HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2016
17. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Mindeststandards der Strafverteidigung

Einige sehr persönliche Anmerkungen

Von RA FAFamR JUDr. Friedrich Annohn, Nirgens i. Allgäu

Vom 4.-6. März 2016 fand in Frankfurt a.M. der 40. deutsche Strafverteidigertag statt. Der Verf. war zwar nicht persönlich angemeldet, konnte jedoch durch eine Hintertür den Veranstaltungsort erreichen, um sich ein Bild vom aktuellen Stand der Diskussion zu machen. Auch wenn die meisten Themenbereiche für den Praktiker von eher drittrangigem Interesse waren, so gab es doch eine interessante Arbeitsgruppe, deren Verlauf den Unterzeichner nun dazu bringt, den nachfolgenden Beitrag zu verfassen. Alle die, die Fortbildung nötig hatten, konnten sich in Frankfurt von oben herab mit den "Mindeststandards der Strafverteidigung" beschäftigen, obwohl dies doch eher ein Thema für diejenigen sein sollte, die grundsätzlich keine Fortbildung nötig haben.

I. Einleitung

Es muss zunächst einmal die Besetzung des Podiums hinterfragt werden. Dort saßen zwei Professoren, um aus ihrer Warte über das Thema zu sprechen. Leider sind abgehobene Erklärungen aus dem Elfenbeinturm nicht besonders hilfreich, wenn man in der Praxis versucht, sein Bestes zu geben. Insofern ist es für diese Persönlichkeiten ratsam, sich einfach mal zurückzuhalten, denn ich stelle mich ja schließlich auch nicht auf irgendeine Bühne und erkläre dann den hochverehrten Hochschullehrern, wie man Wissen schafft oder forscht. Ein weiterer Referent war ein Rechtsanwalt, der aber gleichfalls den Professorentitel führt, also praktisch in der Mitte des Elfenbeinturms gestrandet ist. Solche Kollegen haben aber regelmäßig mehr mit den feinen Wirtschaftskriminellen zu tun als mit den gemeinen Rechtsbrechern, so dass von dieser Seite ebenso wenig über Mindeststandards zu erwarten ist wie von dem jungen Staatsanwalt, der stolz darauf war, sich auf die Verfolgung von Polizisten und Rechtsanwälten spezialisiert zu haben (welch eine Mischung). Ein Richter hätte ein geeigneter Referent sein können, aber anstatt einen Amts- oder Landrichter einzuladen, war nur ein Bundesrichter vor Ort, dessen Tätigkeitsbereich nicht weiter von den Niederungen der Strafverteidigung entfernt sein könnte. Von amtsgerichtlichen Verfahren bekommt ein Bundesrichter sowieso nichts mit und was Verfahren vor den Großen Strafkammern angeht, so konzentrieren sich die Revisionsrichter ja nicht auf schlechte Strafverteidigung, sondern nur auf die Fehler ihrer Richterkollegen – theoretisch. Der moderierende Rechtsanwalt ließ schließlich immer wieder durchblicken, dass dieses Thema der Mindeststandards für ihn persönlich gar keines ist, weil er sich am obersten Ende des Spektrums aufhält, und ihn das Ganze nur ganz allgemein zum Wohle des Rechtsstaats interessiert.

Waren also Diskussionsleiter und Referenten allesamt gänzlich ungeeignet, sich mit diesem gar nicht sonderlich brisanten Thema auseinanderzusetzen, so zeigte sich an den Diskussionsbeiträgen der Teilnehmer, dass auch hier die notwendige Expertise fehlte, um über dieses Thema zu sprechen. Mir ist nur die (ewig wiederkehrende) Beschwerde eines Teilnehmers in Erinnerung geblieben, wonach immer dieselben Rechtsanwälte beigeordnet würden, nur er wieder nicht. Dass es hier offensichtlich um nichts anderes geht als um den puren Neid, braucht nicht weiter erläutert zu werden. Außerdem sollten diese

angeblich besseren Verteidiger sich einmal kritisch hinterfragen, was sie in der Vergangenheit vielleicht schon alles falsch gemacht haben, was dann bei den zuständigen Richtern zu der Überzeugung geführt hat, dass mit ihnen kein rechtsstaatlicher Blumentopf zu gewinnen ist. Wie heißt das Sprichwort so schön: Jeder kehre vor seiner eigenen Tür und fasse sich an seine eigene Nase. In jedem Fall ist Neid kein wertvoller Ratgeber.

