Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juni 2010
11. Jahrgang
PDF-Download
Von Professor Dr. Gerhard Fezer, Hamburg
Das Verhältnis zwischen Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspraxis scheint in den letzten Jahren zu einem Modethema geworden zu sein.[1] Von "Entfremdung"[2] ist die Rede,[3] von "Praxisferne" und "Theorienlastigkeit" einerseits, andererseits davon, dass die Praxis die Theorie "nicht genügend zur Kenntnis nimmt", dass sogar die wissenschaftlichen Veröffentlichungen weitgehend unbeachtet blieben.[4]
So werden gut gemeinte Vorschläge zur "Verbesserung der Beziehung" gemacht, insbesondere wird an die Bereitschaft beider Seiten appelliert, die Bedürfnisse und Belange der jeweils anderen Seite zu berücksichtigen,[5] einander zu beachten, sich gegenseitig beeinflussen zu lassen, und deshalb vor allem: einen "Dialog" zu führen.[6]
Der derzeitige Vorsitzende des 1. Strafsenats des BGH, Nack, will diesen Dialog sogar "verbessern" und hat dazu den Wunsch: "Wir Richter würden uns wünschen, dass die uns beschäftigenden Probleme vorher wissenschaftlich aufgearbeitet sind. Dann hätten wir wissenschaftlich aufbereitete Grundlagen, die wir unseren Entscheidungen zugrunde legen können"[7]. Mit diesem Satz wird eine Aufgeschlossenheit suggeriert, die in Wirklichkeit nicht besteht. Im Übrigen erscheint der Hinweis angebracht, dass "die Wissenschaft" in ihrer Themenwahl frei ist, d.h. sich einer Instrumentalisierung entzieht.
Nack war denn auch der Mitbegründer des "Karlsruher Strafrechtsdialogs", der seit 2007 alle 2 Jahre stattfindet. War bei der ersten Veranstaltung noch von "getrennten Welten" (Praxis und Wissenschaft) die Rede,[8] so lautet das Generalthema der zweiten Veranstaltung (2009): "Rechtsprechung, Gesetzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht?"[9]. Es ist nicht zufällig, dass an erster Stelle die "Rechtsprechung" steht. Binding hat dies am Ende des 19. Jahrhunderts noch anders gesehen: Die Wissenschaft "trägt die Fackel, und in ihrem Lichte folgen Richter wie Gesetzgeber"[10]. Diese Zeiten sind längst vorbei. Wie das Zustandekommen des sog. Verständigungsgesetzes vom 28. Mai 2009 zeigt,[11] sind die Gerichte vorangegangen und haben den Gesetzgeber hinterher gezogen. Die Wissenschaft wurde abgehängt.
BGH-Richter Fischer[12] spricht in diesem Zusammenhang von "fast schon demütigender Behandlung" der Wissenschaft. Er attestiert - offensichtlich anders als Nack - der Strafrechtswissenschaft ganz generell eine geringe Bedeutung, woran sie offenbar selber schuld sei: "Die Strafrechtswissenschaft hat kein Instrumentarium und keine inhaltliche Autorität entwickelt, welche es ihr möglich machten, Entwicklungen des Prozessrechts mit zu ge-
stalten und Fehlentwicklungen entgegen zu steuern"[13]. Das ist anmaßend und bewusst irreführend. Wer, wie ein Strafsenat des BGH, letztlich die Macht für sich beansprucht zu entscheiden, wie er will, kann demjenigen, der institutionell diese Macht nicht hat, nicht vorhalten, es fehle ihm an Autorität. Nur wenn Fischer belegen könnte, dass die Strafsenate bei strittigen Auslegungsfragen die besseren Argumente gegenüber der Wissenschaft hätten, dann könnte er der Wissenschaft die inhaltliche "Autorität" absprechen.
Damit sind wir beim Thema (Stichwort: "Argument"), das mit der eingangs geschilderten Problematisierung des "Verhältnisses" Strafrechtswissenschaft/Strafrechtspraxis scheinbar nichts zu tun hat, in Wirklichkeit aber von dieser Problematik in den Hintergrund gedrängt wird. Wie steht es also mit der Fähigkeit und Bereitschaft und evtl. sogar Verpflichtung der Strafsenate, selbst den wissenschaftlichen Begründungsansprüchen zu genügen?
BGH-Richter und Strafprozesswissenschaftler haben immerhin eine Gemeinsamkeit: In ihrer universitären Ausbildung wurden sie auch in "rechtswissenschaftlichen Methoden" (§ 5a II DRiG) unterwiesen. Was das für die Anwendung des Strafprozessrechts in einem konkreten Fall bedeutet, soll am Beispiel einer StPO-Hausarbeit kurz verdeutlicht werden.
Nehmen wir an, folgende Verfahrensrüge sei gutachterlich zu beurteilen: In der Hauptverhandlung macht der Angeklagte von seinem Schweigerecht Gebrauch. Daraufhin wird ein Polizeibeamter als Zeuge gehört, der den damals geständigen Beschuldigten im Ermittlungsverfahren vernommen hatte, und zwar ohne die erforderliche Belehrung. Der Verteidiger widerspricht der Vernehmung des Polizeibeamten nicht. Darf das Gericht die Aussage des Polizeibeamten verwerten?
Der Bearbeiter wird sogleich auf die berühmte Entscheidung des 5. Strafsenats in BGHSt 38, 214 stoßen und dort den Grundsatz formuliert finden, dass der Verstoß gegen die Beschuldigtenbelehrungspflicht zu einem Verwertungsverbot führen kann. Derselbe Senat hatte das in BGHSt 31, 395 noch anders gesehen. Seine Meinungsänderung - ausgelöst durch eine Vorlage des OLG Celle - stützt sich auf Argumente des wissenschaftlichen Schrifttums. So kann der Senat formulieren[14]: "Der Senat folgt damit im Wesentlichen der heute im Schrifttum vorherrschenden Auffassung" (es schließen sich zahlreiche Schrifttumsnachweise an).
Zwischenbemerkung : Dass sich die im Schrifttum vorgebrachten Argumente in der Rechtsprechung durchsetzen und ein Strafsenat deswegen seine Auffassung ändert, ist zunächst einmal ein ganz außerordentlicher Vorgang innerhalb der Strafsenate. Das hat sich - wenigstens im Bereich des Strafprozessrechts - so auch nicht mehr wiederholt.
