HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2008
9. Jahrgang
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Verfahrensdokumentation

Abweichende Meinung des Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Winfried Hassemer zur "Inzest-Entscheidung" des Zweiten Senats des BVerfG vom 13. März 2008 (BVerfG HRRS 2008 Nr. 260)

Ich kann die Entscheidung, § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB genüge den Voraussetzungen, die das Grundgesetz an einen Straftatbestand stellt, nicht mittragen. Die Norm steht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der gerade dem Strafgesetzgeber Grenzen zieht, nicht in Einklang; eine so verunglückte Strafdrohung passieren zu lassen, segnet schwere Fehler und Versäumnisse des Gesetzgebers verfassungsrechtlich ab und überdehnt den legislativen Spielraum im Strafrecht auf Kosten der Kontrollkompetenz des Verfassungsgerichts.

Die Norm verfolgt schon kein Regelungsziel, das in sich widerspruchsfrei und mit der tatbestandlichen Fassung vereinbar wäre (I.). Für die Ziele, die man dem Tatbestand heute unterlegt, bietet § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB keinen geeigneten Weg (II.). Es gibt mildere, und überdies besser geeignete, Instrumente als die Strafdrohung (III.), und die Vorschrift ordnet übermäßig belastende Rechtsfolgen an (IV.).

I.

1. Strafrechtliche Eingriffe wiegen besonders schwer. Sie führen die schärfste Waffe, die dem Gesetzgeber zur Verfügung steht (vgl. BVerfGE 39, 1, 45). Mit der Strafe wird dem Verurteilten ein rechtswidriges sozialethisches Fehlverhalten vorgeworfen (vgl. BVerfGE 95, 96, 140), ihn trifft, über die sonstige Beeinträchtigung seiner Grundrechte in Strafdrohung, Strafverfahren und Strafvollzug hinaus, ein sozialethisches Unwerturteil (vgl. BVerfGE 96, 10, 25). Dem trägt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, im Einklang mit der Strafrechtslehre, seit jeher Rechnung:

a) Der Strafgesetzgeber ist in der Wahl der Anlässe und der Ziele seines Handelns nicht frei; er ist beschränkt auf den Schutz elementarer Werte des Gemeinschaftslebens (vgl. BVerfGE 27, 18, 29; 39, 1, 46; 45, 187, 253), auf die Sicherung der Grundlagen einer geordneten Gesellschaft (vgl. BVerfGE 88, 203, 257) und die Bewahrung wichtiger Gemeinschaftsbelange (BVerfGE 90, 145, 184). Danach muss eine Strafnorm nicht nur ein legitimes Ziel der Allgemeinheit verfolgen, das Grund und Rechtfertigung für die strafgesetzliche Einschränkung der bürgerlichen Freiheit ist. Es muss sich zudem um einen wichtigen Belang, um einen elementaren Wert, um eine Grundlage unseres Zusammenlebens handeln.

b) Die verfassungsrechtlichen Schranken der Strafgesetzgebung wirken auch auf die Wahl und den Einsatz der strafrechtlichen Instrumente. Strafrecht ist ultima ratio, ist das letzte verfügbare Mittel, um einen Belang der Allgemeinheit zu schützen, und kommt deshalb nur in Betracht, wenn das inkriminierte Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das Zusammenleben der Menschen unerträglich, wenn seine Verhinderung besonders dringlich ist (vgl. BVerfGE 88, 203, 257 f.).

c) Über Anlässe, Ziele und Instrumente strafrechtlicher Gebote und Verbote hat jeweils der Strafgesetzgeber zu bestimmen. Das schränkt die Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts ein. Das Gericht prüft nicht, ob der Gesetzgeber im Einzelnen die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat; es wacht aber darüber, dass die Entscheidung des Gesetzgebers materiell im Einklang mit der verfassungsrechtlichen Wertordnung steht und auch den ungeschriebenen

Verfassungsgrundsätzen und Grundentscheidungen des Grundgesetzes entspricht (vgl. BVerfGE 27, 18, 30; 37, 201, 212).

d) Unverzichtbarer Bestandteil der Entscheidung des Gesetzgebers ist jedenfalls Klarheit über die Ziele, die er mit seiner Regelung verfolgt. Der Gesetzgeber darf es nicht der Rechtspraxis oder der Rechtswissenschaft überlassen, seiner Strafnorm einen Zweck nachträglich zu unterlegen. Das ist unter anderem darin begründet, dass die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Norm ohne Klarheit über den Zweck der Norm nicht gelinge, ja dass sie schon gar nicht methodengerecht durchgeführt werden kann. Was geeignet, erforderlich und angemessen ist, steht in unaufhebbarer Beziehung zu dem, was mit welchen Mitteln erreicht werden soll. Der Zweck einer Norm ist notwendiger Bezugspunkt ihres Maßes, und das Maß ändert sich mit dem Zweck.

So ist beispielsweise die Entscheidung des Gesetzgebers, die Strafbarkeit des Geschwisterinzests auf den Beischlaf zu beschränken und andere sexuelle Handlungen straflos zu lassen, möglicherweise geeignet, um der Gefahr der Fortpflanzung zu begegnen, eher nicht geeignet zur Sicherung der sexuellen Selbstbestimmung und sicherlich ungeeignet zum Schutz von Ehe und Familie. Das ist in der strafrechtlichen Rechtsgutslehre, die der Senat nur mit spitzen Fingern anfasst, seit langem ausgearbeitet. Eine nachträgliche Unterlegung eines Normzwecks, den der Gesetzgeber nicht verfolgt hat, verändert die Koordinaten der Verhältnismäßigkeit, ihre Konturen und Inhalte.

