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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juli 2006
7. Jahrgang
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Von Karsten Gaede, * Hamburg
Mit der Entscheidung der Großen Kammer des EGMR zum Brechmitteleinsatz in Deutschland erfährt eine weitere viel beachtete Frage des deutschen (Strafprozess-)Rechts eine Zwangseuropäisierung. Die deutsche Diskussion hatte sich hinsichtlich der EMRK wie so oft zu einer vergleichsweise jungen Rechtsfrage ein Schweigerecht herausgenommen. Während man im Ausland schon vor dem Urteil den deutschen Brechmitteleinsatz anstößig fand,[1] bei dem - wie auch der EGMR bemerkt - zwei Menschen zu Tode gekommen sind, hat man in Deutschland heute eine Entscheidung auszuwerten, die Deutschlands Verantwortung für eine Verletzung des Folterverbots des Art. 3 EMRK feststellt. Diesen Satz hätte auch ein Ausrufezeichen beschließen können, denn die Große Kammer des EGMR hat mit dem Urteil einem Staat, der sich durchaus als menschenrechtlicher Musterschüler versteht, bei aller nötigen Erörterung der Sachfragen letztlich klar die Verletzung eines der grundlegendsten menschenrechtlichen Verbote durch eine staatlich institutionalisierte Praxis vorgehalten.
Die folgende Besprechung stellt eingangs knapp den Fall und den Meinungsstand in Deutschland dar (I.). Sie zeichnet den wesentlichen Begründungsgang der umfangreichen und noch unübersetzten Entscheidung nach (II. - III.). Knapp werden die Sondervoten eingeordnet (IV.), um sodann ausgewählte wahrscheinliche Konsequenzen, besonders bemerkenswerte Charakteristika aber auch offene Folgefragen des Urteils herauszustellen (V.).
Der Beschwerdeführer (Bf.) Jalloh wurde am 29.10.1993 von Polizisten dabei beobachtet, wie er kleine Plastikpäckchen ("Bubbles"), die er in seinem Mund versteckt hielt, an vermeintlich Drogenabhängige verkaufte. Die Polizei verhaftete Jalloh in dem Verdacht, dass die Päckchen Drogen enthielten. Bei der Festnahme verschluckte der Bf. ein Päckchen, das er noch verborgen hielt. Weitere Drogen fand die Polizei bei ihm nicht.
Weil ein Abwarten die Tataufklärung hätte verzögern können, ordnete die Staatsanwaltschaft den Einsatz von Brechmitteln durch einen Mediziner an, damit das Verschluckte wieder als Beweismittel zur Verfügung stand. Nach der Darstellung der deutschen Regierung wurde von dem durchführenden Arzt eine Anamnese vorgenommen, der Bf. also nach möglichen Gesundheitsrisiken befragt. Jalloh, der kein Deutsch und nur gebrochen Englisch spricht, bestreitet, von einem Arzt befragt worden zu sein. Der Bf. verweigerte tätlich die Einnahme der Brechmittel. Hierauf hielten ihn vier Polizisten fest. Jalloh wurde eine Magensonde durch die Nase in den Magen eingeführt, damit der Arzt ihm zwangsweise das Brechmittel Ipecacuanha einführen konnte. Zusätzlich wurde ihm das Morphiumderivat Apomorphin verabreicht. Der Bf. erbrach daraufhin ein Päckchen, das 0.2182 g Kokain enthielt. Eineinhalb Stunden nach Verhaftung und Verbringung in ein Krankenhaus wurde er durch einen Arzt für hafttauglich erklärt. Der Bf. behauptete, dass er nach dem Brechmitteleinsatz drei Tage nur Suppe trinken konnte und dass seine Nase wiederholt über zwei Wochen lang wegen der erlittenen Wunden zu bluten begann. Ein ärztliches Attest hierrüber legte Jalloh nicht vor. Behauptete Magenirritationen infolge des Einsatzes konnte der Bf. ebenfalls nicht auf einen ärztlichen Befund stützen. Die Regierung bestritt jeden körperlichen Folgeschaden.
Während seiner Hauptverhandlung widersprach Jalloh über seinen Verteidiger eingehend der Verwendung von Beweismitteln, die durch den Brechmitteleinsatz erlangt worden sind. Das AG Wuppertal verurteilte den Bf. jedoch und stufte den Brechmitteleinsatz als nach § 81a StPO gerechtfertigt ein. Auf seine Berufung verurteilte ihn auch das LG Wuppertal in diesem Sinne, wobei es die Strafe von einem auf ein halbes Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung milderte. Unter Rückgriff auf verfassungsrechtliche Argumentationen (Menschen-würde und Selbstbelastungsfreiheit) legte er erfolglos Revision zum OLG Düsseldorf ein.
Die vom Bf. daraufhin erhobene Verfassungsbeschwerde nahm eine Kammer des BVerfG nicht zur Entscheidung an, weil der Bf. den im Strafverfahren möglichen Rechtsschutz nicht voll ausgeschöpft habe.[2] Obiter führte die Kammer einerseits aus, dass der Brechmitteleinsatz Fragen unter Art. 2 II GG und unter dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit aufwerfe. Andererseits äußerte sie aber in einem Nebensatz, dass gegen erzwungene Brechmitteleinsätze keine prinzipiellen
verfassungsrechtlichen Einwände im Hinblick auf die Menschenwürde (Art. 1 I GG) und die Selbstbelastungsfreiheit (Art. 1 I i.V.m Art. 2 I GG) bestünden.
Allgemein ist der - vom EGMR entsprechend referierte - Meinungsstand in Deutschland kurz skizziert der Folgende: Mehrheitlich sehen die deutschen Gerichte den zwangsweisen Brechmitteleinsatz als eine gemäß § 81a I StPO gerechtfertigte Maßnahme an.[3] Das Schrifttum teilt oft diese Auffassung.[4] Einige Autoren sehen den Brechmitteleinsatz "bei Kleindealern" aber als nach deutschem Recht unverhältnismäßig an.[5] Eher wenige Stimmen lehnen den Brechmitteleinsatz und die Verwertung seiner Erkenntnisse als Verstoß gegen die Menschenwürde und/oder die Selbstbelastungsfreiheit umfassend ab.[6]
Der EGMR hat den Brechmitteleinsatz nun mehrheitlich als unmenschliche und erniedrigende Behandlung eingestuft und damit auf eine Verletzung des Folterverbots des Art. 3 EMRK erkannt. Hierzu gelangte er wie folgt:
Zunächst stellt der Gerichtshof nach seinem vertrauten Muster die für den Fall einschlägigen Auslegungsmaßstäbe zusammen, die sich aus den bisherigen Präjudizien ergeben. Eine belastende Maßnahme muss danach, soll sie dem Verdikt des Art. 3 EMRK unterfallen, nach den Gesamtumständen des Einzelfalles ein Mindestmaß an Intensität aufweisen.[7] Bei der unmenschlichen Behandlung werden dem Opfer vorsätzlich schwere physische oder psychische Leiden zugefügt, ohne dass der Eingriff die stigmatisierende Intensität erreicht, welche nach dem EGMR die Folter kennzeichnet.[8] Eine erniedrigende Behandlung liegt vor, wenn Gefühle der Angst, des Schmerzes oder der Minderwertigkeit erweckt werden, die geeignet sind, das Opfer zu demütigen bzw. zu entwürdigen und seinen psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen.[9] Für die erniedrigende Behandlung ist ein nicht konstitutiver aber doch im Fall seines Eingreifens gewichtiger Faktor, ob die geprüfte Behandlung die Demütigung oder Entwürdigung bezweckt.[10]
Speziell für medizinische Zwangseingriffe gegenüber Inhaftierten gebietet Art. 3 EMRK ausnahmslos, die Gesundheit des Betroffenen zu schützen. Medizinisch indizierte Maßnahmen können indes grundsätzlich nicht als unmenschlich und erniedrigend eingestuft werden, wenn die medizinische Indikation überzeugend in einem rechtsstaatlichen Verfahren nachgewiesen wird.[11] Auch ohne medizinische Indikation sind aber zwangsweise körperliche Eingriffe zur Beweiserlangung wie die Entnahme einer Blutprobe nicht stets ein Verstoß gegen Art. 3 und 8 EMRK.[12] In jedem Fall bedarf eine zwangsweise medizinische Maßnahme zur Beweismittelerlangung stets einer überzeugenden Rechtfertigung. Dies gilt besonders dann, wenn Beweismittel aus dem Körperinneren hervorgebracht werden sollen. Hier muss eine strikte Prüfung aller einzelnen Umstände erfolgen, wobei der Schwere der verfolgten Tat besonderes Gewicht beizumessen ist und alternative Ermittlungsmaßnahmen zu prüfen sind. Der Prozedur darf kein Risiko einer bleibenden Gesundheitsschädigung inne wohnen. Ebenso darf die zwangsweise Ausführung des Eingriffs nicht die Eingriffsschwelle des Art. 3 EMRK überschreiten, wobei auf ernsthafte physische Schmerzen oder Leiden als Folge der Zwangsmedikation zu achten ist. Ein wesentliches Kriterium ist auch, ob der Eingriff durch Mediziner angeordnet und durchgeführt worden ist und ob der Betroffene unter ständiger medizinischer Beobachtung stand. Schließlich ist ein relevantes Kriterium, ob der Zwangseinsatz zu irgend einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffenen geführt hat und ob er Spätfolgen für seine Gesundheit hatte.
