beweises freigesprochen wird." Dass sich in einem solchen Fall diese Richterin nicht an die Regeln der Strafprozessordnung halten würde, um ein – auch von ihr selbst offenbar als empörend empfundenes – Ergebnis zu vermeiden, versteht sich fast von selbst. Die Feststellung von Schuld hängt nicht mehr von zur Verfügung stehenden Beweismitteln ab, sondern wird im Voraus aufgrund des Bauchgefühls
des Gerichts gewonnen. Gleichzeitig wird konkludent das Fehlen von Beweismitteln beklagt.
2. Nach der Mitwirkung als Verteidiger in zwei außergewöhnlichen Staatsschutzverfahren[11] haben für den Verf. vor allem die zusammenhängenden Regeln XI und XII besondere Bedeutung erlangt. Danach konstatiert Dershowitz, dass die meisten Richter und Staatsanwälte bewusst einen wegen Terrorismus Angeklagten verurteilen würden, auch wenn sie glauben, dass er hinsichtlich der angeklagten Tat (oder einer eng verwandten Tat) unschuldig ist. Meine Erfahrungen können diese These zwar nicht zweifelsfrei bestätigen, jedoch spricht sehr viel dafür, dass gerade in solchen Verfahren andere Maßstäbe angelegt werden als bei normalen Strafverfahren.
Der Verlauf des ersten deutschen Al-Qaida-Verfahrens deutet stark darauf hin. Das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf wurde zunächst zum Teil vom Bundesgerichtshof aufgehoben, weil der Staatsschutzsenat aus einem Angeklagten ein Mitglied der Terrorgruppe machte, obwohl die Vereinigung von der Existenz dieses Mannes niemals erfahren hatte.[12] Später wurde dann dieses Urteil des Bundesgerichtshofs wegen einer verfassungswidrigen Feststellung von vielfachen Betrugstaten in Gänze durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben.[13] Hier hatten also die Instanzgerichte in wichtigen rechtlichen Punkten die Grenzen nachweisbar rechtswidrig bzw. sogar verfassungswidrig zulasten der Angeklagten verschoben.[14]
Das Oberlandesgericht Stuttgart hat im September 2015 zwei Exil-Ruander zu hohen Haftstrafen verurteilt, die als Präsident und Vizepräsident einer Vereinigung mit einem politischen und einem militärischen Arm strafrechtliche Verantwortung für angebliche Massaker in der Demokratischen Republik Kongo tragen sollen.[15] Es spielte dabei keine entscheidende Rolle, dass keiner der Männer solche Taten befohlen oder sich jemals innerhalb der Organisation für irgendwelche Gewalttaten ausgesprochen, sondern im Gegenteil nachweisbar vielfach auf ein gutes Zusammenleben mit der einheimischen Bevölkerung hingewirkt hatte.[16] Es soll jedoch nach Ansicht des OLG Stuttgart ausreichen, dass sie in Pressekommuniques Berichte über Gewaltakte dementiert haben, von denen in den Medien berichtet, die aber von ihren Kontaktpersonen vor Ort bestritten wurden. Für die Überzeugung, dass es in der DRC tatsächlich zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch diese Gruppe gekommen ist, stützte sich der Senat maßgeblich auf Aussagen von Zeugen vom Hörensagen von den Vereinten Nationen und von Human Rights Watch. Dass die Ansichten von Verteidigung und Gericht über den Gang dieses Verfahrens im Grundsatz nicht auseinander lagen, zeigte die in den Medien vielfach zitierte Zusammenfassung des Vorsitzenden Richters in der mündlichen Urteilsbegründung: "So geht es nicht!"[17] Wenn aber selbst ein Vorsitzender Richter die Meinung vertritt, dass es so, wie es gelaufen ist, nicht gehe, so stellt sich zwangsläufig die Frage, wieso dann Angeklagte zu dreizehn bzw. acht Jahre langen Freiheitsstrafen verurteilt werden konnten, die sich in ihrer politischen Arbeit nachweisbar stets (vergeblich) dafür eingesetzt hatten, den ruandischen Konflikt mithilfe von Verhandlungen zu lösen.