2. Mit diesen Grundanforderungen an Beschränkung und Klarheit verträgt es sich nicht, wenn die Senatsmehrheit § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB in der "Zusammenfassung nachvollziehbarer Strafzwecke vor dem Hintergrund einer kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit des Inzests, wie sie auch im internationalen Recht festzustellen ist", gerechtfertigt sieht. Weder eine nebulose kulturhistorisch begründete, wirkkräftige gesellschaftliche Überzeugung (sollte sie sich wirklich auf eine Strafwürdigkeit des Inzests beziehen und nicht bloß auf seine soziale Ächtung) noch eine (im Übrigen lückenhafte und vielfach divergente) Strafbarkeit im internationalen Vergleich sind imstande, eine Strafnorm verfassungsrechtlich zu legitimieren. Die vom Senat als solche angeführten Rechtsgüter verfolgen entweder schon keinen legitimen Zweck beim Schutz unserer Gesellschaft (a) oder finden sich nicht in der konkreten Ausformung des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB wieder, der in dieser seiner Ausgestaltung jedenfalls nicht die ihm vom Senat unterlegten Zwecke verfolgt (b). Eine "strikte Wahrung" des Verhältnismäßigkeitsgebots, auf der das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung besteht (vgl. BVerfGE 27, 344, 351; 96, 56, 61), kann man diesem Inzestverbot nicht bescheinigen.

a) Eine Berücksichtigung eugenischer Gesichtspunkte ist von vornherein kein verfassungsrechtlich tragfähiger Zweck einer Strafnorm. Der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung, dem nach dem Willen des Gesetzgebers "besondere Bedeutung" zukommt (BTDrucks VI/3521, S. 18), weil erst die eugenischen Überlegungen es verständlich machten, dass schon das geltende Recht die Strafbarkeit auf die Fälle des Beischlafs beschränkt (BTDrucks VI/1552, S. 14), kommt als geschütztes Gut nicht in Betracht.

Dabei kann dahinstehen, ob es tatsächlich eine besondere Gefahr von Erbschäden bei aus Inzestverbindungen hervorgegangenen Kindern gibt. Es verbietet sich schon von Verfassungs wegen, den Schutz der Gesundheit potentieller Nachkommen zur Grundlage jedenfalls strafgesetzlicher Eingriffe zu machen. Ein Rechtsgutsträger, dessen mutmaßliche Interessen zur Rechtfertigung des Inzestverbots herangezogen werden könnten, existiert zum Zeitpunkt der Tathandlung neben dem betroffenen Geschwisterpaar nicht. Der Gedanke eines strafrechtlichen Schutzes potentieller Nachkommen vor genetischen Schäden setzt zudem die absurde Abwägung des mutmaßlichen Interesses potentiell gezeugten Nachwuchses an einem Leben mit genetischen Defekten einerseits mit einem mutmaßlichen Interesse an der eigenen Nichtexistenz andererseits voraus. Deshalb kennen wir aus guten Gründen eine Strafbarkeit des Beischlafs selbst dort nicht, wo die Wahrscheinlichkeit behinderten Nachwuchses höher ist und die erwartbaren Behinderungen massiver sind als beim Inzest.

Solche Konstruktionen sind nicht imstande, einen verfassungsrechtlich schützenswerten Zweck zu begründen. Auch lässt sich die Berücksichtigung eugenischer Gesichtspunkte nicht mit dem möglichen Argument der Belastung Dritter rechtfertigen, etwa der Familie, in die ein geschädigtes Kind hineingeboren werde, oder auch der Allgemeinheit, die zu fürsorgerischen Aufwendungen veranlasst sei. Dies liefe auf die Verneinung des Lebensrechts behinderter Kinder allein aus lebenskonträren Interessen und Fiskalbelangen anderer hinaus.

Auch die Gesundheit der Bevölkerung kommt als - abstraktes - Schutzobjekt nicht in Betracht. Anders als etwa im Betäubungsmittelstrafrecht ist schon wegen der anerkannten Seltenheit des Auftretens möglicher Erbschäden aus Geschwisterinzest weder für die Gesundheit der Bevölkerung überhaupt noch für die Gesundheit einzelner, abgrenzbarer Bevölkerungsgruppen eine nennenswerte Beeinträchtigung vorherzusagen, die Grund für eine sichernde Strafnorm gäbe.

b) § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB ist auch nicht Mittel eines Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung. Darauf hat sich noch nicht einmal der Gesetzgeber berufen (vgl. BTDrucks VI/3521, S. 17 f.), und die Senatsmehrheit musste der gesetzlichen Regelung diesen Zweck nun nachträglich unterlegen. Auch geben weder der Wortlaut der Norm noch die Gesetzessystematik Hinweise, dass der oder auch nur ein Schutzzweck der Bestimmung gerade in der Wahrung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung liegen könnte; eher widerlegen sie diese Annahme.

Der Wortlaut des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB lässt, anders als die Vorschriften zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen (§§ 174, 176 und 182 StGB), allein den Vollzug des Beischlafs zwischen Geschwistern genügen. Andere Einzelheiten des Kontakts zwischen Täter und Opfer spielen keine Rolle: weder das Alter des schutzwürdigen jüngeren Geschwister-

teils noch etwa die Abhängigkeit des Tatopfers (vgl. § 174 Abs. 1 Nr. 2 StGB), eine Zwangslage (§ 182 Abs. 1 StGB) oder die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung (vgl. § 182 Abs. 2 StGB). § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB enthält keinerlei Hinweis darauf, dass er gerade diejenigen Fälle erfassen will, die - wie sonst im Strafrecht der sexuellen Autonomie - Ausdruck einer Beeinträchtigung sexueller Selbstbestimmung sind. Man sieht auf den ersten Blick: Die Tatbestände der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 ff. StGB) benennen Indikatoren reduzierter Autonomie des Opfers und machen sie zu Voraussetzungen der Strafbarkeit; § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB ist ganz anders strukturiert und verhält sich zu solchen Indikatoren nicht.