Bei der Anwendung seiner Kriterien verwirft der EGMR eingangs in aller Deutlichkeit das Argument, der Brechmitteleinsatz diene der Gesundheit des Betroffenen, weil einem zwischenzeitlichen Aufplatzen der Päckchen im Körper entgegen gewirkt werde. Der EGMR nimmt der Regierung diese Erwägung schlicht nicht ab und verweist darauf, dass die Rechtfertigung für den Eingriff in der strafprozessualen Beweiserhebungsvorschrift § 81a StPO liegen soll und eine nähere Untersuchung der vermeintlich ausschlaggebenden Gefahr gar nicht erfolgt.[13] Die Inkonsequenz zeigt sich für den Gerichtshof auch darin, dass - wie die Regierung zugleich vorgetragen hatte - der Brechmitteleinsatz bei Jugendlichen nur in schwersten Verdachtsfällen erfolgt, was zu der rhetorischen Frage führt, ob denn die Gesundheit weniger verdächtiger Jugendlicher weniger wert sei.
Der EGMR fasst dann seine obigen Maßstäbe für Eingriffe zur Beweismittelerlangung nochmals zusammen. Danach muss jeder Eingriff in die körperliche Unversehrtheit zur Wahrung des Art. 3 EMRK einer strikten Prüfung unterzogen werden, bei der die folgenden Faktoren von besonderer Bedeutung sind: Das Ausmaß, in dem der medizinische Zwangseingriff zur Erlangung von Beweismitteln erforderlich gewesen ist; die vorhandenen Gesundheitsrisiken für den Verdächtigen; die Art und Weise, wie der Eingriff durchgeführt wurde; der verursachte physische Schmerz und das hervorgerufene mentale Leiden; der Umfang der vorhandenen medizinischen Überwachung und die tatsächlichen Folgen[14] für die Gesundheit des Verdächtigen. Zum Fall des Bf. vertritt der EGMR im Einzelnen:
· Zwar ist Drogenhandel eine schwere Straftat. Angesichts der Aufbewahrung von Drogen im Mund war aber klar, dass es nicht um große Mengen gegangen sein kann. Die Beweise hätten durch ein Abwarten des natürlichen Austritts der Drogen erlangt werden können, wie es in vielen anderen Staaten des Europarats gehandhabt wird.
· Der EGMR schätzt den Einsatz von Ipecacuanha über die Magensonde als gesundheitsgefährdend ein: Da Mediziner von der Gesundheitsgefahr ausgehen, bereits Menschen an den Einsätzen gestorben sind und viele Staaten des Europarats sowie deutsche Länder von der zwangsweisen Verabreichung absehen, vermochte sich der EGMR nicht von der Ungefährlichkeit des Einsatzes zu überzeugen.
· Die Art und Weise der zwangsweisen Einführung der Magensonde nach Sistierung durch vier Polizisten betrachtet der Gerichtshof als schmerzhaft und angsteinflößend. Der Zwang, unter Beobachtung erbrechen zu müssen, muss vom Bf. als erniedrigend angesehen worden sein.
· Angesichts der geringen sprachlichen Fähigkeiten und des energisch ablehnenden Verhaltens des Bf. geht der EGMR davon aus, dass keine Anamnese zum Ausschluss besonderer Gesundheitsrisiken stattgefunden hat: Der Bf. muss als zur Beantwortung der nötigen Fragen unfähig oder unwillig angesehen werden.
· Da der Bf. keine entsprechenden Dokumentationen beibringen konnte, geht der Gerichtshof davon aus, dass der Brechmitteleinsatz praktisch keinen weiteren Behandlungsbedarf und keine Folgeschäden bei dem Bf. ausgelöst hat.[15]
In seiner Zusammenfassung betont der EGMR den vorliegenden gravierenden Zwangseingriff in die körperliche Unversehrtheit und die seelische Integrität: Er hätte durch mildere Mittel abgewendet werden können und führte zu den belastenden Gefühlen, Schmerzen und Leiden, die Art. 3 EMRK vermeiden will. Darüber noch hinaus waren weitere Gesundheitsschäden nicht ausgeschlossen. Hierin lag für den EGMR eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung entgegen Art. 3 EMRK.
Der Bf. hat des Weiteren - neben einer vom EGMR nicht erörterten Beschwerde gemäß Art. 8 EMRK[16] - auch die Verwertung der durch den Brechmitteleinsatz erlangten Beweismittel als Verletzung des Art. 6 EMRK speziell unter dem Teilrecht der Selbstbelastungsfreiheit gerügt.