Die Entscheidung BGHSt 38, 214 ist geradezu ein einsamer positiver Höhepunkt - allerdings nur, was die Grundsatzaussage zum Verwertungsverbot betrifft. In derselben Entscheidung beginnt nämlich der BGH, den Beschuldigtenschutz wieder zu relativieren. Er wendet zum ersten Mal die sog. Widerspruchs-Lösung an: Ein Verwertungsverbot entstehe dann nicht, "wenn der verteidigte Angeklagte einer solchen Verwertung nicht widersprochen hat"[15]. Ein solcher Widerspruch müsse spätestens zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt erhoben worden sein.
Und nun zurück zur fiktiven StPO-Übung: Der Bearbeiter der Hausarbeit, wie wir uns ihn vorstellen, nimmt diese Widerspruchs-Lösung zur Kenntnis und er gedenkt nun so zu verfahren, wie er es in seiner wissenschaftlichen Ausbildung für eine solche Situation gelernt hat: Er sucht nach der Begründung dieser Auffassung und verfolgt auch die weitere Entwicklung der Rechtsprechung. Sodann sucht er nach Argumenten, die gegen die Auffassung vorgebracht wurden und sodann nach einer entsprechenden Auseinandersetzung in der BGH-Entscheidung selbst. Denn am Ende muss sich der Bearbeiter entscheiden, welcher Auffassung er mit welcher Begründung in seinem Gutachten folgen will. In unserem konkreten Fall würde unser studentischer Bearbeiter nun aber folgende Entdeckung machen: In BGHSt 38, 214 findet sich so gut wie keine Begründung der - wie sie fortan genannt wurde - Widerspruchs-Lösung.[16] Es ist nur andeutungsweise davon die Rede, dass das Widerspruchserfordernis der besonderen Verantwortung und Fähigkeit des Verteidigers nicht widerspreche.
Weiter wird unser Bearbeiter feststellen, dass diese Widerspruchs-Lösung im Schrifttum mit großem Argumentationsaufwand überwiegend abgelehnt worden ist.[17] Das wiederum hat den 5. Strafsenat nicht davon abhalten können, in BGHSt 42, 15, 22 an der Widerspruchs-Lösung festzuhalten und sich um die im Schrifttum detailliert vorgebrachten Einwände nicht zu kümmern[18]. Er schreibt nur lapidar: "Der Senat hält hieran (sc. an der Widerspruchslösung) auch unter Berücksichtigung der erhobenen Einwände (Fezer JR 1992, 385, vgl. auch Widmaier NStZ 1992, 519) fest...". Dass diese Rechtsprechung im Schrifttum weiterhin kritisiert wurde,[19] hat den 1. Senat nicht beeindruckt. Denn dieser hat in einer späteren Entscheidung (BGHSt 50, 272 = BGH HRRS 2006
Nr. 40) die Auswirkungen der Widerspruchs-Lösung noch verschärft: Nach Aufhebung und Zurückverweisung durch das Revisionsgericht könne in der neuen Hauptverhandlung ein bislang unterlassener Widerspruch nicht mehr nachgeholt werden. Abermals gibt der Senat keine Begründung, weder für die Widerspruchs-Lösung als solche, noch für ihre Verschärfung.[20]
Der 1. Senat hat offenbar längst vergessen, dass er oder ein anderer Senat die Widerspruchs-Lösung immer noch nicht begründet hat. Er redet inzwischen darauf bezogen nur noch pauschal von "der Rechtsprechung" des BGH und begnügt sich mit bloßen zusammengefassten Entscheidungshinweisen.[21]
Der BGH hält also an seiner Rechtsprechung fest, obwohl diese keine ausreichende argumentative Grundlage hat und obwohl keine Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten stattfindet. Der Student, der in der Bearbeitung seiner Hausaufgabe bis an diesen Punkt gelangt ist, wird spätestens jetzt ausrufen: Ja, darf der BGH denn so verfahren? Denn den Studenten wird beigebracht, dass und wie sie eine umstrittene Rechtsfrage methodisch behandeln müssen:[22] Sie müssen Argumente sammeln, sich mit ihnen auseinandersetzen und sich auf dieser Grundlage dann - und erst dann - für eine Auffassung entscheiden, die dann die "richtige" ist und deshalb der verfahrensrechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden darf. Würde sich der Student etwa so ausdrücken, wie der 1. und 5. Strafsenat dies selbst getan haben, dann wäre die Hausarbeitsleistung in diesem Punkt mangelhaft.
Wenn ich nun frage, ob für die revisionsgerichtliche Entscheidungsbegründung in diesem Punkt nicht dasselbe gelten muss, was für die studentische Fallbearbeitung gilt, dann sehe ich schon, wie mir die Einwände nur so um den Kopf fliegen:
Der Student lerne doch erst die Rechtsanwendung, er übe sich auf einer "Spielwiese", d.h. in einer künstlichen Ausbildungssituation. Dagegen müsse ein Strafsenat entscheiden, er könne in der Begründung nicht alles berücksichtigen, was in der wissenschaftlichen Literatur zu lesen sei, er sei auch nicht verpflichtet, sich umfassend um Nachweise zu bemühen. Wenn schon ein Argument oder ein Nachweis fehle, so sei es doch denkbar, dass der Senat dies bei der Beratung mitberücksichtigt habe etc. In solchen Einwänden kommt eine Relativierung der wissenschaftlichen Literatur zum Vorschein, die die eingangs geschilderte Diskussion - Verhältnis der BGH-Rechtsprechung zur Wissenschaft - prägt. Diese - nur begrenzt fruchtbare - Diskussion hat den Zugang zur eigentlichen Problematik verschüttet - und jetzt bin ich beim eigentlichen Thema. In Wahrheit geht es für unsere Frage um die Methodik der Normanwendung und nicht um das Verhältnis Strafprozesswissenschaft/Rechtsprechung, es geht schon gar nicht um den angeblichen Autoritätsverlust der Prozesswissenschaft, es geht auch nicht darum, dass (selbstverständlich) nicht jede wissenschaftliche Äußerung zitiert werden kann. Und es geht auf der anderen Seite auch nicht darum, dass der Geltungsanspruch der Wissenschaft bereits dann negativ berührt ist, wenn ein Strafsenat irgendwelche Autoren nicht zitiert.