Die Annahme der Senatsmehrheit, § 173 StGB habe "spezifische, durch die Nähe der Familie bedingte oder in der Verwandtschaft wurzelnde Abhängigkeiten und Schwierigkeiten der Einordnung und Abwehr von Übergriffen" im Blick, steht auch mit der Gesetzessystematik nicht im Einklang. Der Gesetzgeber hat sich entschieden, § 173 StGB nicht dem Abschnitt der Straftaten zuzuordnen, die den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung gewährleisten sollen, sondern vielmehr den "Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie".

Die Beschränkung der Strafbarkeit auf volljährige Geschwister macht vollends deutlich, dass der strafrechtliche Schutz der sexuellen Selbstbestimmung kein die Norm prägender Zweck sein kann. Diese Beschränkung passt nicht in die Struktur des strafgesetzlichen Systems, das diesen Schutz gewährleisten soll.

Der Strafgesetzgeber lässt, in Respekt vor der Autonomie der beteiligten Personen, den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung spätestens an der Grenze der Volljährigkeit enden. Nur in gut begründeten und klar formulierten Ausnahmefällen, wo eine Person zu selbstbestimmtem Handeln nicht fähig ist - bei der Anwendung von Zwang oder bei Widerstandsunfähigkeit -, gewährt das Strafgesetzbuch einen Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, der über die Grenze der Volljährigkeit hinaus reicht.

Diese eindeutige und auch einleuchtende Grundentscheidung des Strafgesetzgebers zu den Grenzen der Strafbarkeit lässt die Senatsmehrheit außer Betracht, wenn sie sich zur Rechtfertigung des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB auf ein von den anderen Strafnormen angeblich nicht hinreichend aufgenommenes Schutzbedürfnis derer stützt, denen es vor Erreichen der Volljährigkeit nicht gelungen sei, aus den familiären, den Missbrauch ermöglichenden Strukturen auszubrechen. Diese - im Übrigen nicht abgesicherte - Erwägung besagt nichts dafür, dass die Norm auch das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung im Blick gehabt haben könnte. Aus der Annahme, dass womöglich im zeitlichen Übergang zur Volljährigkeit die sexuelle Autonomie noch nicht vollständig ausgebildet ist, lässt sich nicht schließen, die Strafnorm habe solche Fälle gerade aus diesem Grund erfassen wollen. Genau dies aber unterstellt, wer der Norm für solche Fallkonstellationen eine "selbständige Bedeutung" beimisst, ohne sich zu fragen, ob das Gesetz "die Fortsetzung sexueller Handlungen nach Eintritt der Volljährigkeit bei nicht so deutlicher Ablehnung des nach wie vor unerwünschten Beischlafs" wirklich unter dem Aspekt des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung unter Strafe stellen wollte.

c) Das Verbot des Geschwisterinzests nach § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB findet ein mögliches Rechtsgut und seine verfassungsrechtliche Rechtfertigung auch nicht im Schutz von Ehe und Familie. Zwar hat der Gesetzgeber des Vierten Gesetzes zur Reform des Strafrechts das Inzestverbot vor allem unter dem Gesichtspunkt einer ehe- und familienzerstörenden Wirkung in Betracht gezogen; auch hat der Bundesgerichtshof als überragendes Rechtsgut des § 173 StGB den Schutz von Ehe und Familie gesehen (vgl. BGHSt 39, 326, 329). Doch lässt sich bei näherer Betrachtung der Strafnorm gegen den Geschwisterinzest nicht erkennen, dass sie tatsächlich auf den Schutz von Ehe oder Familie zugeschnitten ist.

Das Bundesverfassungsgericht hat in einer frühen Entscheidung aus dem Jahr 1973 festgestellt, dass die Verhinderung sexueller Beziehungen im Familienverband außerhalb der ehelichen Sexualbeziehung ihren guten Sinn habe, weil die lebenswichtige Funktion der Familie für die menschliche Gemeinschaft entscheidend gestört werde, wenn das verfassungsrechtliche Ordnungsgefüge durch sexuelle Beziehungen "über Kreuz" ins Wanken gerate (vgl. BVerfGE 36, 146, 167). Ob sich diese Ordnungsvorstellung von der Funktion der Familie etwa in Anbetracht des Wegfalls der Strafbarkeit des Ehebruchs, der familienschädigendes sexuelles Verhalten von Familienmitgliedern in Kauf nimmt, heute noch aufrechterhalten ließe, sei dahingestellt. Jedenfalls zielt die Strafnorm in ihrer konkreten Fassung tatsächlich nicht auf den Schutz der Familie vor sexuellen Handlungen von Geschwistern.