Auch zu Art. 6 EMRK gibt der EGMR zunächst die einschlägigen Präjudizien und Strukturen seiner Auslegung mustergültig wieder. Gerafft erinnert er an das Folgende:
Die Aufgabe des EGMR besteht für das Strafverfahren gemäß Art. 6, 19 EMRK nicht darin, die nationalen Gerichte schlechthin auf rechtliche oder tatsächliche Fehler zu prüfen, sondern er prüft allein Fehler, die Menschenrechtsverletzungen nach europäischem Recht darstellen können. Bei der Überprüfung von Beweisverwertungen gibt Art. 6 EMRK dabei - prinzipiell - keine abstrakten Beweisregeln vor, sondern er garantiert bei jeder Art von Straftat auch über seine einzelnen Teilrechte einen insgesamt fairen Strafprozess.[17] Die Rechtswidrigkeit einer Beweiserlangung wird vom EGMR in diese Gesamtprüfung einbezogen, wobei die Natur der Rechtsverletzung, die Vortragsmöglichkeiten der Verteidigung gegen die Verwertung und die im Übrigen vorliegenden Beweise
Entscheidungskriterien darstellen.[18] Besonderheiten bzw. striktere Maßstäbe gelten dann, wenn Beweismittel durch eine Verletzung des Art. 3 EMRK erlangt worden sind. Hier kann Art. 6 EMRK verletzt sein, selbst wenn die Verwertung des Beweises für die Verurteilung nicht konstitutiv war, denn Art. 3 EMRK verbürgt eine der grundlegensten Werte demokratischer Gesellschaften, die auch im "Kampf" gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität absolut gelten.[19]
Art. 6 EMRK garantiert als eigenständiges Teilrecht auch die Selbstbelastungsfreiheit und das Schweigerecht.[20] Das Recht gebietet, dass die Strafverfolgungsorgane ihre strafrechtliche Anklage zu beweisen suchen, ohne zu Beweisen Zuflucht zu nehmen, welche durch Methoden des Zwangs oder des Drucks gegenüber dem Willen des Beschuldigten erlangt worden sind. Beweise, die in Verkennung des Wesensgehalts der Selbstbelastungsfreiheit erlangt worden sind, sind unverwertbar. Als Kriterien hierfür prüft der EGMR die Art und das Ausmaß des angewendeten Zwangs, die existierenden prozeduralen Schutzinstrumente und die Art und Weise der Verwendung des so erlangten Materials. Die Selbstbelastungsfreiheit dient in erster Linie dem Schutz des Willens eines Beschuldigten, zur Anklage schweigen zu wollen. Sie schließt nicht stets aus, vom Angeklagten herrührendes Material zu verwerten, das eine vom Willen des Beschuldigten unabhängige Existenz hat.[21]
Der EGMR prüft zuerst, ob eine Verletzung des Art. 6 EMRK unter Einbeziehung des Art. 3 EMRK begründet ist. Er prüft so ein Phänomen der Menschenrechtsverstärkung, bei dem sich Schutzrichtungen verschiedener Konventionsrechte wie bei der deutschen Grundrechtsverstärkung systematisch ergänzen und dadurch verstärken können.[22] Eingangs hält er fest, dass die Beweise nach nationalem Recht nach mehrheitlicher Auffassung rechtmäßig erlangt worden sind. Die im Prozess benutzten Beweise stellen jedoch nach seiner obigen Prüfung direkte Ergebnisse einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung des Bf. dar. Dies stellt für den EGMR einen fairen Prozess ernsthaft in Frage. Für die hier nicht vorliegende Folter als gravierendste Form des Verstoßes gegen Art. 3 EMRK hält der EGMR obiter bereits ein zwingendes Verwertungsverbot fest, das er vom Beweiswert und der Art der Beweismittel unabhängig ausgestaltet wissen will und das er mit Art. 15 UN-Antifolterkonvention und durch Bezugnahmen auf die ältere U.S. Supreme Court-Rechtsprechung (Rochin vs. California) begründet.[23] Zu den Alternativen der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung erwägt er eine vergleichbare Automatik. Er lässt diese aber sodann offen. Vielmehr entscheidet der Gerichtshof im Fall Jalloh, dass die Verwertung eines Beweismittels, das in Verstoß gegen diese Alternativen des Art. 3 EMRK gewonnen wurde, einen Prozess gegen den Betroffenen jedenfalls dann insgesamt unfair macht, wenn das Beweismittel das wesentliche Beweismittel in diesem Prozess darstellt. Mitbegründend stellt er darauf ab, dass Jalloh wegen der Rechtmäßigkeit des Brechmitteleinsatzes nach nationalem Recht kein Verwertungsverbot hätte erlangen können[24] und dass es um die Verfolgung eines vergleichsweise minder schweren Falls des Drogenhandels ging.
Der EGMR hätte nun seine Erörterung im Einklang mit seiner überwiegenden Praxis abbrechen können: Art. 6 EMRK gewährt ein integrales Gesamtrecht (also ein Recht, zu dem alle anerkannten Teilrechte stets gemeinsam beitragen) und eben dessen Verletzung hat der EGMR - wie er explizit festhält - bereits mit den eben referierten Erwägungen begründet. Er hätte weitere begründende Ausführungen unterlassen können, da diese für ihn letztlich immer wieder das eine Gesamtrecht als verletzt zeigen würden.[25] Der EGMR geht aber anders vor und trägt dem Umstand Rechnung, dass die Teilrechte des Art. 6 EMRK nicht etwa beliebig im Gesamtrecht und in der dieses prüfenden Gesamtbetrachtung aufgehen: Die einzelnen Teilrechte des Art. 6 EMRK können selbständig und nebeneinander Verletzungen des Art. 6 EMRK auslösen, eben weil alle diese Teilrechte für das Gesamtrecht konstitutiv sind.[26] So muss ein Strafverfahren zum Beispiel nicht nur im Kontext zu Art. 3 EMRK seine Fairness wahren, sondern es muss zugleich stets dem konstitutiven Teilrecht der Selbstbelastungsfreiheit genügen. Daher gibt der
EGMR sodann eine weitere Verletzungsbegründung, wodurch er eine bedeutsame Fortentwicklung der europäischen und deutschen Grundsätze zur Selbstbelastungsfreiheit bewirkt:
Der EGMR hatte insoweit überhaupt erst über die Anwendbarkeit der Selbstbelastungsfreiheit zu entscheiden. Sie wird nach deutschem Recht ganz mehrheitlich verneint, und sie konnte auch nach dem Konventionsrecht in Anknüpfung an die Saunders-Rechtsprechung bestritten werden: Nach Saunders können tatsächliche Beweismittel, die von Willen des Beschuldigten unabhängig existieren, zwangsweise verwertet werden.[27] Hätte man hier nicht wie die entscheidungsfreudige Kammer des BVerfG kurzerhand sagen können, dass die willensunabhängig existenten Päckchen unproblematische Zugriffsgegenstände für staatliche Beweissicherungen darstellen, da der Beschuldigte sie nicht willentlich herausgeben musste?
Der EGMR sieht dies anders. Er betont im Einklang mit seinen Präjudizien, dass Art. 6 EMRK nicht nur vor der Erzwingung von Geständnissen schützt, sondern allgemein vor der erzwungenen willentlichen Mitwirkung an der eigenen Überführung bewahrt. Und er grenzt dann die Saunders-Rechtsprechung von dem hier vorliegenden Problem wie folgt ab: Erstens werden die Beweismittel wie in anderen früheren Verletzungsfällen in Überwindung des Beschuldigtenwillens erlangt, was für den EGMR - anders als nach der deutschen Lehre - auch bei Duldungspflichten eine Prüfung der Selbstbelastungsfreiheit nahe legt. Zweitens unterscheidet sich der Grad an Zwang, der im Fall Jalloh zur Erlangung der Beweismittel erforderlich war, in bedeutsamem Umfang von den bisher mit der Saunders-Rechtsprechung angesprochenen Fallgruppen, in denen etwa Blutproben zwangsweise erlangt werden. Dort wird dem Beschuldigten typisch die passive Duldung eines geringfügigeren Eingriffs in seine physische Integrität abverlangt. In Fällen, in denen sogar die aktive Mitwirkung des Beschuldigten nötig und nach Auffassung des EGMR zulässig ist, sind natürliche Funktionen des Körpers wie der Atem betroffen.[28] Für die im Fall Jalloh gesuchten Beweismittel musste aber eine Magensonde zwangsweise in den Körper eingebracht werden, um - unter Gefahren für die Gesundheit des Beschuldigten - eine pathologische Reaktion des Körpers zu erwirken. Drittens wurden die Beweise bekanntlich durch einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK erlangt. Die Prozedur des Brechmitteleinsatzes unterscheidet sich so für den EGMR insgesamt erheblich von denen, die zum Beispiel für Atemtests oder für Blutproben angewandt werden und die im Normalfall nicht das Maß an Schwere erreichen, das die Anwendbarkeit des Art. 3 EMRK hervorruft. Wegen dieser Unterschiede hält er die Selbstbelastungsfreiheit für anwendbar.
War so der Schutzbereich eröffnet, hatte der EGMR entsprechend seiner Praxis noch zu prüfen, ob der Willenszwang im konkreten Fall unzulässig war. Kriterien hierfür sind die Art und das Ausmaß des eingesetzten Zwangs; das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Aufklärung und Bestrafung der betroffenen Straftat; das Vorliegen verfahrensrechtlicher Schutzinstrumente und die Verwendung des so erlangten Materials. Der EGMR verweist dazu wiederum auf die erheblichen physischen Eingriffe, die das Maß des Art. 3 EMRK überschreiten. Eine Rechtfertigung mit Blick auf das Tataufklärungs- und Ahndungsinteresse verwirft er im vorliegenden Fall eines geringfügigen Drogenhandels. Die Rechtsgrundlage des § 81a StPO nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis; er hält sie aber bei einem schweigenden, die Anamnese verweigernden Beschuldigten offenbar aus medizinischen Erwägungen nicht für eine taugliche Rechtsgrundlage. Schließlich hält er - den Bezug zum Prozess im Ganzen herstellend - fest, dass der erlangte Beweis der entscheidenden Prozessbeweis waren.[29] Ein Opponieren dagegen war zwar möglich, für den EGMR jedoch auf Grund der deutschen herrschenden Auffassung praktisch aussichts- und damit wertlos. Folglich stellt der EGMR fest, dass er Art. 6 EMRK als Gesamtrecht auch über die Selbstbelastungsfreiheit als verletzt erachtet.
