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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juli 2014
15. Jahrgang
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Von Prof. Dr. Endrik Wilhelm, Dresden[*]
"Das Kernstück des Strafprozesses ist die Hauptverhandlung. In ihr wird nach dem mehr summarischen Vor- und Zwischenverfahren der Sachverhalt endgültig aufgeklärt und festgestellt, und zwar in einer Weise, die nach allgemeiner Prozesserfahrung größte Gewähr für die Erforschung der Wahrheit und zugleich für die bestmögliche Verteidigung des Angeklagten und damit für ein gerechtes Urteil bietet" .[1]
Diese scheinbar in Stein gemeißelten Worte des Bundesverfassungsgerichts stehen als Leitsatz über dem Motto des 38. Strafverteidigertages. Er beschäftigt sich mit dem Bedeutungsverlust eben des Instruments, das den wesentlichsten Beitrag leisten soll bei der Erforschung der Wahrheit in einem Strafverfahren, der Hauptverhandlung.
Es wird nicht erst seit gestern darüber geklagt, dass die Hauptverhandlung schon lange nicht mehr im Mittelpunkt des Strafverfahrens steht. Sie verliert zusehends ihren Zweck. Es droht ihre Degeneration zur Plausibilitätsprüfung der Erkenntnisse aus dem Ermittlungsverfahren, womit sich morgen die Arbeitsgruppe 1 des diesjährigen Strafverteidigertages befassen wird. Dazu erinnere ich außerdem an das Motto des 35. Strafverteidigertages 2011 in Berlin, der sich mit dem Thema "Abschied von der Wahrheitssuche" befasste. In seinem beeindruckenden Vortrag wies mein geschätzter Kollege Klaus Malek nach, dass die Wahrheitssuche in der Hauptverhandlung durch den Gesetzgeber und die Rechtsprechung zunehmend in den Hintergrund gedrängt wird.[2]
Ich gehe noch einen Schritt weiter. Ich behaupte, dass die Wahrheitsfindung in einem Strafverfahren von ganz und gar untergeordneter Bedeutung ist. Das war schon immer so. Es ist nicht die Wahrheit, die über das Schicksal des Angeklagten entscheidet. Es ist die Überzeugung derer, die über ihn zu urteilen haben. Ganz gleich, wie sich ein Sachverhalt zugetragen hat, Grundlage eines Urteils ist
stets die subjektive Überzeugung der urteilenden Richter, die diese – auf welche Weise auch immer – gewinnen.[3] Ob diese Überzeugung der objektiven Wahrheit entspricht, ist für den Ausgang des Verfahrens völlig irrelevant. Man muss deshalb kein Positivist sein, sondern einfach nur Realist, um dem großen Positivisten Hans Kelsen zuzustimmen, der 1960 in seinem Werk "Reine Rechtslehre" feststellte:[4]
"Denn der Rechtssatz lautet nicht: Wenn ein bestimmter Mensch einen Mord begangen hat, soll eine bestimmte Strafe verhängt werden, sondern: Wenn das zuständige Gericht … festgestellt hat, dass ein bestimmter Mensch einen Mord begangen hat, soll das Gericht über diesen Menschen eine Strafe verhängen."
Angesichts dieser Ausgangslage verwundert es mich seit vielen Jahren, dass in unserer Wissenschaft immer nur platonisch von Wahrheitsfindung die Rede ist. Mindestens ebenso bedeutsam dürfte sein, von welchen Faktoren menschliche Überzeugungsbildung abhängt und welche Fehler dabei auftreten können. Eine Betrachtung dieses hochkomplizierten Prozesses lohnt sich nicht nur interessehalber. Sie weckt Zweifel an Grundfesten unserer Rechtsprechung.
In der Theorie ist Überzeugungsbildung ein unvoreingenommener Abwägungsprozess. Grundlage in einem Strafprozess ist – so will es das Bundesverfassungsgericht[5] – die Hauptverhandlung, in deren Verlauf die mit der Sache befassten Richter die für die Entscheidung des Falles wesentlichen Daten sammeln. Neben der Sammlung der Daten setzt der ideale Abwägungsprozess unvoreingenommene und nicht von sachfremden Erwägungen beeinflusste Richter voraus. Soweit die Theorie.[6]
Eine vollständige Erfassung der relevanten Datenmenge zur exakten Feststellung eines in der Vergangenheit liegenden Sachverhalts ist indes bereits naturgesetzlich ausgeschlossen. Die Datenmenge ist viel zu groß und niemals vollständig erfassbar. Ein historisches Ereignis lässt sich nicht vollständig rekonstruieren. Um zu veranschaulichen, wie groß das allein daraus resultierende Fehlerpotenzial ist, möchte ich eine Erkenntnis der Naturwissenschaft nutzbar machen.
Ein Meteorologe namens Edward Lorenz unternahm 1963 den Versuch, Klimabedingungen zu simulieren. Ihm stand ein für damalige Verhältnisse gigantischer Computer zur Verfügung, den er mit Daten fütterte. Der Computer war in der Lage, sechs Dezimalstellen hinter dem Komma zu verarbeiten. Das Ziel bestand darin, die Entwicklung des Wetters zuverlässig zu prognostizieren.
Um Zeit zu sparen (oder aus Nachlässigkeit, wer weiß das schon?), gab Lorenz bei der Wiederholung einer Simulation nur drei Dezimalstellen statt der möglichen sechs ein (0,506 statt 0,506127). Das Resultat waren erhebliche Abweichungen zwischen den Berechnungen. Obwohl die Eingabewerte nur um weniger als 1/1000 auseinander lagen, zeigten die Wetterkurven ab einem bestimmten Punkt keinerlei Gemeinsamkeiten mehr.[7] Die nachstehende Abbildung verdeutlicht das.
Abbildung 1: Chaos-Theorie – Minimale Veränderungen mit großen Wirkungen.
Bilder (1 / 2): © Iakov Kalinin – fotolia.com / © Elena Schweitzer – fotolia.com
Lorenz hielt dazu einen vielbeachteten Vortrag mit dem Titel: "Predictability: Does the Flap of a Butterfly’s Wings in Brazil set off a Tornado in Texas?" Auf Deutsch: "Vorhersehbarkeit: Verursacht der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas?"[8] Seither gilt Lorenz als der Vater der Chaostheorie.[9] Die beschäftigt sich damit, dass
kleinste Veränderungen in komplexen Systemen unvorhersehbare und sehr große Auswirkungen haben können.
Nun mögen Sie sich fragen, was diese Erkenntnis mit einem Strafprozess zu tun hat. Die Antwort gebe ich gerne. Sie lautet: Sehr viel. Denn Überzeugungsbildung ist wie die Entwicklung des Wetters ein komplexer Prozess, an dessen Ende ein Ergebnis steht. Auch hier gilt: Es kann an Winzigkeiten liegen, welche Überzeugung sich die mit der Sache befassten Richter bilden. Der Weg dorthin ist sogar noch komplexer als die Aufgabe der Meteorologen. Denn die – um bei dem Beispiel zu bleiben – aktuellen Wetterdaten liegen immerhin vollständig vor und es ist "nur" eine Frage ihrer präzisen Erfassung und Verarbeitung. Die auf dem Weg zur Überzeugungsbildung über einen in der Vergangenheit liegenden Vorgang zu berücksichtigenden Daten sind hingegen nicht mehr vollständig verfügbar. Sie müssen mühevoll rekonstruiert werden. Stellen Sie sich dazu vor, Sie hätten die Aufgabe, die Form einer Pfütze vorherzusagen, zu der ein schmelzender Eiswürfel wird. Das ist bereits unmöglich. Aber dann stellen Sie sich vor, Sie hätten die Aufgabe, aus einer Pfütze einen Eiswürfel zu rekonstruieren, ohne auch nur sicher sein zu können, dass die Pfütze vorher ein Eiswürfel war.[10]
Die naturgesetzliche Unmöglichkeit eines zu 100 % zutreffenden Urteils über einen in der Vergangenheit liegenden Vorgang ist die Ausgangssituation in jedem Strafverfahren.[11] Selbst kleinste Veränderungen bei der Rekonstruktion des Geschehens können zu erheblichen Abweichungen beim Gesamtergebnis führen.[12] Das kann Schicksale entscheiden. Die Rechtsgeschichte liefert dafür ungezählte Beispiele. Zur Veranschaulichung verweise ich auf das Schicksal des Selfmade-Meteorologen und deshalb besonders mit der Chaos-Theorie vertrauten Jörg Kachelmann. Das Urteil ist zwar nicht öffentlich zugänglich, die auf der Homepage des Landgerichts Mannheim veröffentlichten Auszüge aus der mündlichen Urteilsbegründung machen aber deutlich, dass die Frage von Schuld oder Unschuld für die Kammer von Kleinigkeiten abhing. Das Landgericht Mannheim ließ ausdrücklich offen, ob es nicht womöglich doch anders war.[13] Viel kann es deshalb nicht gewesen sein, was die Kammer von einer Verurteilung abhielt, es sei denn der von der Verteidigung zu hörende Vorwurf sollte stimmen, es sei ihr jenseits aller Fakten nur noch um eine "maximale Beschädigung" des zwingend freizusprechenden Jörg Kachelmann gegangen.[14] Für die Parallele zur Chaos-Theorie wäre das allerdings einerlei. Denn dann wäre es der aufgrund welcher Kleinigkeit auch immer fehlende Wille der Kammer zur Rehabilitation des Angeklagten gewesen, der den Ruf des Jörg Kachelmann auf immer beschädigt hat.
Die Erkenntnisse der Chaos-Theorie bedeuten bezogen auf das Ergebnis eines Überzeugungsbildungsprozesses im Strafprozess nichts Geringeres als die Aussage, dass die Gefahr des Irrtums auch dann noch sehr groß ist, wenn wir zu 100 % überzeugt sind. Denn es kann immer sein, dass irgendeine Kleinigkeit nicht sichtbar war und deshalb nicht in den Überzeugungsbildungsprozess einbezogen wurde. Sie kann winzig klein sein und dennoch zu einer ganz anderen Überzeugung führen.
Es gibt einen zweiten Faktor, den es in die Betrachtung einzubeziehen gilt. Das ist der Faktor Mensch. Er versucht nicht nur, Überzeugungsbildungsprozesse zu seinem Nutzen zu beeinflussen. Wir erleben das täglich im Gerichtssaal. Er hat überdies die bemerkenswerte Eigenschaft, bei identischer Faktenlage unterschiedliche Überzeugungen bilden zu können und – nach einer Veränderung der eigenen Anschauung – nicht einmal mehr zu verstehen, dass er früher einmal eine andere Überzeugung hatte.[15] Damit meine ich nicht nur die großen historischen Irrtümer,[16] den Wechsel von Weltanschauungen, den Glauben an Hexen und Kobolde oder den Glauben an die gesundheitsfördernde Wirkung von Nikotin. Ich meine damit auch juristische Überzeugungen. Dazu zwei Beispiele:
Diese widersprüchlich anmutende Ausgangslage lohnt zweifelsohne eine intensivere Betrachtung der Mechanismen, die in uns wirken und unsere Überzeugungen bestimmen.[24] Daniel Kahneman, ein Psychologe, hat den aktuellen Stand der Forschung zur menschlichen Überzeugungsbildung in seinem Buch "Langsames Denken, schnelles Denken" zusammengefasst.[25] Kahneman gilt als einer der bedeutendsten Psychologen unserer Zeit. Er hat für seine Erkenntnisse den Nobelpreis bekommen. Dankenswerterweise hat er seine Forschungsergebnisse so aufgeschrieben, dass auch einfachere Geister wie Juristen sie verstehen. Dafür hätte er zweifelsohne einen weiteren Nobelpreis verdient.