Unter Strafe gestellt ist lediglich der Beischlaf zwischen leiblichen Geschwistern. Ausgenommen sind alle anderen sexuellen Handlungen zwischen Bruder und Schwester. Nicht erfasst sind auch sexuelle Beziehungen zwischen gleichgeschlechtlichen Geschwistern sowie zwischen nicht leiblichen, also Stief-, Adoptions- und Pflegegeschwistern. Dies heißt, dass es diesem Tatbestand nicht um den Schutz der Familie vor sexuellen Handlungen von Geschwistern und damit möglicherweise verbundenen negativen Folgen für die Familie geht, sondern allein um die Pönalisierung des Beischlafs zwischen leiblichen Geschwistern. Wäre die Strafvorschrift wirklich auf den Schutz der Familie vor sexuellen Handlungen angelegt, so würde sie sich auf diese familienstörenden Handlungen erstrecken, sie würde sie, den üblichen Schutztechniken des Strafgesetzbuchs folgend, benennen und sie in die Voraussetzungen der Strafbarkeit einbeziehen; die punktuelle, auf den Beischlaf reduzierte, Strafdrohung widerlegt ein allgemeines Schutzinteresse.

Weiter fällt ins Gewicht, dass der Gesetzgeber nach § 173 Abs. 3 StGB eine Strafbarkeit lediglich für Geschwister ab 18 Jahren vorgesehen hat. Auch diese Einschränkung des Tatbestands verträgt sich nicht mit einem allgemeiner verstandenen Familienschutz. Dass die Tatbestandsmäßigkeit des Geschwisterinzests zwar im Mindestalter begrenzt ist, ansonsten aber keine beschränkenden Merkmale anordnet, hat zur Folge, dass das Lebensalter der Geschwister und ihre sich damit verändernde Hand-

lungs- und Entscheidungsfähigkeit für die Strafbarkeit inzestuösen Verhaltens ebenso wenig eine Rolle spielen wie etwa der Umstand, dass es eine auf engen sozialen Bindungen aufbauende funktionierende Familiengemeinschaft gar nicht gibt oder aus einer ursprünglich mit den Eltern gebildeten "Haus- und Lebensgemeinschaft" mittlerweile womöglich eine "bloße Begegnungsgemeinschaft" ohne reales "Familienleben" geworden ist (zu diesen Entwicklungslinien einer Familiengemeinschaft vgl. BVerfGE 10, 59, 66).

Nach dem klaren Wortlaut der Strafnorm kommt es auf alle diese Gesichtspunkte nicht an, obwohl die mit der inzestuösen Beziehung für die Familie womöglich einhergehenden schädlichen Auswirkungen, die der Senat ausführlich darlegt, von dem Ausmaß tatsächlich bestehender Bindung abhängen und deshalb in solchen Konstellationen geringer oder auch gar nicht mehr spürbar sein könnten. Auch dies belegt, dass die Fassung des Tatbestands mit einem Gesetzeszweck "Schutz der Familie" nicht übereinstimmt.

Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem Hinweis der Senatsmehrheit auf mögliche Rollenüberschneidungen, die sich bei Kindern aus Inzestbeziehungen ergeben könnten und die nicht dem Bild der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG entsprächen. Abgesehen davon, dass sich diese Rücksichtnahme beispielsweise auch auf uneheliche Kinder erstrecken müsste, gibt es in Zeiten zuverlässig möglicher Empfängnisverhütung, in denen der Beischlaf ohne weiteres folgenlos bleiben kann, keine greifbare Wahrscheinlichkeit mehr dafür, dass es mit der Ausübung des Beischlafs auch tatsächlich zur Zeugung von Kindern kommt. Der Gesetzgeber hat gerade keine Strafnorm geschaffen, die auf die Verhinderung der Fortpflanzung leiblicher Geschwister als rechtlich missbilligten Erfolg abstellt, sondern mit dem weiterreichenden Verbot des Beischlafs ein im Vorfeld liegendes Verhalten mit Strafe bedroht. Die Gefahr der Fortpflanzung von leiblichen Geschwistern ist aber keine mit dem Beischlaf auch nur regelmäßig eintretende negative Folge, deren mögliche Berücksichtigung durch den Gesetzgeber einen Schluss auf Familienschutz zuließe.

d) Keines der vom Senat der Vorschrift zugeschriebenen Rechtsgüter vermittelt ihr einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck. Schon der Gesetzgeber hat sich nicht klar und konsistent entscheiden können, welche Zwecke das Verbot des Geschwisterinzests verfolgen soll, und er hat sich auch nicht vergewissert, welche dieser Zwecke mit der Tatbestandsfassung übereinstimmen, ob und wie sie sich erreichen lassen. Er hat die Norm in ihren wesentlichen Teilen über Jahrzehnte hinweg bestehen lassen und sich über ihren Sinn keine oder wechselnde und immer nur ungefähre Vorstellungen gemacht. Es lässt sich nicht verlässlich feststellen, was der Gesetzgeber tatsächlich schützen wollte und schützen will, und deshalb auch nicht, ob die Norm den Erwartungen des Gesetzgebers gerecht wird.

Es spricht viel dafür, dass die Vorschrift in der bestehenden Fassung - worauf auch breite Teile der strafrechtlichen Literatur hinweisen (vgl. etwa die Nachw. bei Dippel, Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl., Rn. 4, 14) - lediglich bestehende oder auch nur vermutete Moralvorstellungen, nicht aber ein konkretes Rechtsgut im Auge hat. Schließlich hat sich der Gesetzgeber zu einer Abschaffung des Verbots von Geschwisterinzest letztlich deshalb nicht entschließen wollen, weil die Allgemeinheit darin ein Unrecht erblicke und eine Streichung der Norm das Bewusstsein von der Abnormität des Verhaltens schwächen könnte.