Maßgebend ist vielmehr folgendes: Wenn der BGH immer wieder Auffassungen des Schrifttums ignoriert, so kann darin eine fehlerhafte Entscheidungsbegründung durch das Revisionsgericht liegen. Wir haben im Beispielsfall der "Widerspruchs-Lösung" beobachtet, dass die Begründung des 1. Strafsenats stark defizitär ist. Er hält im Ergebnis an dieser "Lösung" fest, ohne selbst ein tragendes Argument entwickelt und sich vor allem mit den Gegenargumenten befasst zu haben. Ob solche Gegenargumente im wissenschaftlichen Schrifttum[23] oder etwa in anderen obergerichtlichen Entscheidungen formuliert sind oder ob sie einfach "in der Luft liegen", also vom Strafsenat von selbst bemerkt werden müssten, das alles ist völlig gleichgültig.
Entscheidend ist die Frage, welchen erkenntnistheoretischen und normativen Anforderungen eine revisionsgerichtliche Entscheidungsbegründung genügen muss.[24] Insoweit gibt es eben keinen Unterschied zur Anwendung des Strafprozessrechts in einer studentischen Hausarbeit.
Denn: Die rechtstheoretischen Regeln der Normanwendung - hier besonders: der Ermittlung des Normverständnisses - sind immer die gleichen und sie fordern auch selbstverständlich die gleiche Beachtung von einem Revisionssenat genauso wie von einem Studenten. Von dieser Gemeinsamkeit im Lernen und Erleben haben die Revisionsrichter sich offenbar gelöst. Man kann hier nur Vermutungen anstellen: Um einer zu starken Behinderung durch Argumente zu entgehen, sind sie möglicherweise nicht von der Versuchung frei, die Äußerungen im wissenschaftlichen Schrifttum der "theoretischen Welt" zuzuordnen, einer Welt also, die mit Vorsatz auf Distanz gehalten wird (Stichwort: "Theorienlastigkeit"). Damit werden aber nur die eigenen Versäumnisse des Strafsenats - was die unerlässliche Argumentation bei der Auslegung des Rechts betrifft - verschleiert.
Es versteht sich von selbst, dass die Entscheidungen zur Widerspruchs-Lösung nicht etwa eine große Ausnahme darstellen. Ich habe in den letzten Jahren mehrere BGH-Entscheidungen gefunden, die ähnliche Defizite zeigen. Es sind durchweg Entscheidungen über gewichtige Verfahrensfragen.[25] Dass die Auswahl rein statistisch gese-
hen nicht repräsentativ ist, spielt keine Rolle. In den nachfolgenden weiteren Beispielen geht es mir in erster Linie darum, die "Methode" der Strafsenate zu erhellen.
Der BGH hat in den letzten 15 bis 20 Jahren die Anforderungen an das Vorliegen eines Beweisantrags ständig verschärft: Zunächst forderten die Entscheidungen BGHSt 39, 251, 254 und BGHSt 40, 3, 6 vom Antragsteller Angaben dazu, welche eigene Wahrnehmung der Zeuge bekunden soll. Als Begründung für dieses Antragserfordernis dient allenfalls die Erwägung, dass nur auf diese Weise eine sinnvolle Prüfung der Ablehnungsgründe möglich sei. Die Kritik im wissenschaftlichen Schrifttum hat demgegenüber mehrere gewichtige Gegenargumente ins Feld geführt. Daraufhin hat der BGH in BGHSt 43, 321, 329 f, ohne auf die Kritik einzugehen, die Anforderungen an das Vorliegen eines Beweisantrags noch einmal verschärft: Es werden auch Angaben verwandt, weshalb der Zeuge etwas bekunden kann. Diese sog. "Konnexität im weiteren Sinn" wurde im Schrifttum heftig kritisiert. Neuerdings verlangt der 5. Senat - bei fortgeschrittener Beweisaufnahme - eine "Konkretisierung der Wahrnehmungssituation" im Beweisantrag: BGHSt 52, 284. Dieses Gebot leitet er nur aus seinem sehr allgemein gehaltenen Satz ab, der für Wertungen offen ist, dem Senat es also erlaubt, die Wertung im vorliegenden Fall so vorzunehmen, dass damit das angestrebte Ergebnis "herauskommt": Dieses erschließe "sich aus dem Rechtsgrund und dem Wesen des Beweisantragsrechts von selbst". Auf eine andere Deutungsmöglichkeit des "Wesens" geht der Senat nicht ein. Für den 5. Senat gibt das Beweisantragsrecht dem Antragsteller im Ergebnis nicht mehr die Möglichkeit, eine Beweiserhebung zu erreichen, die das Gericht von Amts wegen nicht für nötig gehalten hätte. Mit dieser Folge hätte sich der Senat befassen müssen, also darlegen, dass sie entweder nicht eintreten kann oder dass sie um anderer Ziele willen - Anforderungen an den Inhalt des Beweisantrags sind zwingend notwendig - unvermeidbar ist. Die Argumentation des 5. Senats ist unvollständig und damit einseitig. Nicht behandelte Gegenargumente sind z.B.[26], dass der Unterschied zwischen der Reichweite des § 244 II StPO und dem Beweisantragsrecht eingeebnet wird und dass insgesamt die Darlegungslast, die für einen Beweisantrag gefordert wird, zu groß ist.