Wenn aber am Ende dieser beiden Verfahren durch die Gerichte jeweils Schuldsprüche erfolgten, dann zeigt dies, dass es nicht in erster Linie um die Straftaten der konkret Angeklagten ging, sondern eher darum, den Staat vor Terrorismus zu schützen bzw. der (internationalen) Öffentlichkeit zu zeigen, dass auf die deutsche Justiz bei der Jagd auf Terroristen Verlass ist. Wenn Richter noch während der Urteilsverkündung bekennen, dass sie sich herausgefordert gefühlt haben, um das Ziel der Verurteilung zu erreichen, oder dass es so nicht gehe, wie es gerade unter der eigenen Verhandlungsführung gelaufen ist, versteht sich fast von selbst, dass es bei einer solchen Vorgehensweise zu Kollateralschäden kommen muss.[18]
3. Mit der Provokation der letzten Regel, dass (fast) niemand wirklich Gerechtigkeit will, können Strafverteidiger wesentlich unbeschwerter umgehen als Richter und Staatsanwälte. Für Verteidiger sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass das Interesse ihrer – meist schuldigen (Regel I) – Mandanten möglicherweise nicht in einem gerechten Urteil liegt. Dershowitz nimmt in seinen Büchern vielfach Bezug auf die alte Geschichte des Anwalts, der seinem ortsabwesenden Mandanten nach Urteilsverkündung glücklich telegrafierte, "Die Gerechtigkeit hat gesiegt!" und als prompte Antwort erhielt: "Sofort Rechtsmittel einlegen!" Insofern ist es möglicherweise im Interesse des Angeklagten, dass die Wahrheit nicht ans Tageslicht kommt, so dass der Verteidiger als Interessenvertreter seines Mandanten nicht der materiel-
len Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtet sein kann. Dies gilt allenfalls bei unschuldigen Angeklagten.
Der Vorwurf, dass niemand Gerechtigkeit will, muss aber Staatsanwälte und Richter gleichermaßen treffen, denn sie sind in Deutschland verpflichtet, der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu dienen.[19] Der Vorwurf, Gerechtigkeit nicht zu wollen, obwohl man zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn geschworen hat, der Gerechtigkeit zu dienen, geht schon fast über die Provokation hinaus in den Bereich einer strafbaren Beleidigung. Denn vielleicht liegt ein Problem darin, dass manche Richter Gerechtigkeit zu sehr wollen. Ist es gerecht, einen wahrscheinlich schuldigen Angeklagten freizusprechen, wenn die Beweise zur Überführung nicht ausreichen? Ist es gerecht, eine falsche dienstliche Erklärung abzugeben, um so ein materiell als richtig empfundenes Urteil gegen einen Angeklagten zu "retten"? Kann es nicht sein, dass Richter dazu neigen, bei Gerechtigkeit nur an die materielle Gerechtigkeit zu denken, die durch den Urteilsspruch erreicht werden soll? Hinsichtlich dieser Gerechtigkeit stellt Dershowitz den meisten Richtern in Regel XI einen Persilschein aus, auch wenn Regel XII dies wieder relativiert. Wenn es aber darum geht, dem Beschuldigten durch den korrekten Ablauf des Strafverfahrens Gerechtigkeit zukommen zu lassen, also bei der "formellen Gerechtigkeit", sieht die Sache aus dem Blickwinkel von Dershowitz anders aus. Hier wird aus seiner Perspektive als Wissenschaftler und Strafverteidiger nicht selten unsauber gespielt, weil (erneut) der Zweck die Mittel heiligt und der allem übergeordnete Zweck das "richtige" Urteil ist. Wenn Richter insoweit den Vorwurf "Niemand will wirklich Gerechtigkeit" empört zurückweisen, weil sie sich auf die "Gerechtigkeit des Zwecks" konzentrieren, geht die Zielrichtung des US-Professors erkennbar in Richtung "Gerechtigkeit des Mittels". Und an diesem Punkt sind die Argumente von Richtern und Staatsanwälten weit weniger überzeugend
Die Praxis in Deutschland zeigt, dass es zwischen dem Strafprozess hier und in den Vereinigten Staaten – bei allen Unterschieden in Einzelheiten – grundlegende Gemeinsamkeiten gibt. Da Strafprozessrecht praktiziertes Verfassungsrecht darstellt, tauchen in jedem demokratischen Rechtsstaat zwangsläufig die gleichen Probleme auf. Nach dem Vorbild von Professor Dershowitz soll im Folgenden aufgrund der eigenen Erfahrungen und aus Gesprächen mit Kollegen eine Reihe ergänzender Regeln aus der Praxis niedergelegt werden, die ebenfalls das Tagesgeschäft vor deutschen Strafgerichten beherrschen. (Die Liste ist nicht abschließend. Jeder vor deutschen Gerichten tätige Praktiker wird weitere Regeln anbringen können, die in die eine oder andere Kategorie gehören.)