In aller Kürze soll die Stoßrichtung der Sondervoten festgehalten werden, welche das Urteil begleiten.
Sir Bratza stimmt in seinem Votum der Entscheidung zu, will jedoch Bedenken gegenüber Teilen ihrer Begründung angemeldet wissen. Insbesondere fordert er einen klareren, absoluten Ausschluss des Brechmitteleinsatzes durch Art. 3 EMRK, wenn - anders als im konkreten Fall - ein öffentliches Interesse an der zügigen Erlangung der Beweismittel zum Beleg schwerer Straftaten dargelegt wird, eine medizinische Indikation für den Betroffenen aber nicht besteht. Zu Art. 6 EMRK plädiert er für einen zwingenden Ausschluss auch derjenigen Beweise, die nicht durch Folter, wohl aber durch unmenschliche und/oder erniedrigende Behandlung gewonnen worden sind. Auch hier sieht er für Rechtfertigungen durch ein besonderes öffentliches Interesse keinen Raum.
Richter Zupancic findet zum deutschen Brechmitteleinsatz deutliche Worte: Er nimmt einen Fall klassischer Folter an und fordert einen klaren Ausschlus jeder Beweisverwertung. In seinem Votum betont er zu Art. 6 EMRK den Unterschied zwischen einer zivilisierten Konfliktlösung und einer Konfliktlösung durch physische Stärke. Ebenso befasst er sich mit der Begründung der Selbstbelastungsfreiheit. Kaum unbedacht benutzt er das auch in der englischen Sprache gebrauchte deutsche Wort Zeitgeist, während er seiner
Erschütterung darüber Ausdruck verleiht, dass über 50 Jahre nach der Entscheidung des U.S. Supreme Court im Fall Rochin ernsthaft wieder über die (Un-)Zulässigkeit von Brechmitteleinsätzen diskutiert werden muss.[30]
Die beiden schweizerischen Richter Wildhaber und Caflisch (gewählt für Liechtenstein) begründen eine von der Mehrheit ablehnende Auffassung. Ihr Sondervotum, dem sich zu Art. 3 EMRK Hajiyev anschloss, stützen sie mit einer aus ihrer Sicht fehlerhaften Anwendung der in den §§ 67-73 aufgelisteten Entscheidungskriterien und mit Art. 1 UN-Antifolterkonvention, den sie stärker auf die Motivation bezogen sehen wollen, Aussagen zu erzwingen oder eine Person demütigen (bestrafen) zu wollen. Unterschwellig durchzieht das Votum die - angesichts der stRspr. zur Bedeutung des Verhaltens des Betroffenen erstaunliche - Auffassung, dass der die Päckchen schluckende Beschuldigte durch sein eigenes Verhalten letztlich "selbst schuld sei". Jedenfalls soll der Eingriff nicht die von Art. 3 EMRK vorausgesetzte Schwere erreicht haben. Das Sondervotum hatte sich nach Verwerfung des Art. 3 EMRK auch mit Art. 8 EMRK zu befassen.
In ihrem gemeinsamen abweichenden Sondervotum erkennen die Richter Ress (Deutschland), Pellonpää, Baka und Sikuta ebenfalls eine unzutreffende Anwendung der in §§ 67-74 aufgeführten Prinzipien. Sie schätzen das Aufklärungsanliegen im konkreten Fall und auch die belastende Wirkung der Überwachung der natürlichen Ausscheidung anders ein. Die Bedeutung der beiden deutschen Todesfälle wird geringer veranschlagt, die Bedeutung der Gesundheitsgefahren nach dem Schlucken der Päckchen, die im Körper aufplatzen könnten, wird dagegen mit Verweis auf Todesfälle höher angesetzt. Auch dieses Sondervotum befasst sich konsequenterweise mit Art. 8 EMRK. Den Vertragsstaaten wird hier die wertende Entscheidung zwischen den Methoden des Brechmitteleinsatzes und dem Abwarten auf die natürliche Ausscheidung zugestanden. Zu Art. 6 EMRK wird knapp bemerkt, dass Art. 15 UN-Antifolterkonvention nur für die Folter die Verwertbarkeit ausschließe. Zur Anwendbarkeit der Selbstbelastungsfreiheit legt sich das Sondervotum nicht fest, obschon man das Distinguishing gegenüber Saunders hinterfragt.
Es bedarf keiner besonderen Hellsichtigkeit, um festzuhalten, dass das referierte Urteil der Großen Kammer für die Fortentwicklung aller von ihm betroffenen Menschenrechte höchst bedeutsam ist. Für den deutschen Brechmitteleinsatz hat das Urteil absehbare Konsequenzen. Für die Dogmatisierung der Selbstbelastungsfreiheit dürfte es zum europäischen aber nun unvermeidlich auch zum deutschen Recht eine Welle von Diskussionen auslösen. Wenn sich auch das ganze Ausmaß der angestoßenen Entwicklungen und aufgeworfenen Fragen erst nach und nach zeigen wird, sind doch bereits erste bemerkenswerte Aspekte der Entscheidung vor allem aus deutscher Sicht anzumerken. Dies gilt auch deshalb, weil die Entscheidung für einen deutschen Leser besonders schwer abzuschätzen sein dürfte, der typisch deutsche Dogmatik gewohnt, mit den hier nun entscheidungserheblichen europäischen Präjudizen und Begründungsmustern aber eher weniger vertraut ist.
Warum musste und konnte der EGMR überhaupt diesen Fall entscheiden? Diese Frage mag sich stellen, wer erinnert, dass eben auch in Deutschland neben § 81a StPO die Art. 1 I, 2 I, 2 II 2, 20 III GG zur möglichen Anwendung (spätestens) durch das BVerfG bereit gestanden hätten. Schon prozessual scheiterte dies aber daran, dass eine Kammer des BVerfG meinte, den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde bemühen zu müssen, ohne nähere Angaben zu den vorgeblich versäumten Rechtsschutzanstrengungen im Strafprozess zu machen, während der Bf. ersichtlich mehrfach der Fachgerichtsbarkeit seinen verfassungsrechtlich begründeten Standpunkt erfolglos vorgetragen hatte. Nun gebietet auch Art. 35 EMRK die Ausschöpfung der nationalen Rechtsmittel, bevor der - ebenfalls und noch weit mehr als das BVerfG überlastete - EGMR entscheiden kann und muss. Doch der EGMR hat nicht nur hier demonstriert, dass ihm die Praxis des BVerfG bei der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde bisweilen überzogen erscheint.[31] Er wendet offenbar Art. 35 EMRK verständiger an, als das BVerfG national mit der Verfassungsbeschwerde umgeht.[32] Den immerhin von der Bundesregierung erhobenen Einwand der Nichtausschöpfung nationaler Rechtsmittel hatte der EGMR so auch mit Verweis auf die dem BVerfG mindestens partiell mögliche Sachaussage bereits 2004 zurückgewiesen.[33] Damit muss man zu aller erst hervorheben, dass die Entscheidung Jalloh die Annahmepraxis des BVerfG kritisch in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Das im BVerfG durchaus spürbare Selbstbewusstsein, sich erst recht nicht auch noch bei der eigenen Zulässigkeits- und Begründungspraxis von Straßburg "hereinreden zu lassen", sollte jedenfalls einer Reflektion unterzogen werden.