In BGHSt 38, 111 hatte der BGH versucht, einem "Missbrauch" des Beweisantragsrechts einen Riegel vorzuschieben: Er billigt - freilich nur für eine Extremsituation - eine Anordnung des Tatgerichts, dass der Angeklagte künftig Beweisanträge nur noch über seinen Verteidiger stellen dürfe. Diese Entscheidung wurde heftig kritisiert[27], weil ein solcher Totalentzug des Beweisantragsrechts mit der StPO nicht zu vereinbaren sei. Über zehn Jahre danach hat der BGH damit begonnen, mit anderen Mitteln das Beweisantragsrecht zu begrenzen: Es wurde - jeweils unter bestimmten Voraussetzungen - dem Tatgericht gestattet, den Verfahrensbeteiligten eine Frist für das Stellen von Beweisanträgen zu setzen. Die "Sanktionen" für eine Fristüberschreitung sind in den einzelnen Entscheidungen unterschiedlich. In BGH NJW 2005, 2466 ist von der Möglichkeit die Rede, dass das Gericht bei extremer Verfahrensverzögerung "verspätete" Beweisanträge nicht mehr durch gesonderten Beschluss, sondern erst im Urteil ablehnen dürfe. Dagegen werden im Schrifttum im Hinblick auf § 246 StPO Bedenken erhoben.[28]
Darauf geht die folgende Entscheidung des 1. Senats (BGHSt 51, 333 = BGH HRRS 2007 Nr. 602) mit keinem Wort ein. Vielmehr wird dem Tatgericht die Möglichkeit eröffnet, die verspätete Stellung eines Beweisantrags als "Indiz" für die Prozessverschleppungsabsicht zu werten. Der Senat erwägt auch, das in diesem Zusammenhang maßgebliche Kriterium der Urteilsverschleppungsabsicht restriktiver als bisher auszulegen (die zu erwartende Verzögerung müsse nicht mehr unbedingt "wesentlich" sein). Demgegenüber wurde im Schrifttum eingewandt, dass eine Befristung in diesem Zusammenhang gegen § 246 StPO verstößt[29]. Der Senat sagt zwar (nur im Ergebnis), warum diese Art von Fristsetzung nicht gegen § 246 StPO verstößt. Aber er geht dabei auf die Begründung der "Gegner" nicht ein. Vielmehr redet er einfach am anderen Standpunkt vorbei und formuliert in aller Deutlichkeit: "Eine verspätete Stellung eines Beweisantrag kann allein schon für sich für Verschleppungsabsicht sprechen"[30].
Die Strafkammer hatte durch Vernehmung des Ermittlungsrichters die Aussage des Opfers in die Hauptverhandlung eingeführt und im Urteil verwertet. Dabei war der Angeklagte von dieser ermittlungsrichterlichen Vernehmung ausgeschlossen und es war ihm auch noch kein Verteidiger bestellt worden. Der 1. Senat sieht darin einen Verfahrensfehler: Das Unterlassen der rechtzeitigen Verteidigerbestellung habe das Fragerecht des Angeklagten gemäß Art. 6 Abs. 3d EMRK verletzt. Damit sei das Vernehmungsergebnis "fehlerhaft" zustande gekommen. Es wäre folgerichtig gewesen, die Frage nach einem Verwertungsverbot zu stellen und diese Frage (folgerichtig) nach dem vom BGH vor allem im 38. Band erarbeiteten Kriterium zu beantworten. Dies hat der 1. Senat unterlassen. Er hat vielmehr umgehend und ohne Umschweife dekretiert: Das "Versäumnis" (so wird der Verfahrensfehler verharmlosend genannt) "mindert den Beweiswert". Dem sei entsprechend den in BGHSt 17,
382 aufgestellten Grundsätzen durch eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung Rechnung zu tragen. Diese "Beweiswürdigungs-Lösung" sei "sachgerechter" als ein Verwertungsverbot; dieses hatte der Senat - und dies wiederholt - von vornherein ausgeklammert. Es ist offensichtlich, dass der Senat das Bestreben hatte, die Verwertbarkeit zu erhalten. Man höre jedoch, wie der eingangs zitierte Nack - im Anschluss an seinen "Wunsch", dass die Probleme vorher wissenschaftlich aufgearbeitet seien - einige Jahre später die Situation geschildert hat: "Der Senat hat sich beim ... für die Beweiswürdigungs-Lösung entschieden, verbunden mit einer frühzeitigen Verteidigerbestellung. Hinterher wurden wir heftig kritisiert, dass wir kein Verwertungsverbot angenommen hatten, obwohl wir auch das in Erwägung gezogen hatten. Aber für uns war die Materie neu; wir konnten auf keinerlei wissenschaftliche Arbeiten zurückgreifen"[31] .
Die Verantwortung wurde also abenteuerlicherweise der Wissenschaft zugeschoben, offenbar weil sie sich vorher nicht um diese Probleme gekümmert habe. Hier wird vieles auf den Kopf gestellt: Ein Strafsenat des BGH braucht zunächst einmal keine wissenschaftlichen Vorarbeiten, um zu erkennen, dass er seine eigenen Maßstäbe beachten muss. Denn die "Materie" war keineswegs "neu". Neu war nur die Beweiswürdigungs-Lösung, die aber so schnell und einfach einem Prozesswissenschaftler nicht eingefallen wäre. Vor allem wäre der Senat durch eine Befürwortung des Verwertungsverbots nicht zu beeindrucken gewesen: Er wollte das nicht, weil es nicht "sachgerecht" war. Durchgesetzt hat sich damit eine konturenlose Einzelfalljudikatur.
Die Entscheidung des 1. Senats wird im Schrifttum heftig kritisiert. Darauf hätte der BGH in der Folgezeit reagieren können. Hier fand jedoch das von Nack gewünschte "Zurückgreifen" nicht statt. Als in einer späteren Entscheidung (BGHSt 49, 112, 118 ff. = BGH HRRS 2004 Nr. 200) ebenfalls eine "Beweiswürdigungs-Lösung" entwickelt wurde, dienten dem BGHSt 17, 82 und 46, 93 ganz selbstverständlich als Stütze, ohne dass die Kritik an diesen Entscheidungen irgendwie erwähnt worden wäre. Wenn der BGH danach strebt, durch pragmatische Maßstäbe ("sachgerecht", Vermeiden des Prinzips "alles oder nichts") Verwertungsverbote oder eine Verfahrenseinstellung zu vermeiden, dann lässt er sich, durch wissenschaftliche Äußerungen gerade nicht beeindrucken.