Insofern lässt sich zusammenfassen, dass wahrscheinlich fast alle in diesem Hörsaal der Frankfurter Universität keine tiefer gehende Ahnung davon hatten, wie die Praxis beim Kampf an der Grenze der Mindeststandards der Verteidigung tatsächlich aussieht. Ich sehe mich deswegen gezwungen, einmal davon Zeugnis abzulegen, wie es in diesem Bereich wirklich zugeht, auch wenn ich persönlich natürlich nicht zu der Advokatenunterschicht gehöre, die sich leider regelmäßig in diesem Gelände bewegt. Aber ich habe als Rechtsbeistand, der regelmäßig das Vertrauen etlicher Richter genießt, natürlich meine Erfahrungen gemacht. Aber wenn es in dieser Hinsicht immer wieder sogenannte Kollegen gibt, die mich als "Verurteilungsbegleiter" oder "Robenständer" oder mit noch schlimmeren Verbalinjurien verunglimpfen, so muss ich dies auf das Schärfste zurückweisen. Das alles trifft nicht auf mich zu, zumindest nicht mehr als auf hunderte oder tausende Kollegen. Diese Beleidigungen sagen mehr über die Beleidiger aus als über den Beleidigten.

Denkt man einmal gewohnt oberflächlich über das Thema der "Mindeststandards der Strafverteidigung" nach, so kommt einem zunächst der Gedanke, dass dies doch eine sehr gute Sache sein könnte. Endlich gäbe es etwas, an das man sich halten könnte, wenn man nicht mehr so genau weiß, wo die feine Grenze zwischen "guter Strafverteidigung" und "zu schlechter Strafverteidigung" verläuft. Endlich könnte man jeden Kritiker in die Schranken weisen, indem man auf diese Leitlinien verweist, wenn man sie denn mal alle eingehalten hat. Das ist natürlich sehr verlockend. Aber sobald man einmal ein wenig intensiver als sonst darüber nachgrübelt, fällt einem auf, dass auch dann alles nicht so ganz einfach ist.

II. Akteneinsicht

Nehmen wir dazu einmal das Beispiel Akteneinsicht. "Umfassende Aktenkenntnis und vollständige Einarbeitung in den Verfahrensstand" wird von den Teilnehmern der Arbeitsgemeinschaft in der Zusammenfassung gefordert. Das klingt ja alles schön und gut. Jeder Verteidiger sollte die Akte lesen, das ist klar. Aber gehen wir doch sofort einmal ins Detail. Schauen wir einmal eine kleine Amtsgerichtssache an, Blattumfang vielleicht fünfzig Seiten, eine Beiordnung, weil der Mandant zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung wegen einer anderen Sache bereits sieben Monate weggesperrt ist. Nun kann ich natürlich die mir zugesandte Akte sofort von A-Z lesen, aber das beinhaltet die konkrete Gefahr, dass ich das alles am Tag der Hauptverhandlung längst wieder vergessen oder – noch gefährlicher – mit anderen Sachen durcheinandergebracht habe. Also lässt der verantwortungsvolle Pflichtverteidiger die Sache erst einmal liegen und erst dann wieder in die Hand, wenn er überrascht feststellt, dass am nächsten Morgen gerade diese Sache verhandelt werden soll.

Nun kann ich natürlich die Akte spätestens jetzt von A-Z durcharbeiten. Aber abgesehen von möglichen zeitlichen Schwierigkeiten, würde dies nun wirklich kein einziger Anwalt tun, auch nicht diese Fortgebildeten. Und das ist mein voller Ernst und ich bin bereit, diese Behauptung zu untermauern. Ich habe gerade zufällig eine Akte vor mir liegen und zitiere kurz das, was ich nach diesem Vorschlag als erstes lesen müsste:

"Termine: / Landesprüfungsamt: Ja Nein / Staatsarchiv: Ja Nein / Mitteilungen nach Nrn. MiStra / Benötigt werden () Mehrfertigungen von () / Zählkarte Nr. / Ausgefüllt am / Unterschrift / AG / LG / OLG."