Mehr noch kommt die Entscheidung des EGMR zu Art. 3 und 6 EMRK nun auch in der Sache einer Belehrung des BVerfG gleich. Denn eine zuständige Kammer hatte zu den Parallelnormen des Grundgesetzes (Art. 1 I, 2 I, 20 III GG) mit einem Obiter-Einschub in einem typischen Fall des zwangsweisen Brechmitteleinsatzes öffentlichkeitswirksam dessen prinzipielle Verfassungsmäßigkeit festgehalten.[34] Auch wenn dies ohne Bindungs-
wirkung geschah[35] und im Nachhinein mehr oder weniger dementiert bzw. widerrufen werden sollte,[36] stand eine Stellungnahme von drei Verfassungsrichtern im Raum, die ihre absehbare Wirkung nicht verfehlte.[37] Das "Obiter Dictum" hat der EGMR nun zurückgewiesen, denn die europäischen Parallelnormen zur deutschen Menschenwürde und der Garantie der Selbstbelastungsfreiheit sind die vom EGMR behandelten Art. 3 und 6 EMRK, während Art. 2 II 2 GG tendenziell eher Art. 8 und 2 EMRK entspricht.
Unnötig ist die Belehrung auch deshalb, weil sie vielleicht hätte vermieden werden können, wenn man den deutschen Blickwinkel rechtzeitig um europäische Auslegungsansätze erweitert hätte. Zur Anwendung kam jedoch bis auf rühmliche Ausnahmen[38] das altvertraute aber nicht mehr altbewährte Muster deutscher Grundrechtsintrovertiertheit: Europäische Garantien und Präjudizien bleiben in Deutschland regelmäßig außen vor, wenn kein (übersetztes) Urteil des EGMR zum konkreten Einzelfall bzw. Problem vorliegt.[39] Ist dem so, werden neue Rechtsfragen nach grundgesetzlichen Präjudizien untersucht, selten aber auch nach der europäischen Dogmatik durchdacht. So wurde etwa die - von der Großen Kammer des EGMR nun angenommene - Betroffenheit der Selbstbelastungsfreiheit gar als "geradezu abwegig" bezeichnet, weil man allein die klar scheinende deutsche Abgrenzung zwischen aktiver Selbstbelastung und legitim zu duldenden Ermittlungsmaßnahmen heranzog.[40] Eine Einbeziehung der Präjudizien zur europäischen Selbstbelastungsfreiheit, die durchaus zu - nicht nur für den Beschuldigtenschutz positiven - abweichenden Ergebnissen führen können, hätte den Diskussionshorizont erweitern können. Ein fix wirkendes "Obiter Dictum" wäre jedenfalls nach den europäischen Präjudizien einem Gericht kaum eingefallen. Es bleibt zu hoffen, dass die Jalloh-Entscheidung nun die systematischere Einbeziehung des Konventionsrechts auch beim hier im Wesentlichen abstinenten BVerfG fördert. Diese Einbeziehung darf nicht nur dann erfolgen, wenn bereits eine Entscheidung des EGMR vorliegt, schon weil die Subsidiarität der EMRK ihre Umsetzung primär durch die Mitgliedsstaaten (ihre Gerichte!) und nicht erst durch den (zu) spät entscheidenden EGMR gebietet.[41] So steht etwa zu hoffen, dass auch die ablehnenswerte "moderne Auffassung" zur für staatliche Täter gerechtfertigten Präventivfolter[42] nicht länger nur oberflächlich[43] die heutigen Entscheidungsgrundlagen zu Art. 3 EMRK zur Kenntnis nimmt.[44]
Praktisch stellt sich angesichts der gesamtbetrachtenden Prüfung des EGMR die Frage, wie weit der erzwungene Brechmitteleinsatz im Strafprozess nun tatsächlich völkerrechtlich untersagt worden ist. Die leider nicht exakt bestimmte "Mindestschwere" als Schwellenwert der Anwendbarkeit des Art. 3 EMRK führt zu dieser Frage. Man kann daran denken, einzelne Bestandteile der Gesamtbegründung des EGMR durch Fallabwandlungen entfallen zu lassen oder zu neutralisieren. So ließe sich für diese Fälle der Brechmitteleinsatz als vom EGMR noch nicht untersagt behaupten. Man könnte etwa an einen Fall denken, in dem ein deutsch sprechender Betroffener, der viele Päckchen erbricht, eine Anamnese gestattet hat.
Schon das umfassendste ablehnende Sondervotum versteht die Entscheidung aber als echte Grundsatzentscheidung, welche den Vertragsstaaten den Brechmitteleinsatz im Vergleich zum Abwarten der natürlichen Körperfunktionen praktisch aus der Hand nimmt.[45] Und so sollte man die Entscheidung auch verstehen, denn ein zum Beweis des Gegenteils konstruierter Fall, in dem zum Beispiel die Verurteilung "eines großen Drogenbosses" zentral daran hängt, dass er von ihm verschluckte Drogenpäckchen nach einer freiwilligen Anamnese schnell erbricht, wird schlicht dem Reich der Phantasie angehören. Versuche, über Fallabwandlungen im Vergleich zum Fall Jalloh die Anwendbarkeit des Art. 3 EMRK im Strafprozess zu verneinen, werden immer unter dem Verdacht stehen, sich um die Konsequenzen des Urteils "drücken zu wollen". Und sie würden verkennen, dass der EGMR stets undogmatisch wirkend alle für das Ent-
scheidungsergebnis sprechenden Umstände heranzieht, um so viele fallbezogene Gründe wie möglich für sein Ergebnis angeben zu können. Der Schluss vom Fehlen einer Teilerwägung aus dem Fall Jalloh hin zu einem anderen Ergebnis ist alles andere als sicher. Der EGMR hat sich in einem sehr typisch[46] erscheinenden Fall des zwangsweisen Brechmitteleinsatzes für die Unzulässigkeit entschieden. Daraus sollte man folgern, dass der zwangsweise Brechmitteleinsatz zur Beweiserlangung von Art. 3 EMRK ausgeschlossen ist, weil atypische Fälle nicht zur Begründung einer rechtssicher einsetzbaren Ermittlungsmaßnahme taugen. Zugunsten der gewiss erforderlichen Rechtsdurchsetzung ist festzuhalten, dass das Angebot[47] zu einer Brechmitteleinnahme zur Abwendung einer anderenfalls mindestens regelmäßig begründeten Untersuchungshaft, mit deren Hilfe die Beweismittel auf natürliche Art und Weise erlangt werden könnten, offenbar nicht von Art. 3 EMRK untersagt ist. Auf ein Vabanquespiel, ob der EGMR bei Fallabwandlungen nicht doch auch einmal die Zulässigkeit feststellen wird, sollte man sich deshalb nicht einlassen. Sollte der Versuch misslingen und Deutschland als Wiederholungstäter nach Art. 3 EMRK aktenkundig werden, wäre dies für Deutschland mehr von Schaden als von Nutzen.
Der EGMR hat noch nicht ausgesprochen, dass Beweismittel, die aus einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung herrühren, stets für eine Verwertung im Sinne des Art. 6 EMRK ausscheiden. Dies lässt sich mit den Richtern Sir Bratza und Zupancic bedauern. Um diese Zurückhaltung richtig einzuordnen, wird man indes auf zweierlei hinweisen müssen: Der EGMR hat zum einen bereits - was sonst bei Beweisverwertungsfragen für ihn ein absolutes Tabu ist - Andeutungen in Richtung eines automatischen Verwertungsverbotes gemacht. Zum anderen übt der EGMR bei Art. 6 EMRK ganz allgemein eine zwar bereits durchbrochene und im Gerichtshof kritisierte[48] Zurückhaltung gegenüber abstrakten Beweisverwertungsverboten,[49] welche er - partiell zu unrecht[50] - zur Abgrenzung von einer Revisionsinstanz ("4th instance theory") für erforderlich erachtet. Vor diesem Hintergrund bestanden für ein obiter anerkanntes Verwertungsverbot noch erhebliche Hindernisse.
