HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1004
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 84/16, Urteil v. 27.09.2016, HRRS 2016 Nr. 1004
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 4. Juni 2015 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit es den Angeklagten betrifft.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „gemeinschaftlich begangener gefährlicher Körperverletzung“ schuldig gesprochen, gegen ihn eine Jugendstrafe von zwei Jahren verhängt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Den Mitangeklagten L. hat das Landgericht wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit (gemeinschaftlich begangener) gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Mit ihrer auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft, dass das Landgericht einen bedingten Tötungsvorsatz des Angeklagten nicht festgestellt hat. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte mit dem Mitangeklagten L. seit Jahren eng befreundet. Dieser wiederum pflegte seit mehreren Jahren eine Freundschaft zu dem Nebenkläger, einem knapp 20 Jahre älteren brasilianischen Fußball-Vertragsamateur. Der Nebenkläger versuchte im Laufe der Zeit mehrfach, sich dem Mitangeklagten sexuell zu nähern, wenn dieser bei ihm in der Wohnung übernachtete. Während der Mitangeklagte, der die Annäherungsversuche ausdrücklich zurückwies, zunächst den Kontakt zum Nebenkläger weiterhin schätzte, insbesondere weil er mit ihm zusammen Cannabis konsumieren konnte, empfand er die Beziehung im Sommer 2014 zunehmend als belästigend und bedrohlich, weil der Nebenkläger sich immer stärker vereinnahmend verhielt. Der Mitangeklagte L. vertraute sich daher dem Angeklagten an. Die Angeklagten beschlossen, dem Nebenkläger eine „Abreibung“ zu verpassen.
Der Mitangeklagte L. vereinbarte mit dem Nebenkläger für den 10. August 2014 ein Treffen in dessen Wohnung. Die beiden Angeklagten beabsichtigten, den ihnen körperlich überlegenen Nebenkläger unter Einsatz eines Baseballschlägers und eines Küchenmessers zu überwältigen und ihm - ohne dass sie genauere Absprachen trafen - die „Abreibung“ zu verpassen. Während der Nebenkläger damit rechnete, dass sich zur verabredeten Zeit nur der Mitangeklagte in seiner Wohnung aufhalten würde, gingen beide Angeklagten dorthin und warteten auf die Rückkehr des Nebenklägers. Zur Ausführung ihres Tatplans führte der Mitangeklagte ein ca. 30 cm langes Küchenmesser mit sich. Der Angeklagte war mit einem Baseballschläger ausgerüstet.
Nachdem der Nebenkläger seine Wohnung betreten und die Angeklagten bemerkt hatte, griffen diese den völlig überraschten Nebenkläger an. Das Landgericht, das genaue Feststellungen zum Ablauf der Auseinandersetzung und zur Reihenfolge der zugefügten Verletzungen nicht zu treffen vermocht hat, hat festgestellt, dass der Angeklagte dem Nebenkläger im Zuge der Auseinandersetzung „mindestens vier mäßig kraftvoll geführte Schläge mit dem Baseballschläger“ zufügte, „zwei davon auf den Kopf, wobei bei einem dieser Schläge der Glasschirm der Deckenlampe kaputt ging, sowie jeweils einen gegen den linken Unterarm und einen gegen den Bauch“ (UA S. 10 f.). Hierbei handelte er, um in Ausführung des Tatplans den Nebenkläger körperlich zu misshandeln. Der Mitangeklagte L. stach dem Nebenkläger - nach den Feststellungen des Landgerichts einem eigenen, über den gemeinsamen Tatplan hinausgehenden Entschluss folgend - mit bedingtem Tötungsvorsatz das Küchenmesser in Hals und Oberbauch.
Der sich wehrende, stark blutende Nebenkläger trug insbesondere eine potentiell lebensgefährliche, die Luftröhre verletzende Stichverletzung am Hals, eine Stichwunde am Oberbauch sowie eine Rissquetschwunde und weitere Verletzungen infolge von - gleichfalls potentiell lebensgefährlichen - Schlägen auf den Kopf davon. Es gelang ihm schließlich, sich zu befreien und aus seiner Wohnung zu fliehen.