Kommt dem Leser das bis hierhin bekannt vor? Ich gebe freimütig zu, mir bisher nicht. Und doch ist es tatsächlich auf jeder Akte, die ich zugeschickt bekomme, auf der ersten Seite abgedruckt, ich habe es gerade einmal überprüft. Trotzdem ist das doch völlig uninteressant! Interessant wird es doch erst beim fettgedruckten "Staatsanwaltschaft Strafsache/Bußgeldsache" mit dem dazugehörigen Städtenamen in Verbindung mit dem Aufkleber, der den Namen des Mandanten enthält. Die erste Seite jeder Akte enthält darüber hinaus noch einiges mehr, was man lesen kann, wenn man will, und sogar noch eine Rückseite. Danach kommen in einer Akte gewöhnlich der Statistikteil und ein "PKS-Datentransferbeleg". Aber das liest man doch auch nicht alles, zumindest nicht mehrfach. Da reicht es doch, wenn man das ein einziges Mal bei der ersten Akte einmal gelesen hat, denn es wiederholt sich ja immer wieder. Ich denke, da werden alle seriösen Strafverteidiger einig sein.

Nun gibt es solche unwichtigen Dinge in jeder Akte nicht nur am Anfang, sondern auch im weiteren Verlauf, seien es Ladungen an Zeugen, Zustellungsurkunden, Sachstandsanfragen von Behörden oder Anwälten etc. Wenn ich das alles lese, habe ich zwar "umfassende Aktenkenntnis", gleichzeitig bin ich aber offensichtlich bescheuert. Es ist doch wichtig, sich auf die entscheidenden Schriftstücke zu konzentrieren und Schwerpunkte zu setzen. Von fünfzig Seiten sind vielleicht nur vier bis sechs interessant. Wenn man die liest, ist man vollständig in den Verfahrensstand eingearbeitet, sprich: es reicht meistens bereits, wenn man zehn Prozent des Akteninhalts kennt, um vernünftig verteidigen zu können.

Denkt man ab dieser Stelle aber konsequent weiter, so muss jeder wahrheitsliebende Verteidiger zugestehen, dass sich die Fälle vor dem Amtsgericht oftmals gleichen wie ein Ei dem anderen. Beim Schwarzfahren ändern sich allenfalls das Datum und die Buslinie, aber ansonsten ist das immer dasselbe. Wenn es bei einem armen Junkie um Besitz vom Betäubungsmitteln geht, so kann die Droge unterschiedlich sein und auch die Menge. Lautet der Vorwurf Betrug durch ebay-Verkäufe oder gegenüber dem Jobcenter, so grenzt allenfalls die Schadenshöhe den ersten vom zweiten Fall ab. Ich sehe durchaus, dass diese Informationen wichtig sind, wenn man bei seiner Verteidigung am Ende einen vernünftigen Antrag stellen will. Aber aus diesem Grund wird zu Beginn der Hauptver-

handlung doch die Anklage noch einmal vorgelesen, die alle Verfahrensbeteiligten eigentlich schon kennen müssten. So ist man gleich zu Anfang in der 08/15-Fällen sofort auf den aktuellen Stand gebracht, selbst wenn man es nicht mehr geschafft hat, die entscheidenden Seiten vor Beginn der Hauptverhandlung zu finden.

Außerdem darf nicht übersehen werden, dass die Kollegen der Staatsanwaltschaft in den amtsgerichtlichen Hauptverhandlungen fast immer ohne vertiefte Aktenkenntnis agieren müssen. In solchen Situationen muss der Verteidiger heute schon nach dem vielbeschworenen Grundsatz des fair trial regelmäßig durch seine Passivität im Vorfeld für Waffengleichheit sorgen.