Der EGMR hat den Brechmitteleinsatz dem Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit zugeordnet. Dies wurde auch in Deutschland vereinzelt vertreten, jedoch von der entgegenstehenden herrschenden Auffassung letztlich als etwas abseitig behandelt. Dass der EGMR nun anders entschieden hat, wird - auch wegen der eher undeutlich wirkenden "Dreipunktebegründung"[51] - zu zahlreichen Erörterungen über die treffende Interpretation der Selbstbelastungsfreiheit führen; vor allem in Deutschland könnte ein dogmatisches Gewitter über dem EGMR hereinbrechen. Das Urteil lässt in jedem Fall überdeutlich werden, dass die Schutzbereiche der Selbstbelastungsfreiheit nach deutschem und nach europäischem Recht von einander abweichen und strukturell anders konturiert sind. So ist etwa der streng auf die unverzichtbare Mitwirkungshandlung und auf offene Vernehmungen bezogene deutsche Schutz nach dem heutigen Rechtsprechungsstand z.B. weiter, wenn es um die Mitwirkung bei Atemalkoholtests geht, was nach Art. 53 EMRK unproblematisch möglich ist und keiner konventionsbegründeten Revision bedarf.[52] Der europäische Ansatz bezieht aber anders als die deutsche herrschende Auffassung etwa die Hörfalle in den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit ein[53] und er vermag es nach dem EGMR nun auch, die in Deutschland für den Schutz bislang unverzichtbare willentliche Selbstbelastungshandlung, die über eine Duldung hinausgehen muss, unter Umständen entbehrlich sein zu lassen.
Vom Boden des deutschen Ansatzes ist nun darüber zu befinden, inwiefern die Judikatur des EGMR aufzunehmen und zu integrieren ist. Das kann und darf keines-
wegs blindlings geschehen, denn der von Art. 6 EMRK untersagte Zwangsschutz ist gewiss noch nicht stets klar und befriedigend ausgeprägt.[54] Dafür aber, dass die Rechtsprechung im Fall Jalloh auch unter dem Recht der Selbstbelastungsfreiheit und nicht "nur" unter Art. 1 I GG in die deutsche Dogmatik zu integrieren ist,[55] bestehen überzeugende Gründe:
Die Entscheidung des EGMR bedeutet im Kern einen Schutz gegen diejenigen Duldungspflichten, die es dem Staat gestatten, über einen erheblichen Zwangseingriff in den Körper eine pathologische Steuerung von Körperfunktionen und damit eine Instrumentalisierung des Körpers vorzunehmen. Während Duldungspflichten auch für den EGMR bei willensunabhängig existenten Beweisen nicht allein für eine Verletzung und damit für einen untersagten Willenszwang zureichen, wird der hier nötige Eingriff in die körperliche Intimsphäre doch als Willenszwang i.S. der mit dem fairen Verfahren verknüpften Selbstbelastungsfreiheit anerkannt werden müssen. Bei Lichte besehen muss man sich eingestehen, dass auch die Duldungspflichten Selbstbelastungen durch den eigenen Körper bewirken. Sie greifen in die vielleicht nicht gleich aber doch auch zu schützende Willensbetätigungsfreiheit des zur Verteidigung gerade berechtigten Betroffenen ein, was den EGMR nicht erst seit Jalloh veranlasst, den Vertragsstaaten aufzuerlegen, dass sie den Tatbeweis möglichst ohne Überwindungen des Beschuldigtenwillens führen sollen.[56] Es dürfte sich als geboten erweisen, diese Wirkung und den Eingriff in die Willensbetätigungsfreiheit auch weiterhin nicht schon grundsätzlich für eine Verletzung genügen zu lassen, solange die Wirkung nicht zusätzlich vom Beschuldigten aktiv herbeizuführen ist. Man darf und muss aber Fälle der selbstbelastenden Wirkung neben den Fallgruppen der Verpflichtung zur aktiv ausgeführten Mitwirkung an der eigenen Überführung dann in den Schutz der Selbstbelastungsfreiheit einbeziehen, wenn der Körper nicht nur natürlich genutzt wird, sondern seine Reaktionen durch den Staat mit erheblicher Gewalt erzwungen werden, die - wie bei der gewaltsamen Einführung einer Magensonde der Fall - normalerweise auch seine Willensbildung schlechthin mit der Folge einer Selbstbelastungshandlung brechen müsste. Fälle, in denen der Beschuldigte derartige Gewalt über sich ergehen lassen muss, sind den Fällen gleich zu achten, in denen eine Selbstbelastung durch Handlungen oder Geständnisse des Beschuldigten offen erzwungen werden: Diese Durchsetzungsgewalt missachtet notwendig auch die Willensbildungsfreiheit.[57] In beiden Fallgruppen wird der Beschuldigte über die bloße Nutzung von Körperfunktionen hinaus entgegen seinem Willen (einmal über seinen gewaltsam okkupierten Körper, einmal über seinen erklärtermaßen gebeugten Willen) in einer Weise instrumentalisiert, die es ausschließt, ihn noch als wirkliches Prozesssubjekt eines fairen Verfahrens zu betrachten. Das von Art. 6 EMRK gebotene offene Verfahren wird jeweils über den Umgang mit dem Beschuldigten desavouiert.[58]
Methodologisch fällt vor dem Hintergrund der jüngeren Praxis des EGMR auf, dass sich zwei Trends fortsetzen. Zum einen fährt der EGMR darin fort, nordamerikanische Verfassungsrechtsprechung gerade im strafprozessualen Kontext zu rezipieren und für die europäischen Grundrechtsentwicklungen heranzuziehen.[59] Er stellt in seiner Entscheidung die Grundsätze der Entscheidungen des U.S. Supreme Courts Rochin und Schmerber dar, und nimmt auf diese auch Bezug.[60] Diese Entwicklung sollte auch in Deutschland wahrgenommen werden. Zum Beispiel die Judikatur des U.S. Supreme Court zum Konfrontationsrecht könnte ein erstes Beispiel sein, um dieser Praxis des EGMR eine nationale zur Seite zu stellen.[61] Dies wäre schon im Sinne der bereits betonten Subsidiarität der EMRK (des EGMR) geboten.
Zum anderen bezieht der EGMR zur Auslegung des regionalen Völkerrechts der EMRK wieder betont das übrige Völkerrecht heran. Auch diesen nach Art. 31 III lit. c der Wiener Vertragsrechtskonvention gebotenen Aspekt der Auslegungspraxis zur EMRK[62] sollte man zur Kenntnis nehmen, damit sich auch nationale Entscheidungen zu Rechten der EMRK dieses Auslegungsgesichtspunkts annehmen.
* Für wertvolle Durchsichten des Beitrages danke ich herzlich Rechtsanwältin Alexandra Elek, Fachanwältin für Strafrecht, m.e.s, Hamburg und Wiss. Ass. Stephan Schlegel, Leipzig/Zürich.
[1] Vgl. m.w.N. Schlauri, Das Verbot des Selbstbelastungszwangs im Strafverfahren (2003), S. 130 ff. und S. 161 f.: Grenzen zur Folter fließend, Gefahr exzessiver Gewaltausübung nach deutschem Recht! Vgl. aber auch schon in Deutschland letztlich richtungsweisend Neumann, E.A.Wolff-FS (1998), S. 373 ff.
[2] Siehe dazu und zum Folgenden BVerfG StV 2000, 1 m. treffend abl. Anm. Naucke.
[3] Vgl. OLG Bremen NStZ-RR 2000, 270; KG Berlin JR 2001, 162 ff.; m.w.N. Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., § 81a Rn. 22.
[4] Vgl. etwa m.w.N. Rogall NStZ 1998, 66 ff.; Schaefer NJW 1997, 2437 f.
[5] Vgl. dafür Meyer-Goßner (Fn. 3), § 81a Rn. 22; Binder/Seemann NStZ 2002, 234, 237 f.; Beulke, StrafprozessR, 8. Aufl. (2005), Rn. 241; so letztlich aber auch Rogall NStZ 1998, 66, 67.
[6] Vgl. OLG Frankfurt a.M. StV 1996, 651 ff. m. im Ergebnis zust. Anmerkung Weßlau StV 1997, 341 ff.; vgl. daneben vor allem Dallmeyer StV 1997, 606 ff.; ders. KritV 2000, 252 ff.
[7] Vgl. neben der EGMR-Entscheidung für diese stRspr. m.w.N. Grabenwarter, EMRK, 2. Aufl. (2005), § 20 Rn. 21.
[8] Siehe dazu IRE v. GB, Nr. 25, § 167; Grabenwarter (Fn. 7), § 20 Rn. 23; Villiger, Handbuch EMRK, 2. Aufl. (1999), Rn. 179.