Ich werde im Folgenden versuchen, einige Grundzüge der Forschungsmethode und exemplarische Aussagen wiederzugeben. Eine ausführliche Befassung würde leider den Rahmen des Vortrags sprengen. Doch auch so werde ich Sie hoffentlich davon überzeugen, dass wir uns vor unseren Überzeugungen hüten müssen. Ihre Bildung läuft nach unzuverlässigen Mustern ab. Die diesbezügliche Botschaft der Psychologie ist keine andere als die der Chaos-Theorie. Sie lautet:
Unsere Überzeugungen sind verführerische Illusionen. Wir können uns niemals sicher sein, nur weil wir überzeugt sind.[26]
Überzeugungsbildung findet statt im menschlichen Gehirn. Mit ihm besitzt der Mensch ein Organ, das ihn an die Spitze der Evolution katapultiert hat. Es ist ein zwar langsamer, aber durchaus leistungsfähiger Computer. Wer verstehen will, wie dieser Computer funktioniert, muss ein paar Grundlagen seiner Funktionsweise nachvollziehen. Insbesondere muss man verstehen, dass er – vereinfacht ausgedrückt – auf zwei Ebenen arbeitet. Die Psychologie nennt sie System 1 und System 2.[27]
Die erste Ebene ist das sogenannte System 1. Auf dieser Ebene trifft der Mensch unbewusst und ungewollt erste Entscheidungen, und zwar unmittelbar nachdem er mit einer Situation konfrontiert wird. System 1 arbeitet dabei wie ein Autopilot, der uns durch unser Leben lenkt. Es nimmt die Informationen der Außenwelt auf und vergleicht sie mit gespeicherten Modellen aus Erfahrungswerten oder Instinkten auf Übereinstimmung. Kann es eine Übereinstimmung feststellen, trifft es sofort die dazu gespeicherte Standardentscheidung, ohne dass uns diese Entscheidung überhaupt bewusst wird. Dazu ein paar Beispiele: Wir wenden uns automatisch der Quelle eines plötzlichen Geräuschs zu, wir treffen diese Entscheidung nicht bewusst. Wir ziehen ein angewidertes Gesicht, wenn uns ein grauenvolles Bild gezeigt wird. Darüber denken wir nicht nach. Auch die Feindseligkeit aus einer Stimme hören wir aufgrund der gespeicherten Modelle heraus, ohne sie auf ihre Nuancen hin analysieren zu müssen. System 1 arbeitet sogar in dem Bereich, der mathematisches Verständnis voraussetzt, wenn die Erfahrung nur modelliert ist. So müssen wir nicht nachdenken, um den Satz "2+2=…" zu vervollständigen. System 1 macht das selbstständig. Der Autopilot System 1 handelt insoweit völlig autark, wir können uns gegen seine ersten Entscheidungen nicht einmal wehren. Es lässt sich auch nicht abschalten. Die allermeisten Ent-
scheidungen in unserem Leben treffen wir auf diese Weise.[28]
Auf der zweiten Ebene arbeitet System 2. Es kommt zum Einsatz, wenn System 1 keine oder nur eine unzureichende Standardentscheidung bereithält. Folglich ist es zuständig für die anstrengenden mentalen Aktivitäten. Sie beanspruchen unsere Konzentration. Auch dazu ein paar Beispiele: Eindeutig in den Zuständigkeitsbereich von System 2 fallen komplexe Berechnungen oder die Konzentration auf einen Startschuss beim Wettlauf. System 2 durchsucht unser Gedächtnis, um ein ungewohntes Geräusch zu identifizieren und wir brauchen es, um eine Steuererklärung anzufertigen. System 2 beurteilt auch die Angemessenheit unseres Verhaltens in einer sozialen Situation und so weiter. In all diesen Situationen ist Konzentration erforderlich.
Die Arbeitsteilung zwischen System 1 und System 2 ist grundsätzlich höchst effizient: Sie minimiert den Aufwand und optimiert den Ertrag. Normalerweise funktioniert das gut, weil System 1 zuverlässig arbeitet. Das ist eine der Ursachen dafür, dass die Menschen die Welt beherrschen. Zumindest sind viele davon überzeugt.
Allerdings hängt die Qualität der Arbeit unseres Gehirns auch davon ab, in welchem Zustand unser Körper ist. Dazu ist zu verweisen auf ein den meisten Anwesenden im Auditorium vermutlich bekanntes Experiment. Durchgeführt wurden Versuche mit Richtern, die sich mehrere Tage mit Anträgen auf Strafaussetzung zur Bewährung befassten. Bemerkenswert ist, dass bei allen Richtern eine Kurve erkennbar war, die Auskunft darüber gab, zu welchen Zeiten die meisten Anträge bewilligt wurden. Sie hing unmittelbar mit der Nahrungsaufnahme zusammen. So erreichten die Strafaussetzungen zur Bewährung kurz nach Einnahme einer Mahlzeit einen Anteil von 65 %, während die Rate in den Stunden danach wesentlich niedriger lag. So sank sie bis auf etwa Null vor dem nächsten Mahl. Danach stieg sie wieder katapultartig an.[29] Abbildung 2 zeigt den Verlauf der Kurve. Seit ich das weiß, versuche ich, meine Hauptverhandlungstermine möglichst so zu legen, dass Entscheidungen kurz nach der Mittagspause anstehen. Ich komme auch nicht mehr auf die Idee, kurz vor der Mittagspause über die Aufhebung von Haftbefehlen zu diskutieren.
Abbildung 2: Erfolgswahrscheinlichkeit eines Aussetzungsantrages
System 2 muss aber nicht nur regelmäßig gefüttert werden. Ein mindestens ebenso großes Problem ergibt sich daraus, dass es nur dann arbeitet, wenn es motiviert ist oder gezwungen wird. Anders als System 1 lässt es sich abschalten bzw. muss eingeschaltet werden. Das begrenzt die Rationalität unserer Entscheidungen, wenn sich eine Standardentscheidung in System 1 erst einmal verfestigt hat und eine Motivation fehlt, sie in Frage zu stellen. Dann ist es unglaublich schwierig, System 2 nachhaltig zu aktivieren.[30] Es bedarf dann schon besonderer Umstände, um der besseren Erkenntnis zum Erfolg zu verhelfen. Homosexuelle wissen davon ein Lied zu singen. Und das gilt noch heute im Justizalltag. Ich meine damit nicht die vereinzelt vorkommenden Amtsrichter, die wir alle kennen und von denen man meinen könnte, sie hätten überhaupt kein System 2. Nein, ich meine die unterbleibende Einschaltung von System 2 in Gesetzgebung und höchstrichterlicher Rechtsprechung, was noch heute zu schier unerträglichen Ergebnissen führt. Dazu drei Beispiele:
Die meisten von Ihnen werden sich schon oft gewundert haben, wie kompliziert die Regeln zur Bildung nachträglicher Gesamtstrafen sind (§ 55 StGB). Da gibt es unverhofft auftauchende Zäsuren, Härteausgleich, den plötzlichen Wegfall einer Zäsur und so weiter. Bisweilen kommt man sich vor wie in einem sich ständig verändernden Zauberwald, den nur noch der durchschaut, der ihn gestaltet. Wenn Sie bisher Angst hatten, womöglich nicht die Befähigung zu haben, das Regelwerk zu verstehen, habe ich eine gute Nachricht für Sie: Es liegt nicht an Ihnen. Es liegt am Regelwerk. Es ist nicht zu verstehen, weil es in sich nicht stimmig ist.[31] Es ist total irrational. Es kümmert sich nur keiner darum, weil sich zu wenige dafür interessieren.
Dazu folgender Fall: Hier in Dresden stand 1997 ein vorbestrafter Mann vor Gericht. Er war wegen eines Diebstahls zu einer sechsmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt worden. Die Strafe war noch nicht erledigt, als er wegen dreier Totschläge angeklagt wurde. Zwei davon hatte er vor der Bestrafung wegen Diebstahls begangen, einen danach. Die Verurteilung wegen Diebstahls begründete eine Zäsur. Er bekam für die ersten beiden Taten unter Einschluss der Verurteilung wegen Diebstahls 14 Jahre und für den dritten Totschlag 12 Jahre
und drei Monate, insgesamt also 26 Jahre und 3 Monate.[32] Die nachstehende Abbildung 3 skizziert den Vorgang der Strafenbildungen. Der Täter beging kurze Zeit nach dem Urteil Selbstmord.
Abbildung 3: Nachträgliche Gesamtstrafenbildung unter Berücksichtigung der die Zäsur bildenden Strafe
Ursache für diese drakonische Strafe war die zwischenzeitliche Verurteilung wegen des Diebstahls. Die Frage, warum diese Verurteilung so eine Wirkung haben konnte, erklärt Ihnen Ihr System 1 vermutlich mit der Warn- und Appellfunktion dieser Verurteilung. Es sagt Ihnen, dass der Täter die Vorteile einer Gesamtstrafe nicht verdient habe, weil er trotz der Verurteilung weitere Straftaten begangen hätte.[33] Wenn Sie sich das so erklären, befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Der BGH hat das auch einmal so entschieden.[34] Das Bundesverfassungsgericht sieht es bis heute so.[35] Irgendwie leuchtet das ja auch ein.
Es gibt allerdings ein Problem, das die These von der Warn- und Appellfunktion ad absurdum führt. Es ist nämlich nach dem unüberbrückbaren Gesetzeswortlaut so, dass eine zwischenzeitliche Verurteilung nur so lange in eine Gesamtstrafe einfließen kann, wie sie nicht vollstreckt ist. Und wenn sie nicht mehr einbezogen werden kann, entfaltet sie auch keine Zäsurwirkung mehr. Stattdessen ist eine Gesamtstrafe von maximal 15 Jahren für alle noch nicht abgeurteilten Taten zu bilden – § 53 Abs. 1 StGB.[36] Die nachstehende Abbildung illustriert das.
Abbildung 4: Nachträgliche Gesamtstrafenbildung nach Wegfall der Zäsur
Das bedeutet, dass einer Verurteilung eine Warn- und Appellfunktion nur bis zum Abschluss ihrer Vollstreckung beizumessen wäre. Diese Überlegung hat jedoch allenfalls noch Unterhaltungswert. Eine Strafe kann ihren Schrecken unmöglich durch ihre Vollstreckung verlieren. So modern ist unser Strafvollzug nun auch wieder nicht.