Bei Verfahren vor dem Landgericht oder gar dem Oberlandesgericht ist es natürlich aufgrund des Aktenumfangs etwas anders. Allerdings ist zu sagen, dass dort die Advokaten, um die es vorliegend in erster Linie geht, vorwiegend zur Verfahrenssicherung beigeordnet werden und nicht zur Verteidigung des Mandanten. Dies wird von ihnen nicht erwartet, dafür sind gewählte Kollegen zuständig. In der Arbeitsgruppe gab es ein schönes Beispiel vom Oberlandesgericht Stuttgart, das eine Beiordnung von zwei Kollegen in einem Umfangsverfahren nach über einhundert Hauptverhandlungstagen unbeanstandet gelassen hat. Diese beiden weiteren Pflichtverteidiger hatten dann nach ca. zweieinhalb Monaten pauschal erklärt, sie seien inzwischen eingearbeitet, woraufhin dann zwei Vertrauensanwälte vom Landgericht wegen unregelmäßiger Teilnahme an der Hauptverhandlung entpflichtet wurden. An dieser Rechtsprechung lässt sich deutlich sehen, dass die Richter aufgrund ihrer Fürsorgepflicht nur Kollegen mit besonders großen (vor allem zeitlichen) Kapazitäten beiordnen, die in der Lage sind, sich in überschaubarer Zeit in ein komplexes Verfahren einzuarbeiten, unabhängig von der Kooperation des neuen Mandanten und der Zahl der bereits zurückliegenden Hauptverhandlungstage. Um diese seltenen Exemplare der Anwaltszunft jedoch nicht zulasten des Rechtsstaats zu verschrecken – schließlich bestünde dann die die Gefahr, sie beim nächsten Notfall nicht mehr zur Verfügung zu haben –, ist es wichtig, ihnen konkludent zu vermitteln, dass sie niemals vom Gericht aufgefordert werden, ihre Aktenkenntnis zur Schau zu stellen. Darüber hinaus ist es bei dieser Art Verteidigung notwendig, dass das Gericht immer an ihrer Seite steht, wenn es zu völlig unverständlichen Attacken von Seiten der Konfliktverteidiger oder des Angeklagten kommt.

Zusammenfassend kann man also sagen, dass Akteneinsicht immer relativ gesehen werden muss und niemals absolut. Zehn Prozent sollte man schon draufhaben, wenn man als Verteidiger einen Verhandlungssaal betritt, auch wenn in vielen Fällen weniger Aktenkenntnis nicht weiter auffällt. In den allermeisten Fällen ist vor dem Amtsgericht aber natürlich viel mehr Aktenwissen vorhanden, selbst wenn der Pflichtverteidiger die Akte gar nicht gelesen hat, denn die oben geschilderten neunzig Prozent Ausschuss kennt man ja quasi auswendig, seitdem man "strafverteidigt". Und mit 90% Aktenkenntnis in eine Hauptverhandlung zu gehen, kann sicher nicht falsch sein. Hinsichtlich der Großverfahren vor Land- oder Oberlandesgerichten ist der "gesamtheitliche Ansatz" zu wählen, wonach von Seiten des Angeklagten gesehen werden muss, ob aus all den Prozentzahlen seiner Verteidiger zusammengenommen eine ausreichende Zahl gewertet werden kann. Nicht auszuschließende Aktenlücken bei den gelegentlich vorkommenden schwarzen Schafen können dann durch fleißige Arbeitsbienen in Gestalt von Wahlpflichtverteidiger wieder ausgeglichen werden.