[9] Vgl. Soering v. GB, Nr. 161, § 100; Smith u. Grady v. GB, NJW 2000, 2089, § 120; Grabenwarter (Fn. 7), § 20 Rn. 25; Esser, Auf dem Weg zu einem europ. StrafverfahrensR (2002), S. 381 ff.
[10] Vgl. etwa zum Handschelleneinsatz Raninen v. FIN, Rep. 1997-VIII, § 55.
[11] Vgl. zum Vorhergehenden den § 69 im Urteil, der etwa die Zwangsernährung zulässt.
[12] Vgl. hierzu und zum Folgenden die §§ 70-74 des Urteils.
[13] Vgl. den § 75 des Urteils.
[14] Dieses Kriterium ist - wie der Schluss von der nachträglichen Strafe auf die vor dem Eingriff zu prognostizierende Schwere der Tat - problematisch: Konsequenzialistisch nach den tatsächlichen Folgen einer Handlung zu entscheiden, ob sie im Moment der Ausführung zulässig war, kann nicht als Leitlinie für die eigentliche Zulässigkeitsentscheidung ex ante herangezogen werden. Es ist kaum ein Zufall, dass das im Fall vom EGMR angenommene Ausbleiben tatsächlicher Folgen die Verurteilung nicht hinderte. Wildhaber/Caflisch verweisen ebenfalls kaum zufällig nur auf die §§ 67-73.
[15] Dies ist - stellt man auf das Kriterium überhaupt ab - zumindest zweifelhaft: Wenn die Staaten doch nach den Maßstäben des EGMR verpflichtet sind, sich bei Inhaftierungen umfassend um die Gesundheit des Inhaftierten zu sorgen, so hätte man durchaus an staatliche Nachuntersuchungspflichten, bzw. an Angebote hierzu und an entsprechende staatliche Dokumentationspflichten denken können. Aus deren Verletzung wäre ein auch sonst bei Art. 3 EMRK anerkannter Schluss auf nicht auszuschließende Verletzungen immerhin diskutabel.
[16] Siehe dazu im Urteil die §§ 84 ff.
[17] Vgl. neben der Entscheidung zum sinnvollen Verständnis der Gesamtbetrachtungsrechtsprechung knapp Gaede JR 2006 Heft 7 und eingehend ders., Fairness als Teilhabe - Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK (Diss. Univ. Zürich WS 2005, zur Publikation in den Strafrechtlichen Abhandlungen N.F. bei Duncker & Humblot in Vorbereitung).
[18] Vgl. etwa Allan v. GB, Rep. 2002-IX, §§ 42 ff. = StV 2003, 257 ff.
[19] Vgl. dazu § 99 des Urteils und zur Absolutheit des Art. 3 EMRK m.w.N. Grabenwarter (Fn. 7), § 20 Rn. 36.
[20] Siehe dazu und zum Folgenden im Urteil die §§ 94 ff. Näher auch Schlauri (Fn. 1), S. 82 ff. und demnächst Gaede (Fn. 17) Fairness als Teilhabe, Kap. 3 § 3 IV 7, Kap. 4 § 1 III 2 d aa.
[21] Vgl. grundlegend Saunders v. GB, Rep. 1996-IV, §§ 67 ff., 69; R. Müller EuGRZ 2001, 546, 553.
[22] Als Beispiel für diese Verstärkung vgl. Steur v. NL, Rep. 2003-XI § 37 m.w.N. = JR 2004, 339 ff. m. Anm. Gaede. Zur im dt. Verfassungsrecht bekannten Verstärkungswirkung vgl. BVerfG StV 2000, 416 ff.: Verletzung von Art. 5 GG i.V.m. dem Recht auf ein faires Verfahren; mit Kritik auch Spielmann JuS 2004, 371 ff.
[23] Vgl. die Angaben in § 105 der Entscheidung.
[24] Diese Erwägung ist für sich genommen nicht frei von Zweifeln: Hätten die Gerichte die vom EGMR zur EMRK herangezogenen Bedenken gegen den Brechmitteleinsatz beachtet, hätten sie in konventionskonformer Auslegung über Art. 3 und 6 EMRK auch nach dem einfachen deutschen Recht, jedenfalls aber nach den Parallelnormen des Grundgesetzes den Rügen zum Erfolg verhelfen können, indem sie § 81a StPO restriktiv ausgelegt oder jedenfalls die Verwertung verfassungsunmittelbar ausgeschlossen hätten.
[25] Zu diesem Verständnis von Gesamtbetrachtung und Gesamtrecht näher Gaede, Fairness als Teilhabe (Fn. 17), Kap. 4 § 2.
[26] Vgl. etwa Deweer v. BEL, Nr. 35, § 56: "constituent element"; Öcalan v. TÜ, 12.3.2003, §§ 111 ff., 139 ff.; bestätigend GC, 12.5.2005, §§ 106 ff.; Gaede (Fn. 17), Fairness als Teilhabe, Kap. 4 § 2; ders. JR 2006 Heft 7.
[27] Siehe abermals Saunders v. GB, Rep. 1996-IV, §§ 67 ff., 69.
[28] Vgl. ZE Tirado Ortiz u.a. v. SPA, Rep. 1999-V, § 1; Schlauri (Fn. 1), S. 170 f.
[29] Dazu, dass eine Verletzung auch ohne spätere Verwertung im Prozess möglich ist, vgl. zur Vermeidung von verkürzten Schlüssen in anderen Fällen Weh v. AUT, §§ 42 ff., JR 2005, 423 ff. m. Anm. Gaede.
[30] Vgl. Rochin v. California 342 U.S. 165 (1952), dazu auch Schlauri (Fn. 1), S. 133 f., die zu Recht auf nötige Zusatzreflektionen zum U.S.-Recht hinweist.
[31] Vgl. Uhl v. D, StV 2005, 475 ff. und Anm. Pauly m.w.N.
[32] Siehe ZE Jalloh v. D, 26.10.2004, The LAW, A; im Überblick zur Rechtsprechung des EGMR auch Grabenwarter (Fn. 7), § 13 Rn. 20 m.w.N.: keine übertrieben formalistische Anwendung durch den EGMR.
[33]Vgl. ZE Jalloh v. D, 26.10.2004, The LAW, A.
[34] Vgl. BVerfG StV 2000, 1 = Beschl. v. 5.09.1999, 2 BvR 2360/95 abrufbar über hrr-strafrecht.de, begleitet von einer Pressemitteilung (vgl. http://www.bverfg.de/
pressemitteilungen/bvg9272.html)!
[35] Vgl. Naucke StV 2000, 1 ff. und Binder/Seemann NStZ 2002, 234.
[36] Siehe den Hinweis bei Binder/Seemann NStZ 2002, 234 auf den "Widerruf" durch eine nach dem ersten Todesfall herausgegebene Pressemitteilung vom 13.12.2001, die somit die - kaum zufällig! - lancierte erste Pressemitteilung (vgl. http://www.bverfg.de/pressemitteilungen/bvg116-01.html) vom 29.9.1999 zur Kammerentscheidung gleichsam zurücknahm, zu ihr und ihrer absehbaren Aufnahme in der Presse Naucke StV 2000, 1, 2 f.
[37] Vgl. beispielhaft die Würdigung von Meyer-Goßner (Fn. 3), § 81 Rn. 22; vgl. auch Naucke StV 2000, 1, 2 f.
[38] Siehe Dallmeyer KritV 2000, 252, 259 im Anschluss an Amnesty International, auch S. 260 ff. zu nemo tenetur.
[39] Vgl. als Beispiel etwa die aktuellen Kommentierungen von Gollwitzer und Meyer-Goßner, die den Brechmitteleinsatz weder bei Art. 3, noch bei Art. 6 "MRK" auch nur erörtern.
[40] Vgl. so wörtlich und für sich betrachtet von deutschen Standpunkt gut verständlich Rogall NStZ 1998, 66, der die Sichtweise auch als "in jeder Hinsicht verfehlt" bezeichnet.