Die Konsequenz zwischenzeitlicher Strafvollstreckung erledigt nicht nur die These von der Warn- und Appellfunktion, von der sich der BGH übrigens – ersatzlos – wieder verabschiedet hat.[37] Sie führt außerdem zu dem höchst ungerechten Ergebnis, dass die Höhe der Strafe in dem Beispielsfall davon abhing, ob die zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe während der Untersuchungshaft vollständig vollstreckt worden war. Wäre das geschehen, wäre der Täter zu höchstens 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die unterbliebene Vollstreckung führte zu beinah 27 Jahren. Im Extremfall hätte eine Urteilsverkündung einen Tag vor oder nach Ablauf der Vollstreckung einen Unterschied von 12 Jahren Freiheitsstrafe ausgemacht.
Sie werden mir zustimmen, dass diese Konsequenzen eigentlich jeden vernünftigen Menschen schlussfolgern lassen müsste, dass da etwas ganz Grundsätzliches nicht stimmt und geändert werden muss.[38] Der BGH hat in einer Sache entsprechende Zweifel auch durchaus geäußert, es dabei aber belassen.[39] Nach allem geschieht nichts, um diesen durch und durch unerträglichen Zustand zu ändern. Er ließe sich durch eine Vielzahl weiterer Beispielsfälle leicht illustrieren.[40] Wenn einer ihrer Mandanten eine derart himmelschreiende Ungerechtigkeit zu erwarten hat, sollten sie erwägen, das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Es wartet vielleicht auf eine Gelegenheit zur Korrektur.
Ein weiteres Beispiel: Es fällt mir schon seit längerem zunehmend schwer nachzuvollziehen, dass Richter Importeure von Cannabis zu Freiheitsstrafen von 8, 9 oder 10 Jahren und mehr verurteilen, um sich danach vor dem Gerichtsgebäude eine Zigarette anzuzünden und abends eine Flasche Rotwein zu trinken. Wenn ich bedenke, was ein Angeklagter sonst angestellt haben muss, um derart drakonisch bestraft zu werden, kann ich oftmals nur mit dem Kopf schütteln. Vergewaltigung, Raub und sogar Totschlag oder versuchter Mord werden bei uns milder bestraft als der Import von Cannabis, wenn nur die Menge groß genug ist, der Täter womöglich noch ein Taschenmesser bei sich führte oder mit zwei weiteren Mittätern unterwegs war. Rational ist das nicht erklärbar.
Im Gegenteil, bei näherem Hinsehen ergeben sich erhebliche Zweifel, ob das Verbot von Cannabis überhaupt noch rational begründet ist. Dazu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1994 feststellte, dass wir – völlig unabhängig vom
Rauschmittel – kein sich aus der Verfassung ergebendes "Recht auf Rausch" haben.[41] Es wäre dem Gesetzgeber danach erlaubt, sämtliche Rauschmittel, also auch Alkohol und Nikotin, zu verbieten. Unsere Bundestagsabgeordneten machen von dieser Machtfülle nur keinen Gebrauch. Das geschieht in vielen Fällen vermutlich zunächst einmal wegen der eigenen Betroffenheit. Überdies wären sie nach der nächsten Wahl bestimmt alle arbeitslos, der Staat bekäme mit Blick auf die ausfallenden Steuereinnahmen von ca. 20 Mrd. € jährlich erhebliche Finanzierungsprobleme[42] und die Beschäftigten der Alkohol- und Tabakindustrie wären ebenfalls arbeitslos. Also erlauben uns unsere Bundestagsabgeordneten den Konsum von Alkohol und Tabak. Das wird der eine oder andere von Ihnen heute Abend bestimmt noch mit einem Trinkspruch zu würdigen wissen.
Nun hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem Nichtraucherschutz im Jahr 2008 entschieden, dass Verbote zum Schutze der Volksgesundheit nur im Rahmen eines durchdachten und folgerichtigen Konzepts ausgesprochen werden dürften. Ausgehend davon sei – wie es im zu entscheidenden Fall geschehen war – nicht nachvollziehbar, einerseits Raucherräume in Gaststätten zu erlauben und andererseits das Rauchen in Discotheken generell zu verbieten. Mit dieser Begründung hob das Bundesverfassungsgericht das generelle Rauchverbot in Discotheken auf.[43]
Das ist durchaus schlüssig. Übertragen auf das Verbot von Cannabis müsste der Gesetzgeber sich danach indes fragen, ob es einem durchdachten Konzept folgt, Alkohol und Tabak zu erlauben und Cannabis zu verbieten. Er müsste in den Blick nehmen, dass an den Folgen des Konsums von Tabak weltweit jährlich sechs Millionen[44] (120.000 allein in Deutschland[45]) und an den von Alkohol jährlich 2,25 Millionen Menschen[46] (74.000 allein in Deutschland[47]) sterben.[48] Alkohol ist außerdem die Ursache für unzählige Gewalttaten und Verkehrsunfälle. Demgegenüber gibt es keine Erkenntnisse dazu, dass Cannabis annähernd vergleichbare Auswirkungen hat. Auch die These von Cannabis als Einstiegsdroge auf dem Weg zum Heroin ist überholt, wenn man den Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Glauben schenken darf.[49] In den USA wird das Cannabis-Verbot nicht zuletzt deshalb mehr und mehr zum historischen Relikt.[50] Das macht es schlicht unverständlich, die gefährlicheren Drogen Alkohol und Nikotin zu erlauben, während Cannabis verboten bleibt. Unser Gesetzgeber und das Bundesverfassungsgericht befassen sich mit derartigen Überlegungen nur nicht. Sie werden wissen warum. Vielleicht kann Sie die Arbeitsgruppe 5 des morgigen Tages dazu bewegen, System 2 ein wenig mehr zu bemühen und darüber einmal nachzudenken.
Auf ein vollkommen lustloses und nicht zu motivierendes System 2 treffen die in System 1 modellierten Entscheidungen, wenn Tabus ins Spiel kommen. Um sich durchzusetzen, erzeugt System 1 sogar nur anstrengend zu bekämpfende Ekelgefühle.[51] Das trug die Strafbarkeit der Homosexualität durch die Jahrhunderte und wirkt noch heute bei § 173 StGB. Diese Norm verbietet es zwei erwachsenen Menschen, miteinander geschlechtlich zu verkehren, wenn sie denselben Vater oder dieselbe Mutter haben.[52] Das Gesetz stellt dazu veraltet ausschließlich auf den Beischlaf, den vaginalen Geschlechtsverkehr, ab.[53] In der JVA Leipzig verbüßte bis zum 3. Juni 2009 ein junger Mann insgesamt dreieinhalb Jahre Haft, weil er 18-fachen – jederzeit einvernehmlichen und auf einer Liebesbeziehung beruhenden – Geschlechtsverkehr mit einer Blutsverwandten hatte.[54]
Ihr System 1 hat dafür – neben dem Ekel, den Sie bei der Vorstellung empfinden – vermutlich die Erklärung parat, dass eine solche Beziehung verboten werden muss, weil sie behinderte Kinder hervorbringen kann. Wenn das so ist, befinden Sie sich erneut in guter Gesellschaft. Sieben von acht Richtern des Bundesverfassungsgerichts hatten im Jahr 2008 dieselbe Assoziation und begründeten unter anderem damit ihre Entscheidung, § 173 StGB nicht für verfassungswidrig zu erklären.[55] Die Assoziation sitzt so tief, dass dabei übersehen wurde, dass es außerhalb von § 173 StGB längst dem gesellschaftlichen Konsens entspricht, dass "Eugenik" oder der "Schutz vor der Entstehung behinderten Lebens" keine Grundlage für irgendeine Gesetzgebung sein darf. Schon die Idee, ähnlichen Risikogruppen wie behinderten Menschen oder Menschen mit Erbkrankheiten die Fortpflanzung zu verbieten, liegt außerhalb jeder Vorstellung. Sie ist nicht zuletzt mit Blick auf die diesbezüglichen Aktivitäten der Nazis im Gegenteil selbst ein Tabu.[56] Art. 3 Abs. 2 der Grundrechte-Charta der EU-Verfassung enthält ein absolutes Verbot gesetzgeberischer Aktivitäten zur Durchsetzung eugenischen Gedankenguts. Die rechtswissenschaftliche Literatur nennt die eugenische Argumentation des Bundesverfassungsgerichts deshalb völlig zu Recht "unvertretbar"[57].
Nicht nur das müssen sich die sieben die Entscheidung tragenden Richter vorhalten lassen. Der achte war der kürzlich leider verstorbene Winfried Hassemer, ein großer Wissenschaftler, Lehrer und Richter. Er war der einzige Strafrechtler im Senat und widersetzte sich der Mehrheit. Ich möchte das nicht unerwähnt lassen.[58] Leider konnte auch er einen noch gravierenderen und kaum zu glaubenden Fehler beim Zusammenspiel von System 1 und System 2 seiner Kollegen nicht verhindern.
So hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung auch die Frage erörtert, ob das strafbewehrte Verbot des Beischlafs ein sich liebendes Halbgeschwisterpaar nicht in eine ausweglose und damit die Menschenwürde verletzende Lage bringen würde. Dieser Konflikt zwischen dem Verbot einerseits und dem Drängen der sich Liebenden andererseits erscheint in der Tat unlösbar. Denn wer sich liebt und nicht miteinander geschlechtlich verkehren darf, befindet sich durchaus in einer ausweglosen Lage.
Sieben der acht Mitglieder des 2. Senats hatten jedoch eine Lösung parat. Sie argumentierten, verboten sei doch nur den Beischlaf, also der vaginale Geschlechtsverkehr, während jede andere Sexualpraktik erlaubt sei. Mit anderen Worten, das Bundesverfassungsgericht erlaubt es dem Gesetzgeber, den vaginalen Geschlechtsverkehr zu verbieten, weil Analverkehr, Oralverkehr und alles andere nicht strafbar sind. Und weil ich vermute, dass Sie mir das womöglich nicht glauben, zitiere ich jetzt wörtlich aus dem Beschluss. Er bedient sich selbstverständlich einer weniger deutlichen Wortwahl, als sie sich ein Strafverteidiger leisten kann. Es heißt dort:[59]
"Da das strafrechtliche Inzestverbot nur ein eng umgrenztes Verhalten zum Gegenstand hat und die Möglichkeiten intimer Kommunikation nur punktuell verkürzt, werden die Betroffenen auch nicht in eine mit der Achtung der Menschenwürde unvereinbare ausweglose Lage versetzt."