Der Aufbau oder der Erhalt eines gesellschaftlichen Konsenses über Wertsetzungen - hier das Verbotensein des Beischlafs zwischen Geschwistern - aber kann nicht unmittelbares Ziel einer Strafnorm sein. Dazu gibt es andere und besser geeignete Mittel im Sinne des ultima-ratio-Prinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als verfassungsrechtliche Schranken strafrechtlicher Eingriffe. Die Stärkung moralischer Vorstellungen darf allenfalls - mittelbar - erwartet werden als langfristiges Ergebnis einer gerechten, klaren, rationalen und stetigen Strafrechtspflege.

Das sieht der Senat im Grunde wohl nicht anders. Er verweist auf die aus seiner Sicht mit der Norm verfolgten Regelungszwecke und meint, eine Konstellation, in der das Strafrecht allein Moralvorstellungen schütze, liege hier nicht vor. Tatsächlich aber vermögen die von der Senatsmehrheit dargelegten Regelungszwecke einen Rechtsgüterschutz nicht zu vermitteln. So sucht der Senat seine Zuflucht in der "Gesamtheit der mit der Norm verfolgten Regelungszwecke" oder in der "Zusammenfassung nachvollziehbarer Strafzwecke". Dies macht einerseits deutlich, dass jeder einzelne Zweck, für sich genommen, offenbar auch nach Ansicht der Senatsmehrheit, als legitimes Ziel für den Gesetzgeber des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB nicht dienen kann. Es bleibt dann aber offen, warum in der Summe inhabiler, nicht ganz hinreichender, durch die konkrete Normfassung nicht fundierter und auch nicht repräsentierter Zwecke eine tragfähige Legitimation liegen soll. Schließlich macht der Senat auch kein Hehl daraus, dass er gegen den strafrechtlichen Schutz einer "kulturhistorisch begründeten gesellschaftlichen Überzeugung" von der Strafwürdigkeit des Inzests letztlich nichts einzuwenden hat. Ich halte das für den Schutz einer gesellschaftlichen Moralvorstellung.

II.

Selbst wenn man, mit dem Senat, in der Gesamtheit der mit § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB verfolgten Regelungsziele einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB sehen wollte, hätte die Norm vor der Verfassung keinen Bestand.

Die Annahme der Senatsmehrheit, der Strafbewehrung des Geschwisterinzests könne die Eignung, den erstrebten Erfolg zu fördern, nicht abgesprochen werden, lässt sich angesichts der Gesetzesfassung nicht halten. Die vom Tatbestand zur Verfügung gestellten Instrumente passen zu den genannten Zielen nicht; sie greifen einerseits zu kurz und gehen andererseits zu weit.

Selbst die Senatsmehrheit nimmt offenbar nicht an, sämtliche von ihr der Norm allgemein unterlegten Zwe-

cke seien mit diesem konkreten Straftatbestand in Übereinstimmung zu bringen. So greift sie bei Prüfung der Eignung zu einer Zielbeschreibung, die sich deutlich von den zuvor angenommenen Einzelzwecken entfernt. Vom Schutz der Familie, von der eugenischen Rechtfertigung der Strafnorm ist nur noch in verallgemeinerter Form die Rede. Angesprochen sind nun die Bewahrung des Freiraums von Kindern und Jugendlichen für eine individuell angemessene Reifung ihrer sexuellen Persönlichkeit sowie der besondere Schutz der sexuellen Selbstbestimmung von Frauen; das liegt weit auseinander. An diese mobile und vage Beschreibung möglicher Gesetzeszwecke lässt sich eine präzise und sachhaltige Prüfung der Frage, was das Gesetz wirklich will und wozu es taugt, nicht anschließen.

1. Dessen ungeachtet begegnet die Geeignetheit des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB unter mehreren Gesichtspunkten durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.

Fraglich ist schon grundsätzlich, ob Instrumente des Strafrechts geeignete Mittel sein können, um die Familie von sexuellen Handlungen freizuhalten und dadurch ihr schädliche Wirkungen auszuschließen oder entscheidend zu mindern. Man darf nicht vernachlässigen, dass Geschwisterinzest offenbar vorwiegend in sozial schwachen und bereits gestörten Familienverbänden vorkommt, wie auch das Gutachten des Max-Planck-Instituts unter B.I.3. vorträgt. Das Gutachten belegt, dass die Normadressaten für eine psychische Wirkung der Strafandrohung wenig empfänglich sind. Dieser Umstand ist bei einer Strafnorm wie dem Inzestverbot ein zentrales, und zwar negatives, Kriterium der Eignung.

Dies alleine mag - worauf auch die Senatsmehrheit hinweist - die Geeignetheit dieser Strafnorm nicht prinzipiell in Frage stellen. Es kommt aber eine andere Schwierigkeit hinzu, die der strafrechtlichen Durchsetzung des Inzestverbots im Wege steht.

Anders als etwa im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität kann beim Inzestverbot das Ziel des Strafgesetzgebers nicht die strafrechtliche Absicherung einer lückenlosen staatlichen Kontrolle sein. Schon der Umstand, dass die Pönalisierung nur einen Teilbereich des Sexualverhaltens erfasst und bei der Durchsetzung der Strafbewehrung folglich Rücksicht auf nicht strafbewehrtes sexuelles Verhalten genommen werden muss, dürfte die Steuerungsfunktion der Strafnorm entscheidend schwächen. Dies scheint die Senatsmehrheit - auch wenn sie im Rahmen der Geeignetheitsprüfung darauf nicht ausdrücklich eingeht - nicht zu übersehen, weist sie doch an anderer Stelle darauf hin, die Norm erfülle auch durch ihre Ausstrahlungswirkung über den tatbestandlich eng umgrenzten Bereich hinaus eine appellative, normstabilisierende und generalpräventive Funktion. Das wiederum ist im Strafrecht, wo es um tiefe Grundrechtseingriffe und sozialethische Werturteile zum Nachteil von Menschen geht, eine gefährliche Vorstellung: einer Norm gerade durch außerhalb ihres Anwendungsbereichs liegende Wirkungen verfassungsrechtliche Legitimation zu verschaffen.