Regel XIV: Die Unschuldsvermutung fristet in den deutschen Gerichtssälen ein stiefmütterliches Dasein – und je schwerwiegender das angeklagte Verbrechen, umso unbedeutender wird sie.
Regel XV: Richter entscheiden oftmals "im Zweifel für die volle Überzeugung von der Schuld des Angeklagten".
Regel XVI: Tatsächlich bestehende Zweifel an der Schuld eines Angeklagten werden in der Strafzumessung strafmildernd berücksichtigt.
Regel XVII: Schöffen sind überflüssig, weil sie nur am Rande in die Entscheidungsbildung einbezogen und nicht ernst genommen werden.
Regel XVIII: Nicht wenigen Verteidigern ist der gute Kontakt zu den ortsansässigen Richtern – auch im Hinblick auf Beiordnungen – wichtiger als eine engagierte Verteidigung des Mandanten.
Regel XIX: Viele Richter ziehen faule Verteidiger den fleißigen vor und ordnen solche Anwälte auch regelmäßig als Pflichtverteidiger bei.
Regel XX: Gerichte halten sich Haus- und Hofgutachter, die immer wieder beauftragt werden und die diejenigen Ergebnisse liefern, die die Grundeinstellung der jeweiligen Strafkammern berücksichtigt.
Regel XXI: Eine Vielzahl der Vorsitzenden von Kleinen Strafkammern hält ihren eigenen Job – zumindest was die Berufungen von Verurteilten angeht – für überflüssig.
Regel XXII: Hinsichtlich der Untersuchungshaft gehen viele Richter nach dem uralten Prinzip "U-Haft schafft Rechtskraft" vor.
Regel XXIII: Faulheit und Oberflächlichkeit von Richtern nützen einem Angeklagten mehr als jeder gute Verteidigerschriftsatz; Faulheit oder Oberflächlichkeit seines Verteidigers brechen ihm das Genick.
Regel XXIV: Je mehr Vorstrafen ein Angeklagter hat, desto geringer sind seine Chancen, unabhängig von seiner Schuld im Einzelfall.
Regel XXV: Es gibt kein Strafverfahren, in dem eine professionelle Strafverteidigung überflüssig ist.
Auch diese Regeln sollen – soweit sie sich nicht selbst erklären – kurz erläutert werden.
1. Die Regeln XIV-XVI beziehen sich auf den insgesamt eher schlechten Gesundheitszustand der beiden stärksten verfassungsrechtlichen Schwerter der Verteidigung, der Unschuldsvermutung und dem Grundsatz "in dubio pro reo". Dass die Durchschlagskraft beider Prinzipien zum größten Teil mangelhaft ist, mag auch daran liegen, dass die deutschen Richter die Regel I von Alan Dershowitz so sehr verinnerlicht haben. Folglich stellt statistisch ein Freispruch materiell-rechtlich immer eher ein Fehlurteil dar als eine Verurteilung.
Mit der Stellung der Schöffen ist es auch nicht zum Besten bestellt. Nur wenige ehrenamtliche Richter scheinen das Interesse und gleichzeitig auch den Mut zu haben, ihren Vorsitzenden Paroli zu bieten. Nur wenige Berufsrichter ermuntern die Schöffen, sich aktiv an der Hauptverhandlung zu beteiligen Die Sicht von Berufsrichtern auf Schöffen ist vielfach von (teilweise sicherlich auch berechtigter) Skepsis und Ablehnung bestimmt. Für Strafverteidiger sind Schöffen das unbekannte Wesen, das nicht selten Angst vor ihnen zu haben scheint.[20]
Die Regeln XVIII-XX beschreiben die unsägliche Allianz zwischen Organen der Rechtspflege bzw. ihren Helfershelfern, die erkennbare Züge von Korruption zulasten der jeweils Beschuldigten trägt. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Richtern und ortsansässigen Rechtsanwälten, die eine "ständige Vertretung" in den Gerichtssälen zur Folge hat, gibt es wohl schon seit Jahrzehnten und wurde schon oft genug in der Literatur angeprangert.[21] Jeder Strafverteidiger – und auch jeder Strafrichter – wird die überschaubare Anzahl an Kollegen nennen können, die regelmäßig von den Richtern in einem Gerichtsbezirk bedacht werden. Solange das Beiordnungsrecht keinerlei Transparenz beinhaltet, werden solche Seilschaften bestehen, was für die Beschuldigten zumindest die konkrete Gefahr birgt, nicht engagiert verteidigt zu werden. Im Hinblick auf die Arbeit von Sachverständigen ist allerspätestens dann besondere Aufmerksamkeit geboten, sobald ein (finanzielles) Abhängigkeitsverhältnis besteht und der Gutachter ohne die Aufträge des Gerichts entsprechende Probleme bekommen würde.[22]