Die Richter, die das unterschrieben haben, wollten gewiss nicht zynisch sein, auch wenn es auf die Betroffenen den Anschein gemacht haben dürfte. Sie haben die Reichweite des Satzes vermutlich ebenso wenig überschaut wie die Folgen ihrer Ausführungen zur Eugenik. Das belegt nicht nur, wie verbrämt Rationalität auch im 21. Jahrhundert noch daherkommt. Es verdeutlicht, dass unser System 2 nicht nur abhängig ist vom Glukosepegel unseres Körpers. Es schaltet sich überdies nur höchst widerwillig ein, wenn das nicht ausschaltbare System 1 eine Standardentscheidung parat und der Mensch kein Interesse hat, System 2 mit der sorgfältigen Prüfung dieser Entscheidung zu beauftragen. Das nicht abschaltbare System 1 drängt immer wieder zur fest verankerten Standardentscheidung und System 2 wird nicht hinreichend aktiv, weil es nicht interessiert ist. Mit anderen – einfacheren – Worten: Albert Einstein hatte Recht, als er sagte:
"Es ist leichter, einen Atomkern zu spalten, als ein Vorurteil".[60]
Fehlendes Interesse und verfestigte Vorurteile sind nicht die einzigen Hindernisse auf dem Weg zur fehlerfreien Abwägung und Entscheidung. Es kommt hinzu, dass ein Entscheidungsapparat wie unser Gehirn, das die Außenwelt vorrangig auf gespeicherte Modelle für eine Standardentscheidung durchsucht, nur die Informationen verarbeiten kann, die es sieht. Wenn System 1 die eingehenden Informationen als ausreichend ansieht, um eine Standardentscheidung abzurufen, führt das zu dem Problem, dass das Unsichtbare keine Berücksichtigung bei der Entscheidung mehr findet. Mit anderen Worten: Wir ignorieren das Unsichtbare, auch wenn es denkbar ist.[61]
Wir tun das vor allem dann, wenn uns plausibel klingende Geschichten präsentiert werden. Sie passen gut in die von System 1 gespeicherten Muster. Sie haben deshalb besonders große Chancen, auch bei dünner Datenlage geglaubt zu werden. Das gilt für kohärente, also zusammenhängende und auf den ersten Blick widerspruchsfreie Geschichten. Besonders leicht werden diese Geschichten geglaubt, wenn sie aus einer als vertrauenswürdig eingeschätzten Quelle stammen und ein paar weitere Voraussetzungen vorliegen. Die Psychologie hat die Mechanismen, die insoweit in uns arbeiten, näher erforscht.
Mit Hilfe verschiedener Experimente wurde nachgewiesen, dass System 1 bereits mit ersten Wahrnehmungen auf der Grundlage einer Plausibilitätskontrolle Überzeugungen bildet, obwohl eine kritische Betrachtung die Entscheidungsgrundlage viel zu dürftig erscheinen lässt. Dazu möchte ich – beispielhaft – auf folgendes Experiment hinweisen:[62]
Eine Versuchsgruppe wurde mit der Frage konfrontiert, ob eine ihnen unbekannte Person mutmaßlich eine gute Führungskraft sein würde. Um das zu beurteilen, wurden Eigenschaften der Person mitgeteilt.[63] Konkret wurde gesagt, die Person sei
"intelligent und durchsetzungsstark".
Die mit Abstand meisten Personen bejahten daraufhin die Frage nach der Eignung als Führungskraft. Wenn Sie so sind wie die meisten Menschen, gingen Ihre Überlegungen ebenfalls in diese Richtung.
Das war eine verfrühte Entscheidung. Denn die Person hätte ja durchaus intelligent und durchsetzungsstark, außerdem aber auch noch grausam und korrupt sein oder wegen Mordes im Gefängnis sitzen können. Trotzdem teilte ihnen ihr System 1 eine erste Entscheidung mit. Wir entscheiden eben lieber, als dass wir fragen, wenn die wahrgenommenen Daten eine erste Plausibilitätskontrolle passieren und damit eine Standardentscheidung im
System 1 abrufen. Diese Voraussetzung erfüllt die Mitteilung der Eigenschaften "intelligent und durchsetzungsstark", wenn wir dazu befragt werden, ob der so beschriebene Mensch eine bestimmte Aufgabe erfüllen kann. Das Unsichtbare spielt bei dieser Entscheidung keine Rolle, denn – um es zu wiederholen, weil es so wichtig ist – System 1 interessiert sich nur für das Sichtbare.
Die Psychologie leitet daraus die allgemeine Erkenntnis ab, dass der Mensch sich auch auf unzureichender Informationsgrundlage Überzeugungen bildet, sobald System 1 eine Standardentscheidung parat hat. Oder anders gesagt: Der Mensch bildet sich zu schnell eine Meinung. Das ist übrigens der tiefe Grund dafür, warum Menschen ständig Urteile fällen über Dinge, von denen sie keine Ahnung haben. Dazu erinnere ich erneut an den Fall Kachelmann, der weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt wurde. Es gab so gut wie keine Informationen insbesondere zum Aussageverhalten der Anzeigeerstatterin. Trotzdem hatte jeder eine Meinung dazu, ob er schuldig oder unschuldig ist.[64] Dasselbe Prinzip wirkt übrigens Woche für Woche bei der Frage, ob der Trainer seiner Lieblingsmannschaft die richtige Aufstellung gewählt hat.
Die Entdeckung eines Modells durch System 1 bewirkt überdies eine Weichenstellung. Sie beeinflusst die Bewertung der nachfolgend eingehenden Daten. Die erste Einordnung in ein gespeichertes Modell sorgt dafür, dass die Bewertung der nachfolgenden Informationen angepasst wird an die bereits gebildete Überzeugung. Die Psychologen nennen das Halo-Effekt. Er bewirkt, dass wir zusätzliche Informationen durch die Brille der bereits mitgeteilten aufnehmen. Anders gesagt, wir interpretieren die folgenden Informationen im Sinne einer Bestätigung unserer ersten Entscheidung. Das ist ebenfalls wissenschaftlich belegt, was sich erneut mit einem einfachen Beispiel verdeutlichen lässt. Versuchsgruppen wurden danach gefragt, was sie von zwei Personen hielten, die wie folgt beschrieben wurden:[65]
Laura: intelligent – fleißig – impulsiv – kritisch – eigensinnig – neidisch
Gudrun: neidisch – eigensinnig – kritisch – impulsiv – fleißig – intelligent
Wenn Sie so sind wie die meisten Menschen, haben Sie von Laura eine bessere Meinung als von Gudrun, obwohl beiden in Summe dieselben Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Reihenfolge der Mitteilung beeinflusste Ihr Bild. Daraus leiten Psychologen den allgemeinen Satz ab:
Wenn wir uns bei einer Bewertung in eine Richtung entschieden haben, färbt die erste Festlegung die nächste Information und so weiter. Wir bewerten die Folgeinformationen so, dass sie sich besser einfügen in die bereits gebildete Überzeugung.[66]
Überaus irrational kann es auch werden, wenn uns eine Bewertung als allgemein akzeptierte Erkenntnis präsentiert wird. In derartigen Situationen tendieren wir dazu, uns unabhängig vom eigenen Urteilsvermögen der Mehrheit anzuschließen. Das kann zu geradezu bizarr anmutenden Ergebnissen führen. Auch das wurde experimentell belegt. So wurde z. B. Versuchsgruppen von jeweils neun Personen eine Leinwand präsentiert, auf die nacheinander 18 Aufgaben projiziert wurden. Die Versuchspersonen sollten sehr einfache Fragen zur Übereinstimmung einzelner Linien beantworten. Eine Beispielsaufgabe sehen Sie an der Leinwand. Die Fragestellung ging dabei dahin, welche der Linien auf der linken Seite mit der auf der rechten Seite übereinstimmt.
Abbildung 5: Fehlerquelle Mehrheitseinflüsse
Acht der neun Probanden wurden jeweils instruiert, bei sechs der 18 Aufgaben gleichlautend eine falsche Antwort zu geben, die der neunte Proband vor seiner eigenen Antwort erfuhr. Ergebnis war, dass sich sage und schreibe 76 % der nicht eingeweihten Probanden von der Mehrheitsmeinung dahin bringen ließen, zumindest eine der ganz offensichtlich falschen Antworten mitzutragen.[67] Sie werden das vielleicht nicht glauben, aber es ist wahr.
Maßgeblichen Einfluss nehmen schließlich unsere Instinkte auf unsere Überzeugungsbildung. Zusammen mit unserer übertriebenen Entscheidungsfreude, unserem Hang, plausible Geschichten zu glauben und unserer Affinität zur Mehrheit ist das nicht nur der Nährboden, den Betrüger und Heiratsschwindler nutzen. Es ist zugleich die Basis, auf der ganze Weltanschauungen und Religionen gedeihen. In diesen Fällen erbringt unser Hirn Höchstleistungen als im wahrsten Sinne des Wortes Sinn stiftendes Organ. Es fügt Informationen hinzu, die gar nicht zum Input gehören, um den aufgenommenen In-
formationen einen Sinn zu geben oder die Geschichte bei Inkonsistenzen wieder kohärent zu machen.[68]
Das Muster erklärt nicht nur, warum Anlagebetrüger und Heiratsschwindler immer wieder Erfolg haben. Es erklärt auch das Geschehen an den Finanzmärkten, deren Akteure die Welt schon mehr als einmal an den Rand des Abgrundes gebracht haben, weil sie ehrlichen Herzens an die Sicherheit von Finanzprodukten glaubten, nur weil das plausibel war, es ihre Gier bediente und alle anderen auch daran glaubten.[69] Es erklärt, warum an den zum überwiegenden Teil – bei rationaler Betrachtung – doch sehr unwahrscheinlichen Aussagen der Religionen Milliarden von Menschen glauben. Ohne den Respekt vor dem Glauben Einzelner in Frage stellen zu wollen, dürfte es eine unbestreitbare Aussage sein, dass wir schlicht nicht wissen können, ob es einen Gott gibt oder nicht. Es gibt daneben eine Vielzahl wissenschaftlicher Erkenntnisse, die es extrem unwahrscheinlich machen, dass ein Gott vor 5000 Jahren die Erde in sieben Tagen schuf und der Mensch sein Ebenbild ist. Gleichwohl glauben einer Umfrage zufolge noch heute immerhin 70 % der republikanischen Wähler in Georgia, USA, daran, dass die biblische Schöpfungsgeschichte zutreffend die Entstehung der Welt und des Menschen beschreibt.[70] Diese Menschen mag man belächeln. Aber sie sind genauso überzeugt wie die, die sich in Flugzeugen in Wolkenkratzer stürzen, weil sie ehrlichen Herzens glauben, dass im Jenseits Jungfrauen auf sie warten. Sie blenden aus, dass die Wissenschaft der Erde ein weit höheres Alter attestiert und denken nicht darüber nach, wo die vielen bemitleidenswerten Jungfrauen eigentlich herkommen sollen. All diese Menschen funktionieren nicht anders als wir. Ihre Überzeugungsbildung folgt dem gleichen Muster wie bei uns: Sie vertrauen auf eine plausible Geschichte, die aus einer als vertrauenswürdig eingeschätzten Quelle, der Bibel oder dem Koran, stammt. Milliarden andere glauben sie auch und sie ist voller Verheißungen. Unser Gehirn formt unter diesen Bedingungen aus wenigen Informationen Geschichten, von deren Richtigkeit wir felsenfest überzeugt sind.
Ich muss Sie vermutlich gar nicht mehr fragen, ob es diese Einflussfaktoren auf die Überzeugungsbildung nach Ihrer Erfahrung auch im Gerichtssaal gibt. Wer schon einmal versucht hat, eine bereits überzeugte Kammer "umzudrehen", der weiß: Das Muster ist unübersehbar identisch. Es ist nicht wegzudenkender Bestandteil unseres Alltags.