Es kommt hinzu, dass § 173 Abs. 3 StGB einen persönlichen Strafausschließungsgrund für Geschwister vorsieht, die zur Zeit der Tat noch nicht 18 Jahre alt sind. Danach wird die Strafbewehrung des Beischlafs zwischen Geschwistern erst zu einem Zeitpunkt praktisch, da der Einfluss auf das familiäre Zusammenleben aufgrund des entwicklungspsychologischen Ablösungsprozesses der Kinder generell im Abnehmen begriffen oder schon beendet ist. Die "Familie" wird (durch Bestrafung der "Kinder") "geschützt", obwohl es sie womöglich in der Form der Haus- und Lebensgemeinschaft gar nicht mehr gibt und auch ansonsten schädliche Auswirkungen auf sie nicht mehr zu erwarten sind. Auf der anderen Seite führt der Strafausschließungsgrund für nicht volljährige Geschwister dazu, dass der strafrechtliche Schutz der Familie im traditionellen Sinn unvollständig bleibt, weil er erst zu greifen beginnt, wenn eines der Geschwister volljährig ist. Eine solche Normstruktur hat, bei aller Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers, mit dem Schutz der Familie nicht viel zu tun.

Dass die Strafbarkeit des Beischlafs von leiblichen Geschwistern zum Schutz vor familienschädlichen Wirkungen geeignet sei, wird auch durch die lückenhafte Fassung des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB in Frage gestellt. Dass - wie die Senatsmehrheit annimmt - der Beischlaf zwischen Stief-, Adoptiv- oder Pflegegeschwistern in geringerem Maße dem traditionellen Bild der Familie widerspreche, ändert nichts daran, dass sein vermutlich negativer Einfluss auf die Familie nicht anders und nicht geringer wirkt als der Einfluss des unter Strafe gestellten Verhaltens. Im Übrigen gibt es auch keine verifizierbaren Anhaltspunkte dafür, dass zwischen leiblichen Geschwistern in höherem Maße als zwischen nichtleiblichen Abhängigkeiten bestünden.

Der Straftatbestand des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB ist mit seiner Beschränkung der Strafbarkeit auf Beischlafshandlungen zwischen Geschwistern verschiedenen Geschlechts nicht in der Lage, den Schutz einer Familie vor schädlichen Einwirkungen durch sexuelle Handlungen zu gewährleisten. Er greift zu kurz, weil er gleich schädliche Verhaltensweisen nicht erfasst und zudem nichtleibliche Geschwister als mögliche Täter nicht einbezieht. Er geht zu weit, weil er Verhaltensweisen erfasst, die sich auf die Familiengemeinschaft nicht (mehr) schädlich auswirken können; das macht gerade der dem Verfahren zugrunde liegende Fall deutlich. Er verfehlt damit auch in Anbetracht des gesetzgeberischen Freiraums bei der Ausgestaltung des einfachen Rechts jeglichen möglichen Gesetzeszweck schon von vornherein.

2. Soweit man die Vorschrift im Übrigen als geeignet ansehen wollte, der Möglichkeit der Zeugung von behinderten Kindern durch leibliche Geschwister entgegenzuwirken, verfolgt sie in dieser Wirkrichtung - wie oben dargelegt - keinen verfassungsrechtlich legitimen Zweck. Aber auch die luzide Konstruktion des Tatbestands, der Tathandlungen Zeugungsunfähiger nicht straflos stellt, widerlegt eine Eignung zum Ausschluss von behinderter Nachkommenschaft schlagend; die Norm erhebt eine Strafdrohung auch dort, wo der ihr zugeschriebene Zweck aus anderen Gründen schon sicher erreicht ist.

3. Dass § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB nicht dem besonderen Schutz der sexuellen Selbstbestimmung gerade von Frauen oder von Kindern und Jugendlichen zu dienen geeig-

net ist, ergibt sich mit Blick auf die unter Strafe gestellte einzige Tathandlung ohne weiteres von selbst. Die Tathandlung weist einen Bezug auf ein solches Schutzobjekt nicht auf.

Dasselbe gilt für das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung im Allgemeinen. Der Beischlaf zwischen leiblichen Geschwistern mag reflexartig auch den einen oder anderen Fall erfassen, in dem die sexuelle Selbstbestimmung eines Beteiligten berührt ist. Die Tatbestandsfassung zielt darauf aber nicht ab, sie hat dieses Rechtsgut nicht im Programm, und der Inzest tritt in den entsprechenden Konstellationen auch hinter die Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung selbstverständlich zurück. Der Unterschied des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB zu denjenigen Normen im Strafgesetzbuch, die den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung verfolgen, ist mit einem Blick sichtbar: Die Normen stehen in unterschiedlichen und klar benannten Abschnitten im Strafgesetzbuch, und die Strafdrohungen zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung (§§ 174 ff. StGB) stellen, ganz anders als § 173 StGB, ihr Schutzziel und die Voraussetzungen der Strafbarkeit merkmalreich, subtil und komplex in einen schutztechnischen Zusammenhang.

III.