Der 4. Senat hat in BGHSt 41, 30, 34 unter Umgehung der Gegenargumente entschieden, dass das Gericht der Hauptverhandlung nur beschränkt die Rechtmäßigkeit einer ermittlungsrichterlichen Anordnung gemäß § 100a StPO nachprüfen dürfe. Diese Entscheidung ist umgehend heftig kritisiert worden[32]. Eine spätere Entscheidung des 1. Senats (BGHSt 47, 367) bleibt jedoch auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung, ohne dass die Kritik in irgendeiner Weise erwähnt werde. Nur ein einziger lapidarer Satz fällt: "Hieran ist trotz teilweise kritischer Stimmen im Schrifttum festzuhalten (vgl. etwa Bernsmann NStZ 1995, 512; Störmer StV 1995, 653)"[33]. Vier Jahre später knüpft der 1. Senat in BGHSt 51, 1 an diese beiden Entscheidungen an, ohne irgendwelche Bedenken zu erwähnen.[34] Er weicht sogar - ebenfalls ohne Argumentation - in einem wesentlichen Punkt von BGHSt 47, 367 zulasten des Angeklagten ab (gerade keine Verpflichtung zur Überprüfung). Auch die Entscheidung BGHSt 51, 1 leidet an einer außerordentlich lückenhaften Argumentation. Es fehlt vor allem eine Auseinandersetzung mit den Gründen, die im Schrifttum für die volle Nachprüfbarkeit vorgebracht worden sind.[35]
Der BGH hatte erstmals die Frage verbindlich zu entscheiden, ob der Verstoß gegen die Benachrichtungspflicht aus § 168c V 1 StPO zu einem Verwertungsverbot hinsichtlich eines Mitbeschuldigten führt. Der 1. Senat verneint dies. Es gelingt ihm aber nicht, dieses offensichtlich erwünschte Ergebnis zu begründen. Seine eigenen recht dünnen Begründungsbemühungen liegen neben der Sache (was immer ein Indiz dafür ist, dass sich ein Ergebnis nicht begründen lässt). Den klar begründeten Gegenstandpunkt referiert er zwar, er macht aber keine Anstalten, auf diese Gründe einzugehen.[36] Auch das ist ein Argumentationsfehler.
Ergebnis: Die von mir ausgewählten Entscheidungen zeigen Argumentationsdefizite in unterschiedlichen Erscheinungsformen:
Vor diesem Hintergrund lautet die Kernfrage meiner Ausführungen: Muss ein Strafsenat in seiner Urteilsbegründung sich mit wesentlichen Gegenargumenten befassen, bevor er ein Ergebnis formuliert oder darf er sich auch so rudimentär äußern, wie wir dies an den Beispielen erlebt haben? Die Frage, ob ein Strafsenat in seinen Entscheidungsbegründungen argumentativen Zwängen, wie sie beispielhaft herausgearbeitet wurden, unterliegt, ist bisher im strafprozessualen Schrifttum in dieser Konkretheit nicht gestellt worden.[38] Das Gesetz schweigt: In den Vorschriften über die Revision findet sich keine Norm, welche den gedanklichen Inhalt einer Entscheidungsbegründung näher regelt.[39]
Die allgemeine Vorschrift des § 34 StPO nimmt sogar die Entscheidungen, die nicht mehr durch ein Rechtsmittel angegriffen werden können, von der Begründungspflicht von vornherein aus. § 267 StPO ist auf eine revisionsgerichtliche Entscheidung nicht anwendbar. Diese Vorschrift zeigt im Übrigen, dass der Gesetzgeber der StPO insgesamt von einer Entscheidungsbegründung nicht sehr viel gehalten hat. Die eben skizzierte normative Situation besteht seit 1879 unverändert. Sie wurzelt noch im Kaiserreich[40].
Was die tatrichterliche Ebene betrifft, so hat die Rechtsprechung vor allem des BGH in den letzten Jahrzehnten den dogmatischen Irrtum des historischen Gesetzgebers korrigiert: Der Tatrichter ist nach neuerer Erkenntnis keineswegs "frei" in der Überzeugungsbildung, so dass insoweit die enge Begrenzung des § 267 I StPO (Herausnahme der Beweiswürdigung aus der Darstellungspflicht) nicht berechtigt ist.[41] Die tatrichterliche Überzeugungsbildung hat ihrer erkenntnistheoretischen Struktur nach eine rational-objektive Grundlage, die einer kritischer intersubjektiven Diskussion standhalten muss.[42] Das bedeutet, dass der Tatrichter durchaus begründen kann und muss, auf welcher Beweisgrundlage er mit welcher Würdigung zu den subsumtionsrelevanten Feststellungen gelangt ist. Seine Schlussfolgerungen müssen argumentativ einwandfrei, d.h. lückenlos nachvollziehbar sein. Wenn der Tatrichter sich für eine Deutungsmöglichkeit entscheidet, muss er zuvor nahe liegende andere Deutungsmöglichkeiten gewürdigt und ausgeschlossen haben. Das Revisionsgericht prüft, ob der Tatrichter seinen Begründungsverpflichtungen nachgekommen ist. In der Praxis ist dies Teil einer sachlich-rechtlichen Urteilsüberprüfung.
Die Beseitigung des speziell mit § 34 StPO verbundenen historischen Irrtums steht dagegen noch aus. Der Gesetzgeber war offensichtlich der Auffassung, dass eine Entscheidungsbegründung dann nicht nötig ist, wenn es sich um eine letztinstanzliche Entscheidung handelt. Von daher gesehen war es folgerichtig, keinerlei Anforderungen an die Gestaltung der revisionsgerichtlichen Entscheidungsbegründung zu stellen. Denn sie hätte keine Kontrollfunktion. Dies jedoch ändert nichts daran, dass eine revisionsgerichtliche Entscheidungsbegründung weitere wichtige Funktionen [43] zu erfüllen hat:
Diese Funktionen werden von Bedeutung sein, wenn abschließend in der gebotenen Kürze versucht werden soll, die Struktur der revisionsgerichtlichen Entscheidungsbegründung zu eruieren.