Es verblüfft mich immer wieder, wie sich Kriminalbeamte aus diffusen Telefonaten Geschichten zusammenreimen, die den Handel mit Betäubungsmitteln belegen sollen, schlicht weil sie nach Bestätigung ihrer Arbeitshypothese suchen. Oder denken Sie an weinende Anzeige-erstatterinnen oder bemitleidenswerte Kinder, die als Zeugen zunächst bei der Polizei und dann vor Gericht erscheinen. Ihre Erzählungen vereinen alle Eigenschaften, die eine Geschichte haben muss, um bevorzugt geglaubt zu werden. Polizisten und Richter sehen eine weinende Frau oder bemitleidenswerte Kinder. Sie erzählen widerspruchsfreie Geschichten, die mühelos die Eingangskontrolle von System 1 passieren. Vordergründig geben die Zeugen nicht den geringsten Anlass, an ihren Worten zu zweifeln. Sie sind zwar fremd und es ist nichts über sie bekannt. Sie könnten notorische Lügner sein, geheim gehaltene oder unverständliche Motive für eine Falschbelastung haben oder schlicht an etwas glauben, was gar nicht geschehen ist. Polizisten und Richter orientieren sich aber nur an dem, was sie sehen, solange es sich in ihre modellierte Vorstellungswelt einfügt. Es ist die Plausibilität der Geschichte, die Vertrauen schafft, ganz gleich, wer die Geschichte erzählt.
Auf diesem Nährboden bilden sich erste Überzeugungen. Sie beeinflussen die Bewertung nachfolgender Ermittlungsergebnisse, insbesondere der Version des womöglich zu Unrecht einer Straftat bezichtigten Beschuldigten, und sei es, dass ihm nicht geglaubt wird, jedenfalls nicht im vorgeworfenen Maße schuldig zu sein. Niemand sucht nach der Bestätigung seiner Version. Gesucht wird der Widerspruch in seinen Bekundungen, weil das die bereits vorhandene Annahme bestätigt. Polizisten glauben den Angaben der den Tatvorwurf bestätigenden Zeugen, weil es sie auch selbst bestätigt. Staatsanwälte sehen keinen Anlass, die Ermittlungen der Polizei in Frage zu stellen und Gerichte halten Staatsanwaltschaften für ebenso zuverlässig arbeitende wie vertrauenswürdige Quellen.[71] Richter vertrauen sich auch untereinander und auf die sorgfältige Arbeit des Berichterstatters.[72] Allerspätestens der Eröffnungsbeschluss stellt dann die Weiche im Sinne des Inertia-Effekts,[73] wonach neue Informationen nichts mehr ändern, wenn sie nur wie auch immer mit der Anklage in Übereinstimmung gebracht werden können.[74]
Bis zur Aussage der Zeugen in der Hauptverhandlung hat sich längst eine Mehrheit der mit der Sache Befassten eine Überzeugung gebildet. Die Schuld des Angeklagten ist zur "herrschenden Meinung" geworden – ein Umstand, der in der Rechtswissenschaft schon im Studium Einfluss nimmt auf die Überzeugungsbildung. Interne Konflikte der Entscheidungsträger sind nur selten zu befürchten. Wenn Angeklagte mich fragen, ob es möglich sei, dass "die da oben" sich seinetwegen womöglich auch mal streiten würden, habe ich das noch nie guten Gewissens zu bejahen vermocht. Welcher Beisitzer riskiert schon einen Konflikt mit der ihn beurteilenden Vorsitzenden. Dienstliche Hierarchien, das tägliche Miteinander, kollegiale Beziehungen, mitunter freundschaftliche Verbundenheit und das Selbstverständnis als "Team" fördern den Konsens, nicht den Konflikt. Solange sich keine massiven Anhaltspunkte für Zweifel aufdrängen, lautet die Standardentscheidung von System 1, sich der Mehrheit anzuschließen. Sogar bei der Auswahl der Pflichtverteidiger
wird darauf geachtet, möglichst keinen beizuordnen, der den Prozess allzu kritisch begleitet.
Um eine einmal gewonnene Überzeugung nicht zu gefährden und die Integrität ihrer Kollegen nicht in Zweifel ziehen zu müssen, glauben Richter sogar Geschichten, die gar nicht wahr sein können. Oder was geht ihnen durch den Kopf, wenn sich Vernehmungsbeamte und Ermittlungsrichter angeblich perfekt und detailreich an den Inhalt von Jahre zurückliegenden Zeugenaussagen erinnern, während sie nichts dazu berichten können, wie der Zeuge aussah, welche Kleidung er trug, wer das Protokoll führte, in welchem Raum die Vernehmung stattfand oder was sie vor bzw. nach der Vernehmung gemacht haben? Es kommt eben immer darauf an, was gerade gebraucht wird, um die bereits gebildete Meinung zu bestätigen. Wer schon einmal einen von der Verteidigung zur Entlastung benannten Richter im Zeugenstand erlebt hat, der sich – durchaus nachvollziehbar – nicht einmal rudimentär an das erinnern konnte, was eine von ihm vernommene Person ausgesagt hatte, der weiß, was ich meine.
Unerschütterlich ist schließlich das richterliche Vertrauen in die eigene Unvoreingenommenheit bzw. die der Kollegen. Neulich saß ich mit einem Mandanten nach der Aufhebung eines Urteils durch den BGH einer Schwurgerichtsbesetzung gegenüber, in der einer der Richter bereits am aufgehobenen Urteil mitgewirkt hatte.[75] Mein Mandant war fassungslos und sich sicher, dass dieser Richter voreingenommen sei. Aus höchstrichterlicher Sicht war das jedoch keine "verständige Würdigung des Sachverhalts".[76] Für den BGH ist die erneute Befassung desselben Richters bekanntlich kein Ablehnungsgrund[77] und im Regelfall auch kein Grund für eine Besetzungsrüge.[78] Spätestens diese Rechtsprechung liefert den unwiderlegbaren Beweis, dass Richter ihren Kollegen nicht einmal dann misstrauen, wenn das jedem gesunden Menschenverstand widerspricht.
Wenn der Beschuldigte seine Unschuld oder seine hinter dem Vorwurf zurückbleibende Schuld nicht beweisen kann, sieht er sich außerdem mit dem Problem konfrontiert, dass eine plausible Geschichte den Beschützerinstinkt in gleicher Weise wecken kann wie das Bedürfnis nach Bestrafung des vermeintlichen Täters. Und die alle Beteiligten instinktiv – die Verteidiger nehme ich da keinesfalls aus – oftmals abstoßende Aussicht, die Zeugen anhören und befragen zu müssen, erweist sich – bisweilen gepaart mit Faulheit – als zusätzliches Hindernis, die bereits gebildete Überzeugung in Frage zu stellen. Erneut gilt: Das Unsichtbare findet keine Berücksichtigung, auch wenn es denkbar bleibt. Denn System 1 urteilt ohne das Unsichtbare, ganz gleich ob es denkbar bleibt oder nicht. Im Urteil lesen wir dann Standardsätze, die sich tief eingegraben haben im System 1 unserer Richter, wie z. B.:
"Die Kammer konnte kein Falschbelastungsmotiv des/der Zeugen/in erkennen."
Im Revisionsverfahren – darauf komme ich gleich noch einmal zurück – ist die Überzeugungsbildung des Tatrichters ohnehin nur begrenzt einer Überprüfung zugänglich. Und in einem Wiederaufnahmeverfahren kommt die Autorität eines rechtskräftigen Urteils hinzu. Es determiniert die Überzeugung eines Richters mindestens so sehr wie die Bibel den Papst oder der Koran den Selbstmordattentäter. Er will gar nichts anderes mehr glauben, als das, was der Kollege schon rechtskräftig festgestellt hat. Der Psychologe nennt das "Perseveranzeffekt".[79] Der wirkt auch dann, wenn der Justiz auf dem Weg zur Rechtskraft unübersehbare Fehler unterlaufen sind. Der uns hier beehrende Richter am Bundesgerichtshof Ralf Eschelbach hat Recht, wenn er unter Berufung auf die Journalistin Barbara Rückert sagt, dass
"die generell wiederaufnahmefeindliche Justiz nach Eintritt der Rechtskraft ´kratzt und beißt`, wenn ihr – zu Recht – grobe Fehler vorgeworfen werden". [80]
Diese Automatismen ignorieren beharrlich, dass es ein ganz erhebliches Risiko gibt, dass die gewonnene Überzeugung falsch sein könnte, weil etwas Entscheidendes übersehen oder gar ausgeblendet wird. Und das gilt nicht nur in Aussage-gegen-Aussage Situationen. Es gilt stets, wenn eine objektiv dünne Beweislage Grundlage der Überzeugungsbildung ist. Das Muster wirkt in sämtlichen Fällen, in denen der Tatrichter im besonderen Maße auf die Zuverlässigkeit und Aussagekraft weniger Indizien oder einzelner Zeugen angewiesen ist. Das Unsichtbare – aber Denkbare – wird ignoriert, auch wenn nur eine zusätzliche Information genügen würde, um das gesamte Bild zu sprengen. Der BGH gibt das sogar ausdrücklich vor. Allzu fantasievolle und sich auf die Suche nach dem Unsichtbaren begebende Tatrichter weist er immer mal wieder zurecht, indem er formuliert:[81]
"Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass der Tatrichter weder mit Blick auf den Zweifelssatz noch sonst gehalten ist, zu Gunsten des Angeklagten von Sachverhaltsvarianten auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat".
Dabei kann sich das Risiko der Ignoranz unsichtbarer Details fatal auswirken. Jörg Kachelmann brachte eine kohärente Geschichte aus vermeintlich vertrauenswürdiger Quelle nicht nur in Untersuchungshaft.[82] Sie beschädigte seinen Ruf für immer. Exemplarisch ist weiterhin auf den tragischen Fall des Lehrers Horst Arnold hinzuweisen. Er hatte angeblich seine Kollegin Heidi K. in der
großen Pause im Biologie-Vorbereitungsraum vergewaltigt. Er war zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die ihn verurteilende Kammer sah nicht, dass es sich bei Heidi K. um eine notorische Lügnerin handelte. Die vom BGH insoweit – siehe oben[83] – verlangten "konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte" waren unsichtbar für das Landgericht Darmstadt. Das besiegelte das Schicksal von Horst Arnold. Das Beispiel sollte uns alle daran zweifeln lassen, die subjektive Überzeugung des Tatrichters und die Ignoranz des Unsichtbaren zum Maß aller Dinge zu machen.