III. Mandanteninformation

Neben der Akteneinsicht ist in der Arbeitsgruppe auf dem Strafverteidigertag das Thema der "umfassenden Informierung des Mandanten" zur Sprache gekommen. Dies gestaltet sich in der Praxis dadurch nicht ganz einfach, weil sich viele Mandanten von Pflichtverteidigern aufgrund ihrer offensichtlichen Gefährlichkeit in Haft befinden. Und wer besucht schon gerne einen gefährlichen, ggf. gewalttätigen Menschen? So reicht es im Regelfall aus, am Morgen der Hauptverhandlung das Gespräch zum Mandanten zu suchen. Wenn man jedoch ehrlich ist, muss man eingestehen, dass die meisten dieser Menschen sowieso nicht verstehen, was dort mit ihnen vorgeht. Wenn man versucht, sie in dieser Hinsicht umfassend aufzuklären, brechen die meisten schon nach wenigen Sätzen mit ihrer Aufmerksamkeit ein, denn der typische Mandant will eigentlich nur wissen, was hinten raus kommt (Stichwort: "Zielbesprechung"). Aber diese Information kann der ehrliche Pflichtverteidiger ihm nicht geben, weil er aus ethischen Gründen keine informellen Gespräche mit den Richtern führt, sondern diesen grundsätzlich ihre freie Entscheidungsmöglichkeit belässt. Aus diesem Grund reicht es im Mandantengespräch, möglichst einfach zu formulieren und sich kurz zu halten. Auch wenn der Pflichtverteidiger natürlich Monologe halten, die Rechtsprobleme des Falles skizzieren, den Akteninhalt langatmig wiedergeben und mit dem Mandanten durchgehen könnte, so drängt sich die Frage auf, was ihm dies nützt; oder noch viel wichtiger, was das dem Angeklagten nutzen könnte. Schließlich geht es hier nicht um einen Verteidiger und dessen oftmals übersteigertes Ego, sondern um den Angeklagten. Und das wird vielfach in unserer Justiz vergessen.

Wenn man wirklich einmal einen intellektuellen Überflieger als Mandanten hat, so ist es natürlich eher nötig, die Zeit zu investieren, um ihn umfassend zu unterrichten. Hier empfiehlt sich beispielsweise die Übergabe der kopierten Gerichtsakte. Aber darüber hinaus sind auch persönliche Gespräche unvermeidbar. Den Forderungen der Arbeitsgruppe ist daher in diesen Ausnahmefällen insofern beizupflichten, als dort zu Recht davon die Rede ist, dass solche Mandantengespräche als "erschöpfend" eingestuft werden müssen.

IV. Anwesenheit in der Hauptverhandlung

Die in der Arbeitsgruppe aufkommende Diskussion, ob man als Pflichtverteidiger in der Hauptverhandlung anwesend sein soll, wenn auch noch ein Kollege da herumsitzt, ist (nur) zum Teil verständlich. Schließlich verdient der Pflichtverteidiger genau bei diesen Terminen sein Geld, also ist es doch grundsätzlich seine privat-familiäre Pflicht, auch vor oder neben seinem Mandanten Platz zu

nehmen und die Verhandlung zu verfolgen. Aber es gibt natürlich auch Situationen, in denen es plötzlich schwierig wird. Ich gebe ein kurzes Beispiel aus meinem persönlichen Bereich: Wenn ich beim Amtsgericht mehrere Termine an einem Tag habe – was nicht zu oft vorkommt, höchstens zwei- bis achtmal im Monat – dann versuche ich das telefonisch so hinzubekommen, dass es zeitlich passt. Wenn ich also um 9.00 Uhr eine Hauptverhandlung habe und ein anderer Vorsitzender will mit mir für diesen Tag einen anderen Hauptverhandlungstermin abstimmen, dann sage ich dem natürlich klipp und klar, dass ich nicht vor 9.30 Uhr zur Verfügung stehe. Eine dritte Verhandlung könnte dann frühestens um 11.00 Uhr beginnen, schließlich will ich ja auch noch in der Kantine frühstücken. Aber alles funktioniert mit ein bisschen gutem Willen. Insgesamt muss ich daher sagen, dass die Vorsitzenden bei diesen Problemen immer sehr kooperativ sind, da gibt es so gut wie keine Probleme. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es halt heraus – eine gute alte Binsenweisheit, die sich die Herren Konfliktverteidiger einmal in die Binde kippen sollten.

Bei landgerichtlichen Verfahren ist es aber natürlich schwieriger, denn dort wird ja manchmal sogar bis tief in den frühen Nachmittag hinein verhandelt. Und in solchen Fällen muss es einfach erlaubt sein, einen "kleinen Abstecher" in einen anderen Verhandlungssaal zu unternehmen, vor allem, wenn ein zweiter Verteidiger auch beigeordnet ist. Es wird auf den bereits oben angesprochenen "ganzheitlichen Ansatz" verwiesen, der auch hier zum Tragen kommt. In anderen Fällen kann um eine kurze Pause gebeten werden, ein freundlicher Vorsitzender kommt einem freundlichen Anwalt gerne einmal entgegen (s.o.). Ein unfreundlicher Anwalt wird stattdessen höflich und mit vollem Recht auf die Regelung des § 145 Abs.4 StPO verwiesen.