Kann man denn überhaupt herleiten, dass der Revisionsrichter verpflichtet ist, in seiner Entscheidungsbegründung Gegenargumente auszugreifen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen? Insoweit ist sich das (reichhaltig vorhandene) erkenntnis- und rechtstheoretische Schrifttum - trotz aller Unterschiede in der theoretischen Grundlegung[44] - eigentlich einig. Eine richterliche Entscheidung, also auch eine revisionsgerichtliche Entscheidung, ist nicht nur ein Hoheitsakt, sondern auch ein Erkenntnis,[45] das den allgemeinen erkenntnistheoretischen Regeln unterliegt. Diese allgemeinen Strukturen der Erkenntnisgewinnung und ‑begründung zeigen sich auch im Urteil. So hat sich etwa aus einer philosophischen Argumentationstheorie eine juristische Argumentationstheorie entwickelt.[46]
Von diesem Grundansatz her müsste nun eigentlich über mehrere Ableitungsstufen ermittelt werden, welche
Auswirkungen sich für die revisionsgerichtliche Entscheidungsbegründung ergeben. Es gibt jedoch kaum entsprechende Vorarbeiten. Nur soviel: Die Entscheidungsbegründung hat die Aufgabe, die Richtigkeit des gefundenen Ergebnisses im Sinne einer Übereinstimmung mit Gesetz und Recht dadurch nachzuweisen, dass sie einen rational nachvollziehbaren Begründungszusammenhang aufweist.[47] Die Argumentation muss so geschlossen sein, dass kein Zwischenglied der Gedankenkette fehlt, weil dann die unerlässliche intersubjektive Nachprüfbarkeit nicht mehr möglich ist. Wenn sich an einer Stelle eine argumentative Alternative zeigt, muss der Richter begründen, warum er sich für die eine und nicht für die andere Alternative entschieden hat. Denn zur Geschlossenheit der Argumentation gehört auch, dass die Begründungsarbeit endgültig ist, also keine Frage mehr offen bleibt.[48] Gegenargumente sind zu widerlegen oder in den eigenen Ableitungszusammenhang zu integrieren.[49] Solange noch mehrere Auslegungsantworten angeboten werden, kann jede Antwort richtig sein (man weiß das im Voraus nicht). Es ist daher erkenntnistheoretisch unzulässig, dass der Revisionsrichter unreflektiert im direkten Zugriff sich für eine Möglichkeit entscheidet, und alle anderen unbesehen wegläßt. Vielmehr muss durch rationales Argumentieren dargelegt werden, welche die richtige ist. Damit wird auch deutlich, dass diese Struktur des revisionsgerichtlichen Begründens der Struktur des tatrichterlichen Begründens wesensmäßig gleicht.
Wie steht es nun mit der normativen Verankerung dieser allgemeinen rechtstheoretischen Bedingungen? Diskutiert wird, dass sich die Notwendigkeit einer vollständigen, lückenlosen, logisch rationalen Argumentation aus dem Grundgesetz ergeben könnte: Art. 20 III, 97 I GG.[50] Die Einbeziehung des Art. 97 I wirkt plausibel: Da der Richter an Recht und Gesetz gebunden ist, hat er in der Entscheidungsbegründung jeweils nachzuweisen, dass er sich mit seiner Entscheidung noch innerhalb der Gesetzesbindung bewegt. Mittels lückenloser Argumentation muss er die Legitimation, die ihm das Gesetz gibt auf seine Entscheidung übertragen können.[51] Ob dann, wenn der Revisionsrichter in seiner Entscheidungsbegründung ein Gegenargument nicht behandelt, bereits als Verstoß gegen Art. 97 I, 20 III GG gewertet werden könnte, soll hier nicht vertieft werden. Hier gibt es noch wissenschaftlichen Nachholbedarf.
Die frühere Auffassung, der vor allem noch das Reichsgericht gefolgt ist,[52] ist nach alledem eindeutig widerlegt. Das Revisionsgericht ist nicht berechtigt, sich ausschließlich auf die Gründe für seine eigene Auffassung zu beschränken und jegliche Gegenauffassung außen vor zu lassen.
Andernfalls könnte die Entscheidungsbegründung die oben behandelten weiteren wichtigen Funktionen der Begründung nicht erfüllen. Sie betreffen vor allem die vom BGH besonders wahrzunehmenden Aufgaben der Rechtsvereinheitlichung und Rechtsfortbildung. Wenn etwa eine Entscheidung wegen einer Argumentationslücke später immer wieder in Frage gestellt werden kann,[53] so kann sie für spätere Verfahren keine solide Grundlage bilden.
Nach alldem ist das Revisionsgericht verpflichtet, in der Urteilsbegründung sich mit wesentlichen Argumenten und Gegenargumenten zu befassen. Das ergibt sich aus erkenntnistheoretischen Grundeinsichten. Auch wenn noch offen ist, inwieweit verfassungsrechtliche Verpflichtungen dahinter stehen: Es ist auf jeden Fall eine Frage der Prozesskultur, dass der BGH - vor allem im Strafverfahrensrecht - seine restriktive Begründungshaltung ändert.
Ich fasse zusammen: Die Frage der Begründungspflicht bei revisionsgerichtlichen Entscheidungen ist neu zu stellen. Die Notwendigkeit einer Begründung entfällt nicht etwa deswegen, weil gegen revisionsgerichtliche Entscheidungen kein ordentliches Rechtsmittel mehr möglich ist.[54] § 34 StPO ist antiquiert, genauso das Schweigen der StPO zum Inhalt von revisionsgerichtlichen Entscheidungen und die Formulierungen in der Geschäftsordnung des BGH. Wie die zitierten Äußerungen von 1954 zeigen, ist die Begründungsproblematik noch nicht in der Welt des demokratischen Rechtsstaates angekommen.
Dabei ist die rechtstheoretische Struktur des Begründungsvorganges inzwischen offengelegt. Aus ihr ergibt sich im Einzelfall die Notwendigkeit einer konkreten Begründung: Wenn es um das Verständnis einer Norm oder eines Verfahrensgrundsatzes geht, darf sich das Revisionsgericht nicht damit begnügen, einer Auffassung zu folgen und andere (gegenteilige) Argumente zu ignorieren. Es besteht eine Verpflichtung zur Argumentation: Nur diejenige Rechtsauffassung darf die "richtige" Grundlage für die Rechtsanwendung bilden, die sich argumentativ gegen andere behauptet hat.
Eine solche Begründungsverpflichtung muss natürlich auch praktisch handhabbar bleiben. Angesichts der Vielzahl und Vielfalt von wissenschaftlichen Äußerungen ist es unmöglich zu verlangen, dass die Argumentation des Revisionsgerichts bis in alle Verästelungen hinein erfolgt. Es muss nach der Bedeutung der Argumente und der Bedeutung der Argumentationsträger gewichtet werden.[55] Dabei hat der Revisionsrichter einen Spielraum, genauso wie der Wissenschaftler im wissenschaftlichen
Diskurs einen Spielraum hat, wenn er den einen Autor zitiert, den anderen nicht.