Das Problem der Berufungsrichter ist wahrscheinlich ein rein menschliches: wer seinen Arbeitsaufwand dadurch positiv bestimmen kann, dass er Angeklagten (und ggf. ihre Verteidigern) schon zu Beginn deutlich macht, dass eine Berufung keinerlei Aussicht auf Erfolg hat, um sie so zu einer Rechtsmittelrücknahme zu veranlassen, der wird mit einer anderen Einstellung das Aktenstudium betreiben, als wenn er die Verhandlung in jedem Fall durchzuführen hat. Wer sich darüber hinaus den Ruf verdienen will, dass in den Verfahren, in denen er zuständig ist, eine Sprungrevision in jedem Fall mehr Aussicht auf Erfolg hat, bemüht sich bei störrischen Verteidigern um eine möglichst genaue Aufklärung des Sachverhalts und des Vorlebens zulasten des Verurteilten.[23] Die belastenden Umstände werden überhöht, die entlastenden Umstände übersehen. So wird irgendwann jedem Verteidiger deutlich, dass eine Berufung bei diesem Gericht keinen Sinn macht. Umgekehrt kann sich die Staatsanwaltschaft sicher sein, einen als falsch empfundenen Freispruch spätestens in der nächsten Instanz korrigieren zu können.
Die strafprozessualen Regeln – aufgestellt und inspiriert von Professor Alan Dershowitz – könnten Anlass bieten zur Diskussion, auch wenn einige der nun insgesamt 25 Regeln nicht verändert werden können oder auch sollten – wie zum Beispiel Regel I und Regel XXV. Auch eine rein beschreibende Regel wie Regel III ist systemimmanent. Sobald aber regelmäßig Verfahrensweisen zu konstatieren sind, die die festgeschriebenen strafprozessualen Vorschriften auf den Kopf stellen, um das als gerecht empfundene Ergebnis zu erreichen (Regeln IV-X), sollte man sich fragen, ob man sich mit diesem Bild der Strafjustiz abfinden will oder ob man nicht versuchen sollte, diese Praxis zu verändern. Und wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass sich der Status quo in verschiedenen Punkten wandeln muss, dann stellt sich die Frage, wie dies vonstatten gehen kann.
Einerseits müsste die juristische Ausbildung stärker auf die "wahre" Praxis des Strafprozesses eingehen und sich auch mit den Kehrseiten der Medaille auseinandersetzen. Später sind regelmäßige Fortbildungen für alle Beteiligten ebenso wichtig wie wirksame Kontrolle.[24] Es muss sowohl bei den Richtern als auch bei den Strafverteidigern (auch mithilfe der jeweiligen Berufsorganisationen) Druck auf die schwarzen Schafe ausgeübt werden, die es überall gibt. Die Schaffung von Transparenz ist – wie in allen Bereichen der Gesellschaft – ein wichtiger Schritt gegen eine schleichende Oberflächlichkeit und Unlust oder festgefahrene Vetternwirtschaft. Was sagt es einer Gerichtsverwaltung, wenn die Erfolgsaussichten der
Berufung von Angeklagten bei einer bestimmten Strafkammer statistisch bei nahezu Null angekommen sind? Was hätte es für Auswirkungen, wenn sich feststellen ließe, dass bei einem bestimmten Amtsgericht zum größten Teil immer dieselben fünf Rechtsanwälte als Pflichtverteidiger beigeordnet werden, von denen einige nicht einmal Fachanwälte für Strafrecht sind? Spätestens wenn die große Öffentlichkeit erkennen könnte, wie es alltäglich in den Gerichtssälen und hinter den verschlossenen Türen der Beratungszimmer aussieht, würde sich vielleicht ein entsprechender Druck auf die handelnden Akteure entfalten. Hierzu müssten auch die Medien ein mehr als nur oberflächliches Interesse an der Justiz entwickeln. Es müsste mehr mutige Menschen wie Thomas Fischer innerhalb der Justiz geben, die einmal den Vorhang wegziehen, so dass man ungeschminkt auf die guten und weniger guten Dinge innerhalb der deutschen Justiz schauen kann, wenn man denn nur will. In bestimmten Bereichen könnte der Gesetzgeber mit Änderungen den Weg in die richtige Richtung beschleunigen. Schließlich scheint es der beste Weg zu sein, wenn jeder Beteiligte seine eigene Handlungsweise von Zeit zu Zeit kritisch hinterfragt. Sollte man dabei Verhaltensweisen finden, die sich im Laufe der Zeit eingeschlichen haben und die man bei Kollegen in Anwalt- oder Richterschaft beanstanden würde, so besteht stets die Möglichkeit, auf den richtigen Weg zurückzukehren.