Die Annahme der Senatsmehrheit, § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB sei erforderlich, um die ihm zugeschriebenen Zwecke zu erreichen, lässt sich nicht halten. Die Strafbarkeit des Geschwisterinzests begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Verfügbarkeit anderer hoheitlicher Maßnahmen, die den Schutz der Familie in gleicher Weise oder sogar besser gewährleisten können.

Das Gutachten des Max-Planck-Instituts hat nicht nur auf eine Reihe von jugendwohlfahrtpflegerischen Maßnahmen, sondern auch auf familien- und vormundschaftsgerichtliche Lösungsmöglichkeiten hingewiesen, die sowohl für Eltern mit inzestuös verbundenen Kindern als auch für solche Kinder selbst in Betracht kommen (vgl. dort A.I.6.). Diese Mittel stehen zu einem Zeitpunkt zur Verfügung, da die Strafnorm, die sich auf minderjährige Kinder ja nicht erstreckt, noch nicht eingreifen darf. Das Spektrum der aufgezeigten Möglichkeiten, das jederzeit eine sozialpädagogische Krisenintervention erlaubt und auch zur Einleitung therapeutischer Maßnahmen führen kann (Gutachten des Max-Planck-Instituts unter B.I.8.), sorgt damit durch Verhinderung, Beseitigung und Minderung unerwünschter Übergriffe mit ihren Folgen in einem zeitlich früheren Stadium gegenüber § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB für mehr und effektiveren Kinder- und Familienschutz.

Dies gilt ungeachtet einer von der Senatsmehrheit postulierten allgemeinen generalpräventiven und normstabilisierenden Wirkung der Vorschrift, die mit ihrer Abschaffung entfallen könnte. Auch hier wirkt sich aus, dass eine Strafbarkeit ohnehin erst ab dem 19. Lebensjahr einsetzt und eine generalpräventive Wirkung deshalb allenfalls begrenzt bestehen kann. Hinzukommt, dass angesichts des Heranwachsens von Geschwistern und ihrer Ablösung aus dem Elternhaus fraglich ist, ob für den Schutz der Familie eine Strafnorm von Nöten ist, bei der es in erster Linie auf eine "appellative Wirkung" ankommen soll. Gerade wenn man, mit der Senatsmehrheit, annimmt, dass das Inzestverbot auf einer kulturhistorisch begründeten gesellschaftlichen Überzeugung ruht, wird man nicht befürchten müssen, dass mit dem Wegfall der Strafvorschrift in der Wahrnehmung der Bevölkerung eine normative "Freigabe" des Geschwisterinzests verbunden wäre.

Schließlich führt auch der Hinweis der Senatsmehrheit auf mögliche positive Wirkungen eines Strafverfahrens für Opfer nicht zu einer anderen Beurteilung; er führt vielmehr in die Irre.

Zum einen ist die Rollenverteilung von Täter und Opfer beim Geschwisterinzest, der nach § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB allein mit dem Beischlaf leiblicher Geschwister strafrechtlich vollendet ist und keine weiteren Voraussetzungen der Strafbarkeit hat, ein gefährlicher Weg in eine vorschnelle und unbegründete Zuschreibung von Verantwortlichkeit an einen der Beteiligten. Diese Rollenverteilung mag in Einzelfällen wirklich begründet sein; typisch ist sie nicht, der Geschwisterinzest ist kein Täter-Opfer-Delikt wie etwa die Vergewaltigung. Diese untypische Rollenverteilung wird überdies regelmäßig von anderen Straftatbeständen aufgefangen, etwa aus dem Katalog der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.

Zum anderen redet man leichthin von der Pflicht, eine "sekundäre Viktimisierung", die mit dem Einsatz des Strafrechts verbunden ist und ihrerseits die Rechtsgutsverletzung noch vertieft, zu verhindern. Diese Pflicht wird sich in den intimen und verletzlichen Konstellationen, mit denen § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB zu tun hat, kaum jemals wirklich erfüllen lassen. In diese Konstellationen brechen strafrechtliche Ermittlungen und Verurteilungen typischerweise massiv ein; sie richten bei den betroffenen Personen Schäden an, die dann eine intensive therapeutische Begleitung erforderlich machen (vgl. das Gutachten des Max-Planck-Instituts unter B.I.9.). Dass gerade die Verwendung strafrechtlicher Instrumente die Verletzten zusätzlich bedroht, stellt die Erforderlichkeit strafrechtlicher Intervention beim Geschwisterinzest unter einen strengen Maßstab.

IV.

Schließlich kollidiert die Strafvorschrift des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB mit dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot. Es fehlt der Norm an gesetzlichen Beschränkungen der Strafbarkeit für ein Verhalten, das keinem der möglichen Schutzzwecke gefährlich werden kann; sie ist als abstraktes Gefährdungsdelikt ausgestaltet und reicht zu weit.

1. Für den Strafzweck "Schutz der Familie" fällt ins Gewicht, dass der strafrechtliche Schutz erst zu einem Zeitpunkt einsetzt, in dem im Hinblick auf die Volljährigkeit des Täters Anhaltspunkte dafür bestehen, dass es einen konkreten Familienverband im Sinne einer Haus- und Erziehungsgemeinschaft nicht mehr gibt. Jedenfalls ein strafrechtlicher Schutz der Familie ist umso weniger

erforderlich, je weniger es Familie gibt, die einer Schädigung oder Gefährdung ausgesetzt sein könnte. Eine Strafnorm, die sich auf diesen Strafzweck stützt und sich aus ihm rechtfertigt, muss diesen Besonderheiten der Familienentwicklung Rechnung tragen. Der Strafzweck "Vermeidung genetisch bedingter Schäden" ist in all denjenigen Fällen auch ohne strafrechtliche Intervention schon gesichert, in denen wegen Zeugungsunfähigkeit oder verlässlicher Empfängnisverhütung eine Fortpflanzung ausgeschlossen ist. Schließlich wäre strafbefreiende Vorsorge zu treffen für Konstellationen, in denen ein Eingriff in das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ausgeschlossen werden kann, etwa dann, wenn zwischen den Geschwistern eine auf Dauer angelegte Beziehung besteht und deshalb auch dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit besonderes Gewicht zukommt, womöglich nach Zeugung eines Kindes sogar eine neue Familie entstanden ist, die sich ihrerseits auf den Schutz von Art. 6 Abs. 1 GG berufen kann.