Ich werde am Ende meiner Ausführungen noch einmal darauf zurückkommen, wie der Gesetzgeber und die Rechtsprechung diesem Problem begegnen müssten. Zuvor möchte ich noch darauf eingehen, dass die Ignoranz des Unsichtbaren im Revisionsverfahren sogar zum Prinzip wird.[84]
Im Revisionsverfahren besteht die Aufgabe des Gerichts bekanntlich darin, die Richtigkeit des tatrichterlichen Urteils zu überprüfen. Das gelingt nicht immer, wie wir alle wissen. Exemplarisch ist erneut auf das Beispiel Horst Arnold hinzuweisen. Mit donnernden Worten wurde er im Wiederaufnahmeverfahren vom Landgericht Kassel freigesprochen.[85] Der dortige Richter sparte nicht mit Kritik an dem Darmstädter Gericht, das ihn verurteilt hatte. Es habe gegen "elementare Grundregeln der Wahrheitsfindung verstoßen".[86] Die Revision gegen dieses Urteil war vom BGH gleichwohl als "offensichtlich unbegründet" zurückgewiesen worden.[87] Horst Arnold hatte beim BGH keine Chance.
Auch ohne Einblick in die Verfahrensakten gehabt zu haben, wage ich die Aussage, dass das auch daran lag, dass der BGH den tatrichterlichen Überzeugungsbildungsprozess prinzipiell nur auf dessen Plausibilität überprüft. Eine inhaltliche Auseinandersetzung findet nicht statt. Das liegt auch und gerade an einer kohärenten Geschichte, an die der BGH glaubt, obwohl sie nicht wahr ist. Sie hat ebenfalls alle Eigenschaften, die eine Geschichte braucht, um bevorzugt geglaubt zu werden – zumal sie aus der vertrauenswürdigsten Quelle stammt, die der BGH kennt. Der BGH ist es selbst, der sich diese Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte vom "Rekonstruktionsverbot" im Revisionsverfahren.[88]
Das "Rekonstruktionsverbot" hat zum Inhalt, dass es im Revisionsverfahren nicht möglich sein soll, Beweiserhebungen aus der Tatsacheninstanz daraufhin zu überprüfen, ob sie den Feststellungen des Tatrichters entsprachen oder nicht. Dogmatisch handelt es sich um ein Beweiserhebungsverbot. Begründet wird das Dogma damit, das Revisionsverfahren enthalte keine Regeln für eine derartige Beweisaufnahme. Eine Rekonstruktion z. B. der Aussage eines Zeugen würde deshalb gegen die "Ordnung des Revisionsverfahrens" verstoßen.[89] Das bewirkt, dass nicht im Urteil sichtbare Fehler des Tatrichters für das Revisionsgericht unsichtbar bleiben. Es macht die Ignoranz des Unsichtbaren – die Hauptfehlerquelle schlechthin auf dem Weg zur Überzeugungsbildung – zum vorgegebenen Bestandteil des Revisionsverfahrens. Daneben macht es die Hauptverhandlung im Ergebnis bedeutungslos. Denn entscheidend ist danach nicht mehr, was in der Hauptverhandlung geschehen ist. Entscheidend ist, was der Tatrichter darüber aufgeschrieben hat. Man ist versucht, frei nach Hans Kelsen zu sagen:[90]
Denn der Rechtssatz lautet nicht: Wenn der Tatrichter gegen § 261 StPO verstoßen hat, ist das Urteil aufzuheben, sondern: Wenn der Tatrichter sein Urteil nicht "revisionssicher" schreibt, hebt das Revisionsgericht das Urteil auf[91].
Dabei erfüllt die Geschichte vom "Rekonstruktionsverbot" sämtliche Voraussetzungen, um die Eingangskontrolle von System 1 eines Strafrechtlers mühelos zu passieren. Das macht sie so gefährlich. In der Tat sollte das Revisionsverfahren keine Tatsacheninstanz sein. Es gibt keine Vorschriften für die Beweisaufnahme, die den Regeln für die tatrichterliche Hauptverhandlung entsprechen. Überdies stammt die Geschichte aus einer übermächtigen Quelle. Der BGH verfügt über so große Autorität, dass das "Rekonstruktionsverbot" nur selten in Frage gestellt wird. So wurde seine Akzeptanz zur herrschenden und beinah unangefochtenen Mehrheitsmeinung.[92] Nicht einmal in den von ausgewiesenen Strafverteidigern verfassten Standardwerken zur Revision, gemeint sind die Werke von Dahs,[93] Hamm[94] und Schlothauer/Weider[95], wird das "Rekonstruktionsverbot" in Frage gestellt. Die Verwendung der Begriffe "Ordnung" und "Verbot" sprechen unsere deutschen Urinstinkte offenbar in einem Maße an, das Kritik erst gar nicht aufkommen lässt.
Eine unvoreingenommene Suche nach dem Unsichtbaren in der Argumentation des BGH führt freilich zu dem Ergebnis, dass es ein "Rekonstruktionsverbot" im Revisionsverfahren gar nicht gibt. Ein einfacher Blick ins Gesetz zeigt, dass die StPO kein Beweiserhebungsverbot im
Revisionsverfahren regelt.[96] Richtig ist zwar, dass der historische Gesetzgeber umfangreiche Beweiserhebungen in der Revisionsinstanz nicht geplant hatte. Tatsache ist aber auch, dass er nicht die Absicht hatte, Urteile vor der Aufhebung zu bewahren und Menschen ins Gefängnis zu schicken, nur weil die Gesetzesverstöße bei der Urteilsfindung mit den vom BGH so genannten "Mitteln des Revisionsrechts" nicht sichtbar gemacht werden können. Kein Mensch hat jemals ernsthaft behauptet, dass es der Gesetzgeber in Kauf nehmen wollte, dass unschuldige Menschen ins Gefängnis wandern, weil der Tatrichter die Angaben eines Sachverständigen oder eines Zeugen im Urteil falsch wiedergegeben hat.
Die Wahrheit ist, dass der Gesetzgeber sich schlicht geirrt hat, als er die "Ordnung des Revisionsverfahrens" schuf. Er hat nicht damit gerechnet, dass es Gesetzesverstöße geben kann, die ohne Beweisaufnahme im Revisionsverfahren unsichtbar bleiben. Die gibt es aber sehr wohl.[97] Und dieser Irrtum ist die unsichtbare Kleinigkeit, die der BGH beharrlich ignoriert, wenn er das "Rekonstruktionsverbot" verteidigt. Die Wahrnehmung dieses kleinen Details ändert alles. Dieser Irrtum des Gesetzgebers ist das Tausendstel, das Edward Lorenz bei der Wiederholung seines meteorologischen Experiments vernachlässigte.[98]
Den Beweis dafür liefert der BGH selbst. Denn er hält sich nicht konsequent an das von ihm erfundene "Rekonstruktionsverbot". Wenn es darum geht, Revisionsverfahren "effizienter" zu machen, fühlt sich der BGH schon lange nicht mehr an die angeblich vom Gesetzgeber zwingend vorgegebene "Ordnung des Revisionsverfahrens" gebunden. Das beweist das Protokollberichtigungsverfahren. Es erledigt die Beweiskraft des Protokolls, bei dem sich der Gesetzgeber auch nicht vorstellen konnte, dass es fehlerhaft abgefasst werden könnte. Deshalb verlieh er dem Protokoll absolute Beweiskraft. Der BGH hat inzwischen eingesehen, dass es keine tragfähige Grundlage gibt, der irrtumsbedingten Vorstellung des Gesetzgebers vom Dogma der Unwiderlegbarkeit des Protokolls nibelungentreu zu folgen. Also hat er das von der gesetzlichen "Ordnung des Revisionsverfahrens" ebenfalls nicht vorgesehene Protokollberichtigungsverfahren eingeführt. Dort wird geprüft, ob ein nicht protokollierter Vorgang nicht doch stattgefunden hat.[99] Das ist nichts anderes als eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung.[100]
In Ermangelung eines gesetzlichen Beweiserhebungsverbotes gibt es weder Staatsanwaltschaften noch Gerichte, die die Richter des BGH wegen Rechtsbeugung verfolgen, weil sie mit dem Protokollberichtigungsverfahren gegen eine strafprozessuale Regel verstoßen. Das hat den 5. Senat zuletzt ermutigt, selbst einen Sachbeweis zu erheben. Er hat ein Sachverständigengutachten zu einer DNA-Spur eingeholt. Es wird Sie nicht wundern, dass es nicht darum ging, der Revision eines Angeklagten zum Erfolg zu verhelfen. Es ging um den Nachweis, einem vom Tatrichter abgelehnten Beweisantrag eines Verteidigers den Stempel einer wider besseres Wissen und somit rechtsmissbräuchlich aufgestellten Beweisbehauptung aufzudrücken. Die Beweiserhebung führte zu dem vom BGH antizipierten Ergebnis und ermöglichte die Zurückweisung der Revision.[101] Der Vorsitzende des 5. Senats, Clemens Basdorf, hat im Anschluss an diese Entscheidung in der NStZ die Frage aufgeworfen: "Was darf das Revisionsgericht?"[102] Er meinte damit die Befugnisse des BGH, Beweise zu erheben.[103] Meine Antwort darauf ist ganz kurz: Das Revisionsgericht darf alles, weil es kein Gesetz und kein Gericht gibt, die ihm irgendetwas verbieten. Es geht gar nicht darum, was das Revisionsgericht darf. Es geht darum, was es tun muss, um der materiellen Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.
Dazu gehört ganz sicher, dass sich der BGH von dem selbst auferlegten und inzwischen willkürlich angewandten "Rekonstruktionsverbot" befreit.[104] Denn es führt dazu, dass auch und gerade im Revisionsverfahren die Mechanismen wirken, die am ehesten geeignet sind, fehlerhafte Überzeugungen zu begründen. Die Ignoranz des im Urteil nicht Sichtbaren bewirkt, dass die Überzeugungsbildung des Revisionsrichters allein von der Plausibilität der ihm präsentierten Geschichte abhängt. Der frühere Vorsitzende des 2. Strafsenats, Burkhard Jähnke, vertrat dazu ausdrücklich die Auffassung, es ginge – soweit es § 261 StPO anbelangt – in der Revision nur um eine allein von System 1 des erfahrenen Revisionsrichters zu erledigende Plausibilitätskontrolle. Danach läge ein Erörterungsmangel nur dann vor, wenn der kundige Leser ihn "auf den ersten Blick" erkenne. Benötige er einen zweiten Blick, könne von einem Rechtsfehler nicht die Rede sein.[105] Der GBA verweist in seinen Antragsschriften immer wieder darauf.[106] Es gibt zwar – soweit ersichtlich – keine Entscheidung des BGH, die das explizit bestätigt. Plausibilität ist im Revisionsverfahren gleichwohl das Maß aller Dinge. Das zeigt sich spätestens daran, dass der BGH allzu vorsichtige Tatrichter gern maßregelt, wenn sie trotz Plausibilität der Urteilsgründe im Sinne einer Verurteilung wegen verbleibender Zweifel freisprechen. Dann kritisiert der BGH, trotz Plausibilität freigesprochen zu haben. Wir kennen ihn alle, den Satz[107]:
"Die Erwägungen des Landgerichts … lassen … besorgen, dass es überspannte Anforderungen an die zu einer Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung gestellt hat".
Bei einer plausiblen Geschichte, die auf eine Täterschaft hindeutet, ist es für den Tatrichter danach schwerer, den BGH von verbleibenden Zweifeln zu überzeugen, als von der Täterschaft des Angeklagten. Wer weiß, hätte das LG Darmstadt Horst Arnold freigesprochen, der BGH hätte das Urteil womöglich aufgehoben.