2. Vom Vorliegen eines (bedingten) Tötungsvorsatzes beim Angeklagten hat sich das Landgericht nicht überzeugen können. Dem Angeklagten sei zwar nicht verborgen geblieben, dass der Mitangeklagte das Küchenmesser mitgeführt habe, er sei jedoch nicht davon ausgegangen, dass dieser den Nebenkläger habe töten wollen. Die Jugendkammer hat als entscheidendes Indiz gegen das Vorliegen eines Tötungsvorsatzes beim Angeklagten den Umstand angesehen, dass dieser kein eigenes Motiv zur Einwirkung auf den Nebenkläger gehabt und „nur äußerst maßvoll“ mit dem Baseballschläger zugeschlagen habe. Das von Tötungsvorsatz getragene Handeln des Mitangeklagten L. sei ihm auch nicht im Wege mittäterschaftlicher Zurechnung anzulasten, da es sich um einen Mittäterexzess gehandelt habe. Auch mit Blick auf die dynamische Kampflage habe nicht festgestellt werden können, dass der Angeklagte „den gefährlichen Stich in den Hals“ wahrgenommen habe (UA S. 29).
1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts zum Tötungsvorsatz hält sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet. Bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen liegt es nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne zu Tode kommen und - weil er mit seinem Handeln gleichwohl fortfährt - einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt. Eine hohe und zudem anschaulich konkrete Lebensgefährlichkeit von Gewalthandlungen stellt mithin auf beiden Vorsatzebenen das wesentliche auf bedingten Tötungsvorsatz hinweisende Beweisanzeichen dar. Im Einzelfall können das Wissens- oder das Willenselement des Eventualvorsatzes fehlen, wenn etwa dem Täter, obwohl er alle Umstände kennt, die sein Vorgehen zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, das Risiko der Tötung infolge einer psychischen Beeinträchtigung etwa bei Affekt oder alkoholischer Beeinflussung nicht bewusst ist (Fehlen des Wissenselements) oder wenn er trotz erkannter objektiver Gefährlichkeit der Tat ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolges vertraut (Fehlen des Willenselements). Beide Elemente der inneren Tatseite müssen tatsachenfundiert getrennt voneinander geprüft werden. Die Prüfung, ob bedingter Vorsatz vorliegt, erfordert bei Tötungsdelikten insbesondere dann, wenn das Tatgericht allein oder im Wesentlichen aus äußeren Umständen auf die innere Einstellung eines Angeklagten zur Tat schließen muss, eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände, wobei schon eine Gleichgültigkeit gegenüber dem zwar nicht erstrebten, wohl aber hingenommenen Tod des Opfers die Annahme bedingten Tötungsvorsatzes rechtfertigt (vgl. BGH, Urteil vom 19. April 2016 - 5 StR 498/15, NStZ-RR 2016, 204 mwN).
b) Kann der Tatrichter auf der Grundlage dieser Gesamtbewertung aller Umstände Zweifel an der subjektiven Tatseite nicht überwinden, so hat das Revisionsgericht dies regelmäßig hinzunehmen, denn die Beweiswürdigung ist dem Tatgericht übertragen (§ 261 StPO). Es obliegt allein ihm, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder an die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten überhöhte Anforderungen stellt. Liegen solche Rechtsfehler nicht vor, hat das Revisionsgericht die tatrichterliche Überzeugungsbildung auch dann hinzunehmen, wenn eine abweichende Würdigung der Beweise möglich oder sogar näherliegend gewesen wäre (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 4. April 2013 - 3 StR 37/13, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 64 Rn. 4 f. mwN).
c) Gemessen hieran erweist sich die Beweiswürdigung des Landgerichts als lückenhaft.
aa) Die Jugendkammer hat bei ihrer Beweiswürdigung zum Vorliegen bedingten Tötungsvorsatzes beim Angeklagten die tatplangemäß vorgenommene Tatausführung unter Verwendung von Baseballschläger und Küchenmesser nicht in ihrer Gesamtheit in den Blick genommen. Zwar erörtert sie, dass aus der Kenntnis des Angeklagten von der Mitnahme des Küchenmessers durch den Mitangeklagten nicht auf das Vorliegen von Tötungsvorsatz geschlossen werden könne, und führt aus, dass in Ansehung der vom Angeklagten ausgeführten Schläge mit dem Baseballschläger in einer Gesamtschau kein Tötungsvorsatz festgestellt werden könne. Auch schließt das Landgericht eine Zurechnung des als Mittäterexzess angesehenen Einstechens des Mitangeklagten auf den Nebenkläger aus.