2. Vorkehrungen, um diesen Fällen, die unter jeglichem möglichen Schutzzweck klar außerhalb einer Strafwürdigkeit liegen, gerecht zu werden, hat der Gesetzgeber nicht getroffen. Er war der Ansicht, dass die Strafjustiz diesen Besonderheiten durch mildernde Strafzumessung und auf prozessualem Wege begegnen könne (vgl. Deutscher Bundestag, Protokolle der Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, Bd. 1, 34. Sitzung, S. 1251 f.). Diese Schutztechnik führt am Ende zu übermäßiger Strafdrohung und ungerechter Bestrafung.

Gewiss können eine Verfahrenseinstellung nach Opportunität, ein Absehen von Strafe oder die Berücksichtigung besonderer Umstände im Rahmen der Strafzumessung im Einzelfall helfen, ein tat- und schuldangemessenes Ergebnis zu erzielen. Es ist auch - worauf die Senatsmehrheit abstellt - richtig, dass dem Übermaßverbot nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügt sein kann, wenn den Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit eröffnet ist, einem im Einzelfall geringeren Unrechts- und Schuldgehalt auf verfahrensrechtlichem Wege gerecht zu werden (vgl. BVerfGE 90, 145, 189 ff.).

Dieser Grundsatz aber reicht nicht bis in Konstellationen von Strafnormen, die von vornherein und in weitem Umfang auch Verhaltensweisen erfassen, die ohne jeden Zweifel nicht strafwürdig sind. Hier wird eine Korrektur von der Strafjustiz erwartet, die - über den jeweiligen Einzelfall hinaus - für bestimmte Falltypen tatbestandskorrigierend und strafbarkeitseinschränkend wirken soll. Eine solche Korrektur ist nicht Sache der Justiz, sondern Sache des Gesetzgebers.

Es in diesem Fall der Anschauung der Gerichte zu überlassen, ob die Fälle fehlender Strafwürdigkeit jeweils erkannt und im Sinne der Anschauung des Gesetzgebers beurteilt werden, hieße, entgegen der in Art. 103 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommenden Kompetenzverteilung, der insoweit unzuständigen Judikative die Entscheidung über das Ob der Strafbarkeit zu überlassen. In solchen Fällen ist der Gesetzgeber aufgerufen, das materielle Recht klar zu konturieren, nicht für strafwürdig erachtetes Verhalten aus dem Anwendungsbereich von vornherein auszuscheiden und sich nicht allein auf Gestaltungsmöglichkeiten des Prozessrechts zu verlassen. Dieser Weg war dem Gesetzgeber beim Geschwisterinzest nicht verschlossen; er ist ihn nur nicht gegangen.

Schon im Gesetzgebungsverfahren wurde der Fall zweier Halbgeschwister erörtert, die sich erst als Erwachsene kennen lernen und eine sexuelle Beziehung eingehen. Dieser Fall, bei dem - ähnlich der dem Verfahren zugrundeliegenden Konstellation - eine Inzestscheu nicht ausgeprägt ist und im Hinblick auf das Lebensalter und das Fehlen einer Familiengemeinschaft Gefährdungen für die ursprüngliche Familie ausgeschlossen sind, sollte nach damaliger Ansicht der Bundesregierung nicht mit einer Verurteilung, sondern mit einer Einstellung nach § 153 StPO beantwortet werden. Soweit der Gesetzgeber dann sehenden Auges in Kauf genommen hat, dass im Rahmen einer Strafvorschrift typische, nicht strafwürdige Konstellationen als strafbar erfasst werden, und die gerechte Entlastung dieser Konstellationen - über den jeweiligen Einzelfall hinaus - von der Strafjustiz erhofft, verstößt er gegen das Übermaßverbot. Dieses Verbot hätte ihn veranlassen müssen, eine differenzierende materielle Regelung zu schaffen, die typisierend nicht strafwürdige Fälle schon im Tatbestand ausscheidet. Stattdessen erfasst § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB in - auch für eine Strafrechtsnorm seltener - Eindeutigkeit jeglichen Beischlaf leiblicher Geschwister, und die Strafjustiz erfüllt ihren Auftrag durch die konsequente Anwendung dieses klaren Normprogramms.

Endlich sollte man die Übereinstimmung eines Straftatbestands mit dem Übermaßverbot nicht damit rechtfertigen, dass sie "nur einen schmalen Bereich der persönlichen Lebensführung" berühre und nur Wenige "überhaupt von dem Verbot in einer einschränkend spürbaren Weise betroffen" seien. Solche Argumente können im Strafrecht, das seit jeher in besonderer Weise auf die Person hin orientiert ist, zynisch wirken: Wer vom Inzestverbot betroffen ist, wird in einem zentralen Bereich seiner Lebensführung berührt sein, und diese Berührung kann ihn tief und langfristig treffen.

[Zur Mehrheitsauffassung des Gerichts vgl. BVerfG HRRS 2008 Nr. 260]