Im Laufe der Hauptverhandlung handelt der professionelle Pflichtverteidiger dann regelmäßig nach der jahrhundertealten Weisheit: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.

V. Übernahme eines Pflichtmandats

Ein aus Sicht des Verfassers äußerst wichtiger Punkt ist die Frage der Abwerbung von Mandanten in der Justizvollzugsanstalt. Es wird immer wieder beobachtet, dass es sog. Kollegen gibt, die die gelegentliche Einsamkeit der Inhaftierten schamlos ausnutzen, um an Mandate zu kommen (Stichwort: "Gitterschleicherei"). Hier wird regelmäßig der Eigennutz vor die Interessen des Mandanten gestellt, auch wenn der angebliche Mandantenwillen in den entsprechenden Entpflichtungsanträgen stets vorgeschoben wird. Zu diesem zutiefst berufsrechtswidrigen Verhalten ist in der Arbeitsgruppe nicht viel gesagt worden, woraus man durchaus den Schluss ziehen sollte, dass sich viele der Anwesenden eines solchen Vergehens in der Vergangenheit schuldig gemacht haben. Der fremde Mandant sollte ebenso wenig angerührt werden wie die fremde Frau.

Es ist für innere Hygiene in der Strafjustiz so wichtig, dass die Entscheidungen des unabhängigen Richters respektiert werden, wenn dieser unter allen möglichen Kandidaten des Gerichtsbezirks (und sogar darüber hinaus) einen bestimmten Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger bestellt. Der Richter wird sicherlich seine Gründe dafür gehabt haben, wobei vor allem der Grundsatz der Fürsorgepflicht hinsichtlich des Beigeordneten nicht außer Acht zu lassen sein dürfte. Das ständige Misstrauen gegenüber richterlichen Entscheidungen ist möglicherweise gerade einer der wichtigen Punkte, warum selbst manche Fachanwälte für Strafrecht bei Beiordnungen "in die Röhre schauen" und ihnen sogar Fachanwälte für Versicherungsrecht oder Verkehrsrecht vorgezogen werden – was bei diesen Fachrichtungen jedoch sehr skeptisch zu betrachten ist. Ansonsten ist zu konstatieren, dass unter den ständigen Pflichtverteidigern kein Kampf um Mandate entbrennt, was erneut zeigt, dass Sozialkompetenz und gegenseitige Rücksichtnahme hervorstechende Charakterzüge dieser Rechtsanwälte sind.

VI. Tatgerichtliche Fremdkontrolle?

Das Ergebnis der Arbeitsgruppe, wonach "im kontradiktorischen Verfahren tatgerichtliche Fremdkontrolle von Mindeststandards der Strafverteidigung nur in eklatanten Situationen offensichtlicher Nichtverteidigung Platz greifen" kann, übersteigt – das gebe ich freimütig zu – meinen Horizont. Was ist denn mit tatgerichtlicher Fremdkontrolle gemeint? Dass "die Gewährleistung von Mindeststandards Aufgabe der Selbstkontrolle der Anwaltschaft sein" soll, ist ebenfalls nicht nachzuvollziehen. Die Einhaltung der Mindeststandards ist doch offensichtlich in erster Linie Aufgabe der beiordnenden Richter. Sie kennen schließlich das Niveau der Rechtsanwälte, die sie beiordnen, so dass sie durch ihre Auswahl bereits ein Zeichen gegen die Mindeststandards gesetzt haben.

VII. Fazit

Abschließend ist folgendes festzuhalten:

Ich verwahre mich dagegen, dass hier Kollegen von Dingen sprechen, von denen sie keine Ahnung haben, weil sie gar nicht wissen, was in diesen Bereichen an der anwaltlichen Front los ist. Sobald sie nämlich nicht selbst anwesend sind, muss ihnen unbekannt bleiben, was passiert, und wenn ihnen etwas unbekannt ist, dann sollten sie sich auch nicht dazu äußern. Dasselbe gilt für professorale Besserwisser und Bundesrichter. Es sollten in Zukunft diejenigen dazu sprechen, die tagtäglich in diesem Bereich ihre Pflicht tun, nämlich Richter der ersten Instanzen und verantwortungsvolle und deshalb regelmäßig bedachte Rechtsanwälte.