Das Landgericht hat jedoch in diesem Zusammenhang ausschließlich den vom Angeklagten persönlich tatplangemäß erbrachten Tatbeitrag und nicht erkennbar die dadurch bedingte gesteigerte Gefährlichkeit der Tatausführung gewürdigt, dass die Angeklagten - wie das Landgericht ausdrücklich feststellt - ihrem Tatplan entsprechend beide mit gefährlichen Gegenständen auf den Nebenkläger einwirkten (UA S. 10 f.). Wie zuvor vereinbart, schlug der Angeklagte jedenfalls viermal mit dem Baseballschläger auf Kopf und Rumpf des Nebenklägers ein und setzte der Mitangeklagte das mitgeführte Küchenmesser gegen den Nebenkläger ein. Im Rahmen der Vorsatzprüfung hätte das Landgericht diesen für beide Vorsatzebenen bedeutsamen Umstand erörtern müssen und sich mit den Erwartungen des Angeklagten zum Geschehensablauf bei der Tat vor dem Hintergrund des Einsatzes zweier gefährlicher Gegenstände in einem für ihn vorhersehbar dynamischen und unübersichtlichen Kampfgeschehen auseinandersetzen müssen. Ob der Angeklagte gerade auch „den gefährlichen Stich in den Hals“ wahrgenommen hat (UA S. 29) - was angesichts der festgestellten räumlichen Verhältnisse überdies naheliegt - ist insoweit ohne Bedeutung.
bb) Hinzu kommt, dass die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe nur „äußerst maßvolle“ Schläge gegen den Nebenkläger ausgeführt, nicht hinreichend belegt ist.
Die Jugendkammer hat diesen Umstand als entscheidendes Indiz (UA S. 28) bezeichnet und sich diesbezüglich auf Beweiserkenntnisse aus der Vernehmung zweier gerichtsmedizinischer Sachverständiger gestützt. Diese hatten ausgeführt, die Schläge mit dem Baseballschläger auf den Kopf des Nebenklägers seien zwar potentiell lebensgefährlich gewesen; aus dem Fehlen von Organverletzungen, Knochenbrüchen und Hirnverletzungen könne aber auf eine „mäßige Krafteinwirkung“ bei den Schlägen geschlossen werden (UA S. 23). Das Landgericht hat sich dieser Bewertung angeschlossen, ohne allerdings weitere erörterungsbedürftige Umstände einzubeziehen. Mithin fehlt es an der erforderlichen Gesamtwürdigung aller für die Vorsatzprüfung bedeutsamen Gesichtspunkte.
Zum einen hat es nicht bedacht, dass der Angeklagte bei der einem Schlag gegen den Kopf des Nebenklägers vorausgehenden Ausholbewegung mit dem Baseballschläger eine Deckenlampe traf und beschädigte (UA S. 24). Die festgestellte Ausholbewegung spricht jedoch gegen einen „bewusst maßvollen“ Krafteinsatz bei der Schlagausführung. Zum anderen hätte erörtert werden müssen, ob erhebliche Verletzungen deshalb ausgeblieben sein könnten, weil es sich um ein dynamisches Kampfgeschehen handelte (UA S. 10, 17, 19, 21 f.), in dessen Verlauf sich der Nebenkläger wehrte und möglicherweise dadurch schwerere Treffer vermeiden konnte. Die Jugendkammer hätte sich zudem mit der Frage auseinandersetzen müssen, inwieweit der Angeklagte angesichts dessen überhaupt zu einem „bewusst maßvollen“ Krafteinsatz in der Lage gewesen sein kann.
2. Die aufgezeigten Rechtsfehler führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit es den Angeklagten betrifft. Die Sache bedarf insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat weist darauf hin, dass für die Verneinung des voluntativen Vorsatzelements einem pauschalen Verweis auf die natürliche, der Tötung eines Menschen entgegenstehende Hemmschwelle, wie ihn das Landgericht formuliert hat (vgl. UA S. 20, 28), kein eigenständiges argumentatives Gewicht zukommt; vielmehr bedarf es tragfähiger Anhaltspunkte dafür, dass der Täter ernsthaft darauf vertraut haben könnte, der Geschädigte werde nicht zu Tode kommen (vgl. BGH, Urteil vom 22. März 2012 - 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183, 189 ff.).
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 1004
Bearbeiter: Christian Becker