Sodann darf die Verpflichtung zur Argumentation nicht zu noch längeren Revisionsurteilen führen. Wie neuere Untersuchungen zeigen,[56] sind bei Revisionsurteilen generell noch Verschlankungs- und Konzentrationsmöglichkeiten vorhanden. Zu denken ist vor allem an den verschwenderischen Umgang mit obiter dicta.
Die Klage darüber, dass die Entscheidungen der Strafsenate immer länger geworden[57] sind, darf nicht verhindern, dass die notwendigen inhaltlichen Begründungserweiterungen vorgenommen werden. Ganz verheerend wirkt es sich aus, wenn nostalgisch an die guten alten Zeiten des Reichsgerichts erinnert wird[58]. Denn die damals praktizierte Kürze war der Stil des Wilhelminischen Herrschaftsstaates.
Es wäre gefährlich, bei der alten revisionsgerichtlichen Praxis zu bleiben. Wenn die Entscheidungsbegründung keine Struktur mehr hat, dann besteht die Gefahr, dass das Revisionsgericht von vorn herein Einzelfallentscheidungen anstrebt,[59] die sich auch nachträglich einer strukturellen Einbindung entziehen. Unter den vorstehend ausgewerteten Entscheidungen sind einige, die nicht begründbar sind[60] - deswegen wohl auch keine Begründung haben. Sie haben keine demokratische Legitimität, sind also bloße "Machtsprüche". Diese verleihen den Strafsenaten des BGH nicht die argumentative "Autorität", die allein in der Lage wäre, die Autorität der Strafprozesswissenschaft in Frage zu stellen.
* Der nachfolgende Text entspricht im Wesentlichen dem Vortrag, den der Verf. am 26.02.2010 auf dem 34. Strafverteidigertag in Hamburg gehalten hat.
[1] Vgl. z.B. aus neuerer Zeit die Abhandlungen von Erb ZStW 113 (2001), 1; Fischer, Hamm-FS, 2008, S. 63 ff; Radtke ZStW 119 (2007), 69. Auch auf der Strafrechtslehrertagung 2009 befassten sich zwei Referate mit diesem Thema: Kindhäuser ZStW 122 (2010), 954; Landau ZStW 122 (2010), 965. Insgesamt ist zu diesen Publikationen zu sagen, dass überwiegend die Perspektive der Anwendung des materiellen Strafrechts maßgebend ist. Die Anwendung des Prozessrechts wird allenfalls nebenbei miteinbezogen.
[2] Erb ZStW 113 (2001), 1, 3.
[3] Fischer (Fn. 1) formulierte sogar (im Titel seines Beitrags): "Fremde seltsame Welten".
[4] Fischer (Fn. 1), S. 65, 75.
[5] Fischer (Fn. 1), S. 81.
[6] Erb ZStW 113 (2001), 1, 9; vgl. Radtke ZStW 119 (2007), 134.
[7] Nack, in: Jahn, Nack (Hrsg.), Strafprozessrechtspraxis und Rechtswissenschaft - getrennte Welten? - Referate und Diskussionen auf dem 1. Karsruher Strafrechtsdialog 2007, 2008, S. 3.
[8] S. Fn. 7.
[9] Jahn, Nack (Hrsg.), Rechtsprechung, Gesetzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht? Referate und Diskussionen auf dem 2. Karlsruher Strafrechtsdialog 2009, 2010.
[10] Binding ZStW 1 (1880), 4 ff., 29.
[11] Vgl. dazu zusammenfassend Fezer NStZ 2010, 177; neuerdings auch Murmann ZIS 2009, 526.
[12] Fischer (Fn. 1), S. 76.
[13] Fischer (Fn. 1), S. 77.
[14] BGHSt 38, 214, 218.
[15] BGHSt 38, 214, 228
[16] Die zitierten Entscheidungen BGHSt 1, 284; 9, 24; 31, 140 enthalten jeweils keine Begründung, sondern nur einen Behauptungssatz.
[17] Vgl. auch Tepperwien, Widmaier-FS, 2009, S. 589, 590.
[18] Der einzige Begründungssatz bezieht sich auf § 257 StPO: "Der Senat hält an dem durch § 257 StPO bestimmten Zeitpunkt fest, zu dem der Widerspruch vor dem Tatrichter spätestens erklärt werden muss. Er dient der gebotenen Verfahrensförderung ...".
[19] Zur Kritik an der BGH-Rechtsprechung vgl. die Nachweise bei Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl., 2009, § 136 Rn. 25.
[20] Die wenigen Zeilen auf S. 275 haben mit der eigentlichen Problematik nichts zu tun.
[21] BGH 1 StR 691/08 vom 17.2.08, S. 6 = BGHSt 53, 191 = BGH HRRS 2009 Nr. 315.
[22] Fischer (Fn. 1), S. 66 zieht dies leider ins Lächerliche.
[23] Vgl. z.B. zusf. L/R-Gleß, 26. Aufl., 2007 § 136 Rn. 82 ff.
[24] Diese Frage betrifft nur revisionsgerichtliche Urteile (also nicht die Beschlussverwerfung gem. § 349 II StPO, weil hier die Rechtsprechung überhaupt keine Begründung verlangt), ferner Beschlüsse in Vorlegungssachen gem. §§ 121 II, 132 GVG.
[25] Im Bereich des materiellen Rechts erscheint die Bereitschaft der Senate, wissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen, etwas größer zu sein als im Bereich des Prozessrechts (so auch die Beobachtung von Roxin in: Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende - Sinn und Ausblick, hrsg. von Eser, Hassemer und Burkhardt (2000), S. 269, 384).
[26] Vgl. dazu ausf. Fezer HRRS 2008, 457.
[27] Nachweise bei Meyer-Goßner (Fn. 19), § 244 Rn. 69a.
[28] Nachweise bei Meyer-Goßner (Fn. 19), § 244 Rn. 69b.
[29] Sehr gründliche Überlegungen - direkt zu BGHSt 51, 333 - bei Tepperwien, Widmaier-FS, S. 583, 589: "Grundaussage des § 246 StPO unterlaufen".