Ich fordere die im Bereich des Beiordnungsrechts zuständigen Richter auf, auch in Zukunft nicht von dem eingeschlagenen Weg abzuweichen, sondern weiterhin die Symbiose von Angeklagteninteressen, Rechtsstaatsinteressen und persönlichen Vorlieben mit der Bestellung der am besten geeigneten Advokaten fortzuführen. Die daran seit vielen Jahrzehnten bestehende Kritik kann auf den gemeinsamen Nenner "Neid" zurückgeführt werden. In keinem Fall sollte eine Beschränkung auf Fachanwälte für Strafrecht eingeführt werden, weil gerade diese Kollegen in ihrer Einseitigkeit nicht selten die über das Strafrecht

hinausgehenden, gerade familienrechtlichen Aspekten übersehen. Weiterhin sollte das überragende Rechtsinstitut der Waffengleichheit dazu führen, dass in den Fällen, in denen Amtsanwälte oder Referendare die Anklagebehörde in der Hauptverhandlung vertreten, eine Aktenkenntnis des Verteidigers im Vorfeld durch geeignete Maßnahmen verhindert wird (z.B. Ablehnung der Akteneinsicht oder erstmalige Beiordnung unmittelbar vor der Hauptverhandlung). Hier ist der Gesetzgeber gefordert.

Ich halte es für angebracht, in Zukunft als Gegenveranstaltung zum "Strafverteidigertag" einen "Pflichtverteidigertag" ins Leben zu rufen, damit sich diese Kollegen einmal gemeinsam über die Schwierigkeiten ihres Berufslebens austauschen können. Als Themen für die Arbeitsgruppen stelle ich zur Diskussion: "Mobbing durch Chaosverteidiger – wie reagiere ich?" (AG 1), "Der Vorteil von Anregungen gegenüber Anträgen" (AG 2), "Die segnende Wirkung vom informellen Austausch mit dem Vorsitzenden" (AG 3), "Die fehlende Angemessenheit der Pflichtverteidigergebühren im Vergleich zu horrenden Wahlverteidigerhonoraren" (AG 4) sowie "Strafbarkeitslücken bei Gitterschleicherei" (AG 5) . Die Seminargebühren sollten von der Staatskasse übernommen werden, Fortbildungsbescheinigungen nach FAO werden nicht benötigt. Statt der Frankfurter Universität würde eher die Düsseldorfer Altstadt als Veranstaltungsort als geeignet erscheinen. Im Laufe des nächsten Jahrzehnts könnte diese Veranstaltung dann mit dem inzwischen in Konzeption und Ausführung völlig veralteten "Strafverteidigertag" fusionieren, bevor dann kurze Zeit später die feindliche Übernahme erfolgreich abgeschlossen werden könnte.

Abschließend ist es mir ein Anliegen, nach all der berechtigten, im Namen von unzähligen Pflichtverteidigern geäußerten Kritik den Schulterschluss mit fast allen im Strafrecht tätigen Kollegen zu üben und darüber aufzuklären, wo der eigentliche Feind sitzt. In der Abschlussdiskussion des Strafverteidigertages wurde explizit ausgeführt, es gebe tatsächlich Kollegen, die Honorare in fünfstelligen Bereichen verlangen, weil sie "unter der Dusche" über die Erfolgsaussichten eines ihnen angetragenen Verfahrens sinnieren würden. Hier sehe ich wirklich eine ethische Grenze weit überschritten, an diesem Punkt muss die gesamte Anwaltschaft gemeinsam an einem Strang ziehen, weil es nicht sein kann, dass von einer kleinen Minderheit Unsummen verdient werden, die dem sonstigen Verteidigermarkt und damit der großen Mehrheit nicht mehr zur Verfügung stehen. Es wird Zeit, dass sich an dieser Front endlich etwas tut. Nieder mit den Duschanwälten!