Dass in einem von Strafverteidigern aufgestellten Regelkatalog weitaus öfter Richter in der Kritik stehen als Rechtsanwälte, liegt wahrscheinlich in der Natur der Sache. Es wird dabei auf ein Zitat des französischen Literaten Francois de La Rochefoucauld verwiesen: "Unsere Feinde kommen in ihrem Urteil über uns der Wahrheit näher als wir selber". Auch wenn das Wort "Feinde" vorliegend natürlich nicht angebracht ist, können Verteidiger die Arbeitsweise von Richtern oftmals besser einschätzen als die der eigenen Kollegen, ebenso wie wahrscheinlich Richter die Arbeitsweise von Verteidigern besser einschätzen können als die der Richterkollegen. Aus diesem Grund wäre es sehr interessant, weitere "ungeschriebene Regeln des Strafprozesses" aus Richtersicht aufzustellen, in denen die Balken in den Augen der Verteidiger dargelegt werden, die vorliegend nicht angesprochen wurden.
[1] Alan M. Dershowitz , "Reversal of fortune – Inside the von Bülow case", 1986; der deutsche Titel lautete – eine zugegebenermaßen nicht ganz wörtliche Übersetzung: "Die Affäre der Sunny von B." (in deutscher Sprache 1990 erschienen); vgl. Rezension von Salditt, StV 1988, 75f.
[2] Alan M. Dershowitz "The Best Defense", 1982, Introduction S. XXI.
[3] Alan Dershowitz , "Letters to a young Lawyer” (2001), S. 80; vgl. Rezensionen von Thielmann, NJW 2004, 586 ff. und JuS-Magazin 2004, 25.
[4] Alan Dershowitz , "Taking the Stand – My Life in the Law” (2013), S. 70.
[5] Alan Dershowitz , "Taking the Stand – My Life in the Law” (2013), S. 70. Eine weitere Veränderung ist das Wort "Terrorist" in der Aufzählung von Regel XII.
[6] Was passieren kann, wenn Geschworene das Sagen haben und in ihrer Einstellung zur Aussage von Polizeibeamten kritischer sind als Berufsjuristen, zeigt besonders anschaulich das Verfahren gegen O. J. Simpson, das vor allem aufgrund von zwielichtigen Kriminalbeamten mit einem Freispruch endete; vgl. Alan Dershowitz, "Reasonable Doubt – The Criminal Justice System and the O. J. Simpson Case” (1996).
[7] Siehe "Letters to a young lawyer", S. 90.
[8] BGHSt 54, 69 = HRRS 2009 Nr. 890 = NStZ 2010, 44. Die Entscheidung wurde jedoch aufgrund einer verfassungswidrigen Behandlung des Betrugstatbestandes vom Bundesverfassungsgericht komplett aufgehoben (s. Fn. 9).
[9] BVerfGE 130, 1-51 = HRRS 2012 Nr. 27 = NJW 2012, 907 .
[10] Von Hasseln , DRiZ 2007, 294.
[11] Es handelt sich einmal um das erste deutsche Al-Qaida-Verfahren vor dem OLG Düsseldorf (2007/07) und um das erste Strafverfahren wegen eines Verstoßes gegen das Völkerstrafgesetzbuch vor dem OLG Stuttgart (2011-15).
[12] Vgl. Fn. 8.
[13] Vgl. Fn. 9.
[14] Wer kann angesichts eines solch verheerenden Zeugnisses sicher sein, dass die tatsächlichen Feststellungen völlig fair und korrekt im Urteil wiedergegeben wurden, vor allem wenn man bedenkt, dass der Vorsitzende Richter in der mündlichen Urteilsbegründung davon sprach, es sei eine "Herausforderung" gewesen, den Angeklagten ihre Täterschaft nachzuweisen (vgl. Thielmann, StV 2009, 607 (611))?