[30] BGHSt 52, 355, 362 = BGH HRRS 2008 Nr. 1150.
[31] Nack in: Strafrechtspraxis und Rechtswissenschaft (Fn. 7), S. 3.
[32] Nachweise bei Meyer-Goßner (Fn. 19), § 100a Rn. 39.
[33] BGHSt 47, 367. - Dass es über die beiden zitierten Autoren Bernsmann und Störmer hinaus noch weitere Kritik an diesen Entscheidungen gab, verschweigt der Senat.
[34] Der Senat schreibt nur noch: "Nach Maßgabe der Rechtsprechung (vgl. BGHSt 41, 30, 33 f.; 47, 362, 365 f; 48, 240, 248) geprüft" (BGHSt 51, 1, 6).
[35] Vgl. dazu im Einzelnen (u.m.w.N.) Fezer HRRS 2006, 239; Tepperwien, Widmaier-FS, S. 592.
[36] Vgl. dazu im Einzelnen Weßlau NStZ 2010, 41; Fezer NStZ 2009, 524.
[37] In BGHSt 52, 165, 169 Rn. 7 vertritt der 3. Senat die Auffassung, dass eine Verständigung über eine Verhängung einer Jugendstrafe nicht unzulässig sei und setzt dann in Klammern hinzu: "zu den Bedenken vgl. BGH ...". Dazu wird dann weiter nichts gesagt. - In BGHSt 52, 172 Rn. 14 heißt es: "zu den Bedenken einer Beteiligung der Staatsanwaltschaft an einer Verfahrensabsprache vgl. BGHSt ....".
[38] Selbstverständlich gibt es Entscheidungen, die sorgfältig, auch unter Hinweis auf das wissenschaftliche Schrifttum, begründet sind, vgl. nur BGHSt 49, 347; 49, 29; 51, 325, 332; 51, 88.
[39] Kommentare und Lehrbücher machen zum Begründungsinhalt keine Ausführungen.
[40] Dies gilt auch für den immer noch gültigen § 13 I der Geschäftsordnung des BGH von 1952 (BAnz Nr. 83, 1952, S. 9), der an den Begründungsinhalt ebenfalls keine großen Ansprüche stellt: "Tatbestand und Entscheidungsgründe sind klar und möglichst kurz abzufassen. Sie sollen sich auf das Wesentliche und auf den Gegenstand der Entscheidung beschränken...". In der Geschäftsordnung des Reichsgerichts ist noch strenger von "bündiger Kürze unter strenger Beschränkung auf den Gegenstand" die Rede.
[41] Das ist inzwischen unbestritten und bedarf keiner besonderen Rechtfertigung; vgl. nur Frisch, Fezer-FS, 2008, S. 375 ff.; Wagner ZStW 106 (1994), 272 ff. (verfassungsrechtliche Verankerung dieser Begründungspflicht des Tatrichters).
[42] Dazu näher Schlüter, Das Obiter dictum (1973), S. 97 ff.
[43] Zur Kontrollfunktion der Begründung vgl. näher Schlüter (Fn. 42), S. 94 ff; Simon, Gesetzesauslegung im Strafrecht (2005), S. 32 f; SK-StPO-Weßlau, 35. Aufbau-Lfg. (Januar 2004), § 34 Rn. 1 f.
[44] Vgl. dazu zusf. Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung (1999), S. 20 ff.
[45] Zutreffend Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht (1971), S. 45 ff, 63, 136.
[46] Dazu Kudlich/Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen (2009), S. 88.
[47] Vgl. Schlüter (Fn. 42), S. 97; Brüggemann (Fn. 45), S. 161 ff.
[48] Vgl. näher Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 348, 359.
[49] Vgl. Kudlich/Christensen, Methodik (Fn. 46), S. 86.
[50] Vgl. z.B. Brink (Fn. 44), S. 259 f.; Kudlich/Christensen, Methodik (Fn. 46), S. 5, 45 f.; Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung: Vom vertikalen zum horizontalen Verständnis (2008), S. 177 ff, 182 ff.
[51] Dazu näher Christensen/Kudlich, Gesetzesbindung (50), S. 180 ff.
[52] Vgl. dazu auch Jescheck GA 1954, 322, 323, der darauf hinweist, dass das Reichsgericht selten mehr getan hat, als zur Begründung der eigenen Ansicht unbedingt notwendig war.
[53] Kudlich/Christensen, Methodik (Fn. 46), S. 86.
[54] Vgl. auch SK-StPO-Weßlau (Fn. 43) § 34 Rn. 2; SK-StPO-Wohlers 33. Aufbau-Lfg. (Sept. 2003), § 349 Rn. 8, 56.
[55] Dazu Schlüter (Fn. 42), S. 99.
[56] Simon (Fn. 43), S. 31 ff.
[57] Simon (o.Fn. 43), S. 35 f.
[58] Wie etwa noch Weinkauff DRiZ 1954, 251, 252. Zur Rechtsprechung des Reichsgerichts schreibt er (als 1. Präsident des BGH!): "Man spürt deutlich, wie sich seine Rechtsprechung im Laufe der Zeit immer stärker von der anfänglichen strengeren Bindung an das Wort des Gesetzes und von der formalen Herrschaft der Rechtsbegriffe löste und zu einer immer freieren, unbefangeneren und sicheren Betrachtung und Entscheidung des Einzelfalles fortschritt, die geleitet war von den herrschenden Wertvorstellungen des Gesetzes, von Treu und Glauben, von Billigkeit und Gerechtigkeit, von der schiedsrichterlichen Schlichtung der Interessengegensätze, kurz von der sicheren Kunst des erfahrenen Richters. Man spürt deutlich, wie es dieser Rechtsprechung immer mehr gelang, in der Ausführung der Lücken und Generalklauseln der Gesetze ein klares, schmiegsames und wirkungsvolles richterliches Billigkeitsrecht zu schaffen, wie sie trotz ihrer engen Bindung an das qualifizierte Recht immer mehr vermochte, rechtsschöpferisch zu wirken". Dahin wollen wir auf keinen Fall zurück!
[59] Die Tendenz zur "Einzelfallbeurteilung" begrüßt jetzt auch Fischer (Fn. 1), S. 78 ausdrücklich.
[60] Dies gilt vor allem für BGHSt 46, 93.