[41] Siehe auch Esser StV 2005, 348, 353; m.w.N. Gaede HRRS 2004, 387 f. Der EGMR entschied 13 Jahre nach dem Brechmitteleinsatz!
[42] Vgl. etwa nun m.w.N. leider auch Meyer-Goßner (Fn. 3), Art. 3 Rn. 1 im Anschluss an Erb.
[43] Siehe als besonders abschreckendes Beispiel die Beiträge von Brugger, Der Staat 35 (1996), 67, 77; ders. JZ 2000, 165 ff.; dessen aktuellstes einbezogenes EGMR-Urteil aus den siebziger Jahren stammt und der mit "Analogien" arbeitet, bei denen er mal eben auch die Rechtsfolge der analog herangezogenen Norm kurzerhand mit abändert, um sein Ergebnis für die EMRK konstruieren zu können.
[44] Vgl. zur gebotenen Behandlung nach Art. 3 EMRK m.w.N. Grabenwarter (Fn. 7), § 20 Rn. 36; Gaede, in: Camprubi (Hrsg.), Angst und Streben nach Sicherheit u.s.w. (2004), S. 155 ff.
[45] Vgl. das SV Ress, Pellonpää, Baka und Sikuta im Teil zu Art. 8 EMRK. Siehe zum dt. Recht z.B. auch schon Weßlau StV 1997, 341, 343, die fragt, wann die Maßnahme überhaupt jemals praktisch verhältnismäßig sein könnte.
[46] Vgl. etwa zur mangelnden Anamnesemöglichkeit Binder/Seemann NStZ 2002, 234, 235.
[47] Darüber, ob auch die Androhung der - von Art. 3 EMRK ausgeschlossenen - nötigenfalls zwangsweisen Verabreichung von Brechmitteln gegen Art. 3 EMRK verstößt, hatte der EGMR nicht zu entscheiden. Gleichwohl wird man hier jedenfalls für das deutsche Recht von der Unverwertbarkeit derart erlangter Beweise auszugehen haben. Ihre Verwertung würde (vgl. § 136a III 2 StPO) gegen das von § 136a StPO für Vernehmungen ausgeprägte, aber auch in den anderen Anwendungsbereichen der Selbstbelastungsfreiheit anzuerkennende Täuschungsverbot verstoßen, vgl. auch Zaczyk StV 2002, 125, 127; Hackethal JR 2001, 164, 166; Dallmeyer StV 1997, 606 f. Dazu, dass die Selbstbelastungsfreiheit nach Art. 6 EMRK auch einen Täuschungs- bzw. Druckschutz umfassen kann, vgl. Allan v. GB, §§ 49 ff. StV 2003, 257 ff. ; SK-Paeffgen, 35. Lfg., Art. 6 Rn. 85; demnächst auch Gaede (Fn. 17), Kap. 4, § 1 III 2 d aa, Kap. 8 § 1 II 2 a.
[48] Siehe etwa die zahlreicheren abl. SV im Fall Schenk v. SWI, Nr. 140; Pisano v. IT abl. SV Rozakis/Bonello, EHRR 34 (2002) 27; SV Loucaides zu Khan v. GB, Rep. 2000-V; krit. etwa Jung, GA 2003, 191, 197 f.; Kühne/Nash, JZ 2000, 996, 997 f.; Gaede StV 2004, 44, 48 f.
[49] Vgl. statt vieler Khan v. GB, Rep. 2000-V, §§ 35 ff.; Allan v. GB, Rep. 2002-IX, § 42.
[50] Demnächst eingehend zu diesem Thema Gaede (Fn. 17), Fairness als Teilhabe, Kap. 9 § 2.
[51] Hier erstaunt vor allem der erneute Rekurs auf Art. 3 EMRK. Er dürfte aber richtig nicht als dritter selbständiger Punkt, sondern als Beschreibung des unter dem zweiten Punkt hervorgehobenen besonderen Zwangsausmaßes zu verstehen sein, denn auch der EGMR will die zweite Verletzungsbegründung gerade nicht an eine Verletzung des Art. 3 EMRK als solchem gebunden sehen.
[52] Siehe zu Auslegung der Selbstbelastungsfreiheit nach dem deutschem Mehrheitsverständnis paradigmatisch Rogall NStZ 1998, 66 f.; aber auch Weßlau StV 1997, 341, 342 f.; zum Blasen in das Prüfröhrchen nur Beulke (Fn. 5), Rn. 241. Zur heutigen Praxis des EGMR neben der Entscheidung Jalloh problematisch ZE Tirado Ortiz u.a. v. SPA, Rep. 1999-V, § 1; auch P.G. u. J.H. v. GB, Rep. 2001-IX, § 80: heimliche, nicht selbst belastende Stimmaufnahme kein Eingriff.
[53]Vgl. Allan v. GB, Rep. 2002-IX, §§ 49 ff. = StV 2003, 257 ff. m. Anm. Gaede u. Bespr. Esser JR 2004, 98 ff.
[54] Vgl. etwa zur Abgrenzung schon lange krit. das englische Schrifttum, siehe Ovey/White, ECoHR (2002), S. 175 f.; Dennis, The Law of Evidence (2002), S. 136 f.; Emmerson/Ashworth, Human Rights and Criminal Justice (2001), 15-75 f.; Ashworth, Crim LR 2001, 482, 484 f.; Schlauri (Fn. 1), S. 203 ff. Vgl. auch zu den zulässigen belastenden Schlüssen aus dem Schweigen und zu den zum Beschuldigtenbegriff bestehenden Unsicherheiten die Entscheidung Weh v. AUT, §§ 42 ff., JR 2004, 423 ff. m. Anm. Gaede.
[55] Eine solche Haltung deutet sich möglicherweise z.B. bei Beulke (Fn. 5), Rn. 241 und - letztlich bereits wieder verworfen - bei Rogall NStZ 1998, 66, 68 an.
[56] Vgl. z.B. schon beim Täuschungsschutz Allan v. GB, § 44, StV 2003, 257 ff. m. Anm. Gaede. Vgl. neben der Rechtsprechung des EGMR insoweit auch grundlegend Weßlau ZStW 110 (1998), 1, 27 ff.
[57] Vgl. auch schon m.w.N. Neumann E.A.Wolff-FS (1998), S. 373, 380 f., 387 ff. Es erstaunt insofern nicht, dass die Brechmittel oft freiwillig genommen wurden, selbst wenn oftmals unzureichende Anamnesen vorliegen dürften und die Angst der Betroffenen vor der Einnahme und ihren Folgen groß sein dürfte.
[58] Zu diesem Aspekt der Begründung der Selbstbelastungsfreiheit als einem Desavouierungsverbot demnächst auch Gaede (Fn. 17), Fairness als Teilhabe, Kap. 4 § 1 III 2 d aa. In diese Richtung auch wieder Richter Zupancic, der bereits 1996 im Nottingham Law Journal 5 (1996), 32, 47 f. dahingehendes ausführte. Vgl. auch Dallmeyer KritV 2000, 252, 264 f., der nemo-tenetur im Ergebnis auch im Recht auf ein faires Verfahren verortet.
[59] Vgl. zuvor schon Allan v. GB, Rep. 2002-IX, §§ 29 ff., 44, 49 ff.; Kyprianou v. ZYP, 27.1.2004, §§ 34 ff., HRRS 2004 Nr. 237.
[60] Siehe etwa die §§ 49 ff., 76, 105 der Entscheidung. Zur Bedeutung von Rochin auch schon Schlauri (Fn. 1), S. 136 f.
[61]Vgl. Crawford v. Washington HRRS 2004 Nr. 690 m. Bespr. Walther HRRS 2004, 310 ff.; zu Art. 6 III lit. d EMRK insoweit Gaede JR 2006 Heft 7.
[62] Beispielhaft auch Öcalan v. TÜ, 12.3.2003, §§ 190 ff.; Bosphorus usw. v. IRE[GC], 30.6.2005, §§ 150 ff.; T. v. GB[GC], 16.12.1999, §§ 74 ff., 85; Grabenwarter (Fn. 7), § 5 Rn. 8: systematische Auslegung.