[15] Es ging um die Organisation FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas); das Urteil ist nicht rechtskräftig.
[16] Dass dies von den Medien vielfach überhaupt nicht verstanden worden ist, zeigt die Berichterstattung nach dem Urteil. So heißt es "Von Deutschland aus steuerten sie 2008 und 2009 per Satellitentelefon Massaker im Kongo" ( http://www.n-tv.de/politik/Stuttgarter-Gericht-verurteilt-Milizenfuehrer-article16027601.html) oder "Die Verbrechen habe er von Deutschland aus per Satellitentelefon, SMS und E-Mail gesteuert" ( http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/lange-haftstrafen-im-ruanda-prozess-13827722.html ).
[17] Vgl. nur http://www.sueddeutsche.de/politik/strafrecht-wo-die-deutsche-justiz-an-ihre-grenzen-stoesst-1.2668853 ; http://www.taz.de/!5236145/;http://www.spiegel.de/politik/deutschland/ruanda-prozess-zu-weit-weg-fuer-die-wahrheit-a-1055142.html .
[18] Das persönliche Fazit des Verf., wonach er zwar zweimal in sog. Terrorverfahren verurteilte Angeklagte verteidigt hat, aber noch niemals einen Terroristen, stellt dem deutschen Rechtsstaat kein gutes Zeugnis aus und stützt die Thesen von Alan Dershowitz.
[19] Gem. § 38 Abs. 1 DRiG hat ein Richter den folgenden Eid zu leisten: "Ich schwöre, das Richteramt getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen (so wahr mir Gott helfe)."
[20] Vgl. zum Verhältnis Verteidiger-Schöffe Thielmann RoR 2015, 83f.
[21] Vgl. zu diesem Thema nur Thielmann StraFo 2006, 358; ders. HRRS 2009, 452; ders. NJW 2011, 1927.
[22] Dasselbe gilt natürlich auch für Verteidiger, die nur durch Pflichtverteidigungen ihre Kanzlei am Leben erhalten können.
[23] Als in Wuppertal beheimateter Verteidiger muss ich konstatieren, dass hier das Rechtsmittel der Berufung (des Angeklagten) seinem Wesen nach nicht mehr existiert. In anderen Gerichtsbezirken mag es (hoffentlich!) anders sein.
[24] Dass die wirksame Kontrolle durch die obere Instanz gerade in Staatsschutzsachen in Gefahr ist, beweist z.B. der Aufsatz "Gemeinsam Neuland betreten – Das Zusammenspiel zwischen Bundesverfassungsgericht, Bundesgerichtshof und den Staatsschutzsenaten der Oberlandesgerichte in der Praxis" (Paulsen in FSS Tolksdorf, S. 343 ff.), in dem es wie folgt heißt: "Die Staatsschutzverfahren, die gemäß § 120 Abs. 1 und 2 GVG in erster Instanz den Oberlandesgerichten am Sitz der jeweiligen Landesregierung zugewiesen sind, werfen eine Vielzahl spezifischer Problemstellungen auf. Sehr häufig muss auf diesem Felde juristisches Neuland betreten werden. Zugleich ist der Fokus der Öffentlichkeit auf diese Verfahren gerichtet, so dass materielle oder formelle Fehler daher gravierende Konsequenzen haben können. Staatsschutzverfahren erfordern daher auf allen Rechtsprechungsebenen ein hohes Maß an Sensibilität und Genauigkeit. Die Strafprozessordnung kennt indes keinen Modus, der es ermöglichen würde, die an sich wünschenswerte Koordination über die Instanzen hinweg in formalisierter Art zu bewerkstelligen, etwa um bestimmte Rechtsfragen schon einmal vorab klären zu lassen und damit den Strafprozess von Ballast und Risiken zu befreien. Gleichwohl hat es sich in der Vergangenheit erwiesen, dass die Fortentwicklung des Rechts anhand von Fragestellungen aus den Staatsschutzverfahren besonders nachdrücklich, zugleich aber auch praxistauglich geschehen kann. Der gedankliche Wechsel hin zu der Perspektive der jeweils anderen Rechtsprechungsebene, aber auch der informelle Austausch im persönlichen Kontakt sind dabei probate Mittel, um den immer wieder neuen Herausforderungen angemessen begegnen zu können." (Hervorhebung durch den Verf.) Wenn sich vor einer Entscheidung die Richter der verschiedenen Instanzen auf einen gemeinsamen Weg einigen, dann ist das Rechtsmittel des Angeklagten von vornherein überflüssig.