Die Psychologie lehrt uns, dass wir anfällig sind für vorschnelle Überzeugungen. Wir vertrauen Quellen, weil sie uns erzählen, was sich in unsere Vorstellungswelt einfügt. Bereits gebildete Überzeugungen färben neue Informationen und wir folgen Mehrheiten bisweilen nur, weil sich ihr so viele angeschlossen haben. Vor allem ignorieren wir das Unsichtbare, auch wenn es denkbar bleibt. Zahlreiche weitere irrationale Mechanismen wirken dabei in uns. Ich habe nur einige der aus meiner Sicht wichtigsten dargestellt. Die leider bereits ausgebuchte Arbeitsgruppe 7 des morgigen Tages wird gewiss noch tiefere Einblicke gewähren.
Es sollte sich eigentlich von selbst verstehen, dass diese Lehren Einfluss nehmen auf den Strafprozess, in dem Überzeugungsbildung über Schicksale entscheidet. Das ist aber nicht so. Die tragischen Fälle zu Unrecht verurteilter Menschen lösen nicht die Grundsatzdiskussion aus, die erforderlich wäre. Es wäre die Diskussion über die Konsequenzen der menschlichen Unzulänglichkeiten, die einer zuverlässigen Überzeugungsbildung im Wege stehen. Sie könnte nur enden mit einer Neubestimmung der tatrichterlichen Gewissheit, die für eine Verurteilung erforderlich ist. Statt sich zu fragen, ob sie hinreichend überzeugt und Feststellungen möglich sind, müssten Richter sich fragen, ob sie ausschließen können, dass ihre Überzeugung falsch ist.[108] Und wenn nur wenige hypothetische Veränderungen der Beweislage das gesamte Bild sprengen können, muss bereits dieser Umstand einer Verurteilung im Wege stehen. Denn keine Verbesserung der Sachverhaltsaufklärung oder andere Maßnahme wird jemals geeignet sein, die Probleme zu lösen, die sich aus unserem Menschsein ergeben. Es bleibt zu wünschen, dass von der sich diesem Thema widmenden Abschlussdiskussion am Sonntag ein Impuls für grundsätzliche Überlegungen ausgeht.
Mit Blick auf die uns in diesen Tagen besonders interessierende Hauptverhandlung lässt sich die Problematik auch wie folgt zusammenfassen: Unsere Hauptverhandlungen werden dominiert von im Ermittlungs- und Zwischenverfahren gebildeten Überzeugungen. Das Gericht setzt die Vorwürfe als zutreffend voraus und begibt sich auf die Suche nach Bestätigung. Neuere Entwicklungen wie der das Ermittlungsergebnis als zutreffend voraussetzende Deal und die überzogene Bedeutung des Geständnisses befördern das wie ein Brandbeschleuniger ein bereits unkontrollierbar gewordenes Feuer. Es geht nur noch um die Bestätigung dessen, was ohnehin geglaubt wird. Das ist nach dem, was uns die Psychologie lehrt, das Gegenteil von dem, was erforderlich wäre. In den Mittelpunkt gehört etwas ganz anders. In den Mittelpunkt gehört nicht die Suche nach Bestätigung, in den Mittelpunkt gehört der Zweifel. Er muss die Hauptverhandlung dominieren. Die Suche nach Widerspruch muss die Aufgabe sein, nicht die Suche nach Bestätigung. Danach sucht der Mensch ganz von allein.[109]
Der Zweifel – nicht die Suche nach Bestätigung – ist das personifizierte System 2. Er ist die Mutter der Aufklärung und der Vater der besseren Erkenntnis. Ihm gebührt die ständige Präsenz in der Hauptverhandlung. Doch leider unternehmen der Gesetzgeber und die Gerichte nichts, um das zu befördern. Und das ist kein Zufall. Es entspricht einem tief verankerten Verhaltensmuster. Der Zweifel war noch nie beliebt bei denen, die Macht und Herrschaft auf sich vereinen. Für sie bedeutet Zweifeln seit jeher drohende Veränderung – und damit Gefahr. Auch unsere Gerichte mögen ihn nicht.[110] Sie zweifeln deshalb viel zu selten, am wenigsten an sich selbst.
Schon der große Goethe erkannte das Problem. Er widmete dem Zweifel deshalb ein kleines Gedicht. Es beschreibt in bildhaften Worten, was die Herrschenden und Machthaber von ihm halten. Mit diesem Gedicht werde ich jetzt dem Zweifel, dem besten Freund des Strafverteidigers, huldigen und damit meinen Vortrag beenden. Ich bedanke mich schon jetzt für die Lebenszeit, die sie mir geopfert haben.
Der Vers ist im zweiten Teil des "Faust" zu finden. Dort kommt es zu Beginn – ich setze den Inhalt angesichts der Vielzahl junger Kolleginnen und Kollegen im Saal vorsorglich nicht als bekannt voraus – zu einer Szene am Hofe des Kaisers. Anwesend sind der provozierend auftretende Mephisto, der Kaiser, Faust, ein paar Hofschranzen und vor allem der Kanzler des Kaisers. Der Kanzler ist – wie sollte es anders sein – der Bewahrer des Bestehenden. Seine Aufgabe ist es, revolutionäres Gedankengut im Ansatz zu erkennen und im Keim zu ersticken. Wie Sie sich vorstellen können, hasst er nichts mehr als den Zweifel.
In der Szene geht es um die Lösung einer Krise. Mephisto schlägt diabolisch vor, "begabten Mannes Natur- und Geisteskraft" zu nutzen. Dazu muss man wissen, dass Natur und Geist in der damaligen Vorstellungswelt die Symbole von Sündhaftigkeit bzw. des Teufels waren. Natur stand für Fleischeslust, also für Sünde. Und Geist stand für den Teufel. Der Kanzler – in einer modernen Inszenierung könnte er eine rote Robe tragen – macht
aus Sünde und Teufel die Eltern des Zweifels. Schlimmer geht es nicht. Doch es zeigt noch etwas anderes, was am Ende dann doch noch hoffen lässt. Es bringt die Angst vor unserem besten Freund zum Ausdruck und die ist nur allzu berechtigt. Er ist sehr widerstandsfähig und lässt sich nicht ausrotten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er sich durchsetzt. Bei unserem Dichterfürsten liest sich das so:[111]
"Natur und Geist, so spricht man nicht zu Christen,
deshalb verbrennt man Atheisten,
weil solche Reden höchst gefährlich sind.
Natur ist Sünde, Geist ist Teufel,
sie hegen zwischen sich den Zweifel,
ihr missgestaltet Zwitterkind."
* Bei dem Beitrag handelt es sich um den Eröffnungsvortrag zum 38. Strafverteidigertag 2014 in Dresden. Der Text ist die Wiedergabe des Manuskripts.
[1] BVerfGE 74, 358, 372
[2] Malek StV 2011, 559 ff.
[3] Vgl. dazu auch Ventzke HRRS 2010, 461: Das Schicksal des Mandanten steht und fällt deshalb mit dem, was der Tatrichter in der Urteilsberatung als "Inbegriff der Verhandlung" ansieht.
[4] Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 246.
[5] Fn. 1.
[6] Angeblich von dem US-amerikanischen Baseball-Manager Yogi Berra, einer mit Sepp Herberger vergleichbaren Ikone des Sports, stammt der Satz: "In theory there is no difference between theory and practice. In practice there is."
[7] http://de.wikipedia.org/wiki/Schmetterlingseffekt
[8] http://eaps4.mit.edu/research/Lorenz/Butterfly_1972.pdf
[9] Er trägt diesen Titel etwas zu Unrecht. Henri Poincaré schrieb bereits im Jahr 1912 in seinem Buch "Wissenschaft und Methode": "Wenn wir die Gesetze der Natur und den Anfangszustand exakt kennen würden, so könnten wir den Zustand des Universums zu jedem weiteren Zeitpunkt vorhersagen. Aber selbst wenn die Naturgesetze keine Geheimnisse mehr vor uns hätten, so könnten wir die Anfangsbedingungen doch nur genähert bestimmen. Wenn uns dies erlaubt, die folgenden Zustände mit der gleichen Näherung anzugeben, so sagen wir, dass das Verhalten vorhergesagt wurde, dass es Gesetzmäßigkeiten folgt. Aber das ist nicht immer der Fall: Es kann vorkommen, dass kleine Unterschiede in den Anfangsbedingungen große im Ergebnis zur Folge haben[…, eine]Vorhersage wird unmöglich und wir haben ein zufälliges Phänomen."
[10] Vgl. dazu Nassim Nicholas Taleb, Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse – The Black Swan: The Impact of the Highly Improbable (2008), S. 243 f.
[11] Das sieht auch die höchstrichterliche Rechtsprechung so: RGZ 15, 338, 339; RGSt 61, 202, 206; BGHSt 10, 208, 209.
[12] http://www.spiegel.de/panorama/justiz/bayern-bauer-rudi-ein-grausiger-mord-und-das-falsche-gestaendnis-a-630648.html
[13] http://www.landgericht-mannheim.de/pb/,Lde/1167947/?LISTPAGE=1167839
[14] http://www.n-tv.de/panorama/Verteidiger-Schwenn-attackiert-das-Gericht-article3463611.html
[15] Vgl. dazu Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, 3. Aufl. (2012), S. 250 ff.
[16] http://de.wikibooks.org/wiki/Enzyklop%C3%A4die_der_popul%C3%A4ren_Irrt%C3%BCmer/_Religion
[17] http://www.rp-online.de/politik/deutschland/vor-35-jahren-als-die-liebe-legal-wurde-aid-1.2279153
[18] Vgl. dazu Faramerz Dabhoiwala, Lust und Freiheit, Die Geschichte der ersten sexuellen Revolution (2014).
[19] Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. StRG) vom 25. Juni 1969 (BGBl I, S. 645).
[20] http://www.rp-online.de/politik/deutschland/vor-35-jahren-als-die-liebe-legal-wurde-aid-1.2279153
[21] Die vollständige Gleichstellung mit der Heterosexualität wurde erst mit der ersatzlosen Streichung des § 175 StGB durch das 29. Strafrechtsänderungsgesetz vom 31. Mai 1994 vollzogen.
[22] http://www.bild.de/sport/fussball/thomas-hitzlsperger/outing-die-reaktionen-34128842.bild.html
[23] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundes-praesident-gauck-boykottiert-olympia-in-sotschi-a-937791.html
[24] Ein gutes Beispiel ist auch der Umgang mit DDR-Biografien. Während in den ersten Jahren nach 1990 eine geradezu hysterische Ausgrenzung staatsnaher DDR-Bürger zu verzeichnen war, sehen wir das heute viel entspannter. Vor 20 Jahren wäre es wohl nicht möglich gewesen, als ehemals für Agitation und Propaganda zuständige FDJ-Sekretärin politische Karriere in der CDU zu machen und Bundeskanzlerin zu werden, vgl. dazu Lachmann/Reuth, Das erste Leben der Angela M. (2013).
[25] Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, 3. Aufl. (2012).
[26] Kahneman (Fn. 25), S. 263.
[27] Kahneman (Fn. 25), S. 31 ff.
[28] Kahneman (Fn. 25), S. 38.
[29] Shai Danziger, Jonathan Levav und Liora Avnaim-Pesso, Extreneous Factors in Judicial Decisions, Proceedings of the National Academy of Sciences 108 (2011), S. 6889 – 6892.
[30] Vgl. dazu Kahneman (Fn. 25), S. 55 ff.
[31] Ausführlich dazu Wilhelm NStZ 2008, 425 ff. sowie ZIS 2007, 82 ff.
[32] LG Dresden Urt. v. 6.1.1999 – 5 Ks 411 Js 40035/96; vgl. auch BGH NStZ 1999, 182.
[33] So formuliert erstmals von Stree JR 1987, 73; vgl. auch BGH NStZ 1999, 182.
[35] NStZ 1999, 500 sowie Beschluss vom 26.05.1999, 2 BvR 694/99.
[36] BGH NStZ 2005, 32 = HRRS 2004 Nr. 288.
[37] BGH NStZ-RR 2001, 368; BGHR StGB, § 55 Abs. 1 Satz 1, Anwendungspflicht 1, vgl. weiter BGH NStZ 1997, 593.
[38] Weil auch ich dieser Überzeugung bin, habe ich ein Konzept vorgeschlagen, wie man das Problem lösen könnte, ohne das Gesetz zu ändern (ZIS 2007, 82; eine Kurzfassung findet sich in NStZ 2008, 425). Es gibt in der Literatur Stimmen, die den Vorschlag unterstützen (Eschelbach, in: SSW-StGB, 2. Aufl. (2014), § 55, Rn. 13). Der BGH hat sich damit noch nicht befasst.
[39] BGH, Beschl. vom 17.7.2000 – 5 StR 280/00.
[40] Vgl. Wilhelm NStZ 2008, 425 ff. sowie ZIS 2007, 82 ff.
[41] BVerfGE 90, 145 (145):
[42] http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/ueber-18-milliarden-euro-tabak-und-alkohol-bringen-steuereinnahmen-in-rekordhoehe/7382826.html
[43] Urteil vom 30.07.2008 – 1 BvR 3262/07, 1 BvR 402/08, 1 BvR 906/08.
[44] http://www.who.int/gho/tobacco/en/index.html .
[45] http://www.derwesten.de/panorama/jaehrlich-zehntausende-tote-durch-alkohol-id7795729.html .
[46] http://www.who.int/substance_abuse/publications/global_alcohol_report/msbgsruprofiles.pdf .
[47] http://www.welt.de/welt_print/wissen/article8194870/74-000-Alkoholtote-pro-Jahr-in-Deutschland.html .
[48] http://www.heise.de/tp/news/In-der-naechsten-Generation-ist-der-Tabakkonsum-beseitigt-2101825.html .
[49] http://www.bzga.de/infomaterialien/suchtvorbeugung/cannabis-basisinformation/
[50] http://www.spiegel.de/panorama/justiz/marihuana-in-usa-immer-mehr-bundesstaaten-legalisieren-cannabis-a-942124.html .
[51] Kahneman (Fn. 25), S. 133, 136.
[52] BVerfG NStZ 2008, 614 = HRRS 2008 Nr. 260.
[53] Fischer, Kommentar zum StGB, 61. Aufl. (2014), § 173, Rn. 9.
[54] EGMR Stübing vs. Germany, Application No. 43547/08, Beschluss vom 12.04.2012 = HRRS 2008 Nr. 434.
[55] BVerfG NStZ 2008, 614 = HRRS 2008 Nr. 260.
[56] BT-Drucks. 6/1552, S. 14; 6/3521, S. 17 f.
[57] Hassemer NJW 2008, 1137, 1142 f.; Hörnle NJW 2008, 2085, 2087; Zabel JR 2008, 453, 455; Roxin StV 2009, 544, 547; Fischer (Fn. 53), § 173, Rn. 5.
[58] Hassemer NJW 2008, 1137, 1142 f
[59] BVerfG NStZ 2008, 614 = HRRS 2008 Nr. 260.
[60] Albert Einstein, Physiker, (1879 – 1955).
[61] Kahneman (Fn. 25), S. 112, nennt das die "What you see is all there is"-Regel.
[62] Kahneman (Fn. 25), S. 108 ff.
[63] Kahneman (Fn. 25), S. 112.
[64] Einige Medien ließen ihre Leser sogar während des laufenden Prozesses über Schuld oder Unschuld abstimmen, was von der Justiz zu Recht scharf kritisiert wurde, siehe dazu http://www.tagesschau.sf.tv/Nachrichten/Archiv/2011/05/31/Vermischtes/Kachelmann-Prozess-Richter-kritisiert-Medien-und-Oeffentlichkeit
[65] Kahneman (Fn. 25), S. 109.
[66] Kahneman (Fn. 25), S. 108 ff.
[67] Kevin Dutton, Der Gehirnflüsterer, 5. Aufl. (2011), S. 114.
[68] Kahneman (Fn. 25), S. 100, 247 ff; vgl. auch Nassim Nicholas Taleb (Fn. 10), S. 87 ff.
[69] http://de.wikipedia.org/wiki/Finanzkrise_ab_2007#Verbriefung_von_US-Hypothekenkrediten .
[70] http://www.huffingtonpost.com/2013/08/08/georgia-republicans-creationism_n_3726445.html .
[71] Vgl. dazu auch Fischer StV 2014, 47, 51.
[72] Fischer NStZ 2013, 425.
[73] Pitz/Downing/Reinhold , Sequential Effects in the Revision of Subjevtive Probabilities, in: Canadian Journal of Psychology, Vol. 21(5), 1967, 381.
[74] Vgl. zum Ganzen auch Eschelbach HRRS 2008, 190.
[75] LG Görlitz, 14 Ks 200 Js 13725/11.
[76] Zum Maßstab für eine Ablehnung vgl. nur BGHR StGB § 24 II Vorsitzender 8.
[77] BGH NStZ 1981, 298.
[78] BGH 5 StR 416/12 v. 28.11.2012.
[79] Dazu Lay, Urteils- und Gedächtnisverzerrungen bei der Bewertung von Umweltschadensfällen, Diss. Freiburg (2001), S. 38 ff.
[80] Vgl. zum Ganzen auch Eschelbach HRRS 2008, 190, 198.
[81] Vgl. erneut BGH, Beschl. vom 1.8.2013 – 4 StR 189/13 = HRRS 2013 Nr.773, sowie BGH, Urt. v. 13.12.2012 – 4 StR 33/12 (wistra 2013, 195, 196 = HRRS 2013 Nr. 213) und 21.12.2008 – 1 StR 292/08 (NStZ-RR 2009, 90, 91 = HRRS 2008 Nr. 1095) und Beschl. v. 23.10.2008 – 1 StR 526/08 = HRRS 2009 Nr. 73.
[82] Vgl. dazu auch den Artikel von Barbara Rückert in "Die ZEIT" vom 24.02.2011.
[83] Fn. 81.
[84] Das gilt ausdrücklich nicht für die Rechtsprechung zu § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, z. B. BGH StV 2006, 237 = HRRS 2006 Nr. 280. Danach muss eine Revision auch über Nichtereignisse berichten, wenn sie in Betracht kommen, um der Revision den Boden zu entziehen. Das ist ein Grund dafür, dass so viele Verfahrensrügen scheitern.
[85] LG Kassel, Urt. v. 05.07.2011 – 1620 Js 16973/08 1 KLs.
[86] http://m.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/urteil-im-fall-horst-arnold-eine-erlogene-vergewaltigung-12572251.html .
[87] BGH, Beschluss vom 13.12.2002 – 2 StR 444/02.
[88] Vgl. Wilhelm ZStW 2005,[117], S. 143 ff. und StV 2012, S. 74.
[89] Ständige Rechtsprechung, vgl. nur BGH NStZ 1992, 506, 507; 1997, 296; 2008, 55
[90] Siehe oben, Fn. 4.
[91] In diesem Sinne auch Ventzke HRRS 2010, 461.
[92] Vgl. nur Schluckebier, in: SSW-StPO (2013), § 261, Rn. 62 ff.; Ott, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl. (2013), § 261, Rn. 78 ff.; Sander, in: Leipziger Kommentar zur StPO, 12. Aufl. (2010), § 261, Rn. 173 ff.
[93] Dahs, Die Revision im Strafprozess, 8. Aufl. (2012), S. 187 ff.
[94] Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. (2000), S. 519
[95] Schlothauer/Weider, Verteidigung im Revisionsverfahren, 2. Aufl. (2013), Rn. 2503; vgl. aber auch Schlothauer StV 1992, 134, 135.
[96] Ott (Fn. 92), Rn. 90, hält es für ein "ungeschriebenes Verbot".
[97] Frisch FS Eser, 2005, S. 257, 277 f.
[98] Ausführlich dazu Wilhelm ZStW 2005, [117], S. 143 ff.
[99] BGH St 51, 298.
[100] Vgl. dazu auch Alsberg, Ausgewählte Schriften, 1992 (1913), S. 58/ 89 ff.
[101] BGH NStZ 2012, 526 = HRRS 2012 Nr. 516; Vgl. dazu auch BGH Urteil vom 10. Juli 2013 – 2 StR 47/13 = HRRS 2013 Nr. 757.
[102] Basdorf NStZ 2013, 186.
[103] Kritisch dazu Knauer NStZ 2012, 583.
[104] So auch Frisch FS Eser, 2005, S. 273 ff., 277 ff.; ders. FS Fezer, 2008, 368 ff.
[105] Jähnke, in: Festschrift für Hanack, 1999, S. 355, 364.
[106] Vgl. zum Beispiel die Antragsschrift im Verfahren 5 StR 479/13.
[107] BGH NStZ 2011, 648. Die Liste der Urteile, die der BGH wegen aus seiner Sicht übertriebener Zweifel des Tatrichters aufgehoben hat, ist lang: vgl. nur BGH, Urt. v. 6. 11.1998 – 2 StR 636/97, BGHR § 261 Beweiswürdigung 16 m.w.N.; BGH, Urt. v. 26.06. 2003 – 1 StR 269/02, NStZ 2004, 35, 36; BGH, Urt. vom 16.03.2004 – 5 StR 490/03; BGH Urt. v. 1.2.2007 – 4 StR 474/06; NStZ-RR 2009, 248 = HRRS 2007 Nr. 207; NStZ 2010, 292 = HRRS 2010 Nr. 48; BGH Urt. v. 12.08.2010 – 4 StR 147/10 = HRRS 2010 Nr. 714; BGH NStZ 2012, 205 = HRRS 2011 Nr. 1135.
[108] Vgl. dazu aber BGH NStZ 2013, 420 = HRRS 2013 Nr. 431.
[109] Kahneman (Fn. 25), S. 106, 144.
[110] Vgl. Fn. 106.
[111] Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil in fünf Akten (1832), Erster Akt, Teil 1, Kaiserliche